Das Wesen von Raum und Zeit
Noch immer ist die Vereinigung von Relativitätstheorie und Quantenmechanik nicht abzusehen. Doch erst eine Quantentheorie der Gravitation könnte die große Frage nach Anfang und Ende des Universums beantworten oder auch den Zusammenhang zwischen der Entropie Schwarzer Löcher und der Richtung des Zeitpfeils enthüllen.
Im Jahre 1994 hielten die Autoren am Isaac-Newton-Institut für mathematische Wissenschaften der Universität Cambridge ( England ) mehrere Vorträge über die allgemeine Relativitätstheorie. Die hier zusammengestellten und kommentierten Auszüge ( die gesamte Vortragsreihe ist kürzlich bei Princeton University Press unter dem Titel "The Nature of Space and Time" erschienen ; eine deutsche Übersetzung ist bei Rowohlt geplant ) verdeutlichen die unterschiedlichen Standpunkte der beiden Wissenschaftler. Trotz gemeinsamer Wurzeln – Penrose gehörte dem Promotionsausschuß an, vor dem Hawking in Cambridge seine Doktorprüfung ablegte – gehen ihre Ansichten über die Quantenmechanik und deren Bedeutung für die Evolution des Universums auseinander. Insbesondere streiten sie darüber, was mit der in einem Schwarzen Loch gespeicherten Information geschieht und warum sich der Anfangszustand des Universums von seinem Endzustand unterscheidet.
Hawking entdeckte im Jahre 1973, daß ein Schwarzes Loch aufgrund von Quanteneffekten Teilchen aussendet. Dabei verdampft es gleichsam, so daß möglicherweise am Ende nichts mehr von seiner ursprünglichen Masse übrig bleibt. Doch während Schwarze Löcher entstehen, gehen mit der Materie und Energie, die sie verschlucken, auch viele Informationen über Art, Eigenschaften und Konfigurationen der einfallenden Teilchen für das übrige Universum verloren. Obwohl der Quantentheorie zufolge solche Informationen erhalten bleiben müssen, ist heftig umstritten, was damit letztlich geschieht. Sowohl Hawking als auch Penrose nehmen an, daß ein Schwarzes Loch, wenn es Teilchen abstrahlt, die in seinem Innern gespeicherte Information verliere ; doch während Hawking den Verlust für unwiederbringlich hält, behauptet Penrose, dies werde durch spontane Quantenzustandsmessungen ausgeglichen, die dem System neuerlich Information zuführen.
Beide Forscher glauben, daß zur vollständigen Beschreibung der Natur erst eine Quantentheorie der Gravitation entwickelt werden müsse ; über deren Details sind sie aber uneins. Penrose meint, diese Quantengravitation würde, obwohl die Elementarkräfte der Teilchenphysik unter Zeitumkehr unverändert bleiben, nicht zeitlich symmetrisch sein. Die Asymmetrie soll dann erklären, warum das Universum bei seiner Entstehung äußerst homogen war – wofür die Mikrowellen-Hintergrundstrahlung als Relikt des Urknalls spricht. Hingegen stehe ihm ein extrem unordentliches Ende bevor.
Penrose sucht die zeitliche Asymmetrie mit seiner Hypothese der Weylschen Krümmung zu erklären. Nach Albert Einstein ( 1879 bis 1955, Nobelpreis 1921 ) wird die Raumzeit in der Umgebung von Massen mehr oder weniger stark gekrümmt ; doch zusätzlich kann sie noch eine Eigenverzerrung aufweisen, deren Ausmaß eben durch die nach dem Mathematiker Hermann Weyl ( 1885 bis 1955 ) benannte Krümmung ausgedrückt wird. Zum Beispiel deformieren Gravitationswellen und Schwarze Löcher die Raumzeit auch dort, wo weit und breit keine Materie zu finden ist. Während die Weylsche Krümmung im jungen Universum wahrscheinlich null war, wird sie Penrose zufolge am Ende wegen der großen Anzahl Schwarzer Löcher sehr hoch sein – und dies unterscheide die Endphase des Universums von seinem Anfang.
Auch Hawking glaubt, daß das große Zermalmen ( big crunch ) kein Spiegelbild des Urknalls sein werde ; er wendet sich aber gegen eine Zeit-Asymmetrie in den Naturgesetzen selbst. Die Ursache für den Unterschied von Anfang und Ende liegt seiner Ansicht nach in der Art und Weise, wie die Evolution des Universums gleichsam programmiert ist : Er postuliert eine Art Demokratie, wonach kein Punkt im All etwas Besonderes sein darf – und darum könne das Universum keine Grenze haben. Das Unbegrenztheitspostulat erklärt nach Hawking, warum die kosmische Hintergrundstrahlung so gleichförmig ist.
Auch die Quantenmechanik interpretieren die beiden Physiker unterschiedlich. Für Hawking soll eine Theorie nicht mehr liefern als Voraussagen, die mit Meßdaten übereinstimmen. Penrose findet das für eine Erklärung der Wirklichkeit zuwenig. Er weist darauf hin, daß die Quantentheorie mit überlagerten Zuständen ( Superpositionen von Wellenfunktionen ) operiert ; das könne manchmal absurde Konsequenzen haben. Damit nehmen die beiden Forscher in gewisser Weise die historische Debatte zwischen Einstein und Niels Bohr ( 1885 bis 1962, Nobelpreis 1922 ) über die Vollständigkeit der Quantentheorie wieder auf.
Die Redaktion
Stephen Hawking über Schwarze Löcher:
Die Quantentheorie der Schwarzen Löcher... scheint in der Physik einen neuen Grad von Unvorhersagbarkeit jenseits der bislang bekannten quantenmechanischen Unbestimmtheit zu erzeugen. Der Grund ist, daß Schwarze Löcher offenbar eine innere Entropie haben und Information aus unserem Gebiet des Universums abziehen. Diese Behauptungen sind freilich umstritten: Viele Forscher auf dem Gebiet der Quantengravitation – insbesondere fast alle, die aus der Teilchenphysik kommen – lehnen instinktiv die Idee ab, Information über den Quantenzustand eines Systems könne verlorengehen. Bis jetzt vermochten sie allerdings noch nicht zu zeigen, wie Information aus einem Schwarzen Loch entkommen kann. Eines Tages werden sie wohl doch meiner Meinung folgen und akzeptieren müssen, daß die Information verschwindet – so wie sie zugeben mußten, daß Schwarze Löcher all ihren Vorurteilen zum Trotz Strahlung emittieren...
Weil die Gravitation stets anziehend wirkt, ballt sie die Materie im Universum zu Objekten wie Sternen und Galaxien zusammen. Der weiteren Kontraktion widerstehen erstere einige Zeit lang durch thermischen Druck, letztere durch Rotation und interne Bewegungen. Doch letztlich erschöpfen sich Wärme oder Drehimpuls, und das Objekt beginnt zu schrumpfen. Ist die Masse kleiner als etwa eineinhalb Sonnenmassen, vermag der Entartungsdruck der Elektronen oder Neutronen die Kontraktion aufzuhalten, und das Objekt wird zu einem Weißen Zwerg beziehungsweise zu einem Neutronenstern. Ist die Masse jedoch größer als dieser Grenzwert, kann nichts mehr die weitere Kontraktion verhindern. Ist das Objekt auf eine bestimmte kritische Größe geschrumpft, wird das Feld an seiner Oberfläche so stark, daß die Lichtkegel nach innen gekrümmt werden... Man kann erkennen, daß sogar die ausgesandten Lichtstrahlen zueinander gekrümmt sind und somit zusammen- statt auseinanderlaufen. Das heißt, es gibt eine geschlossene gefangene Fläche (closed trapped surface)...
Demnach muß ein Gebiet der Raumzeit existieren, aus dem nichts ins Unendliche zu entkommen vermag – ein sogenanntes Schwarzes Loch. Seine Grenze nennt man den Ereignishorizont; er ist eine Null-Fläche, die von denjenigen Lichtstrahlen gebildet wird, die gerade nicht mehr ins Unendliche entweichen können...
Kollabiert ein Himmelskörper zu einem Schwarzen Loch, geht eine große Informationsmenge verloren. Der kollabierende Körper wird durch sehr viele Parameter – unter anderem für die Arten von Materie und die Multipolmomente der Massenverteilung – beschrieben. Doch das entstehende Schwarze Loch ist völlig unabhängig von der Art der Materie, aus der es hervorgeht, und verliert sehr schnell alle Multipolmomente außer den ersten beiden: dem Monopolmoment für die Masse und dem Dipolmoment für den Drehimpuls.
In der klassischen Theorie spielte dieser Informationsverlust keine große Rolle. Man konnte sagen, die gesamte Information über den kollabierenden Körper sei noch immer im Inneren des Schwarzen Lochs vorhanden. Zwar vermöchte ein äußerer Beobachter die Beschaffenheit des kollabierenden Körpers nur sehr schwer festzustellen, aber in der klassischen Theorie wäre dies nicht prinzipiell ausgeschlossen. Der Beobachter würde das kollabierende Objekt nämlich nie gänzlich aus den Augen verlieren. Es würde sich mit zunehmender Annäherung an den Ereignishorizont scheinbar immer mehr verlangsamen und sehr undeutlich werden; aber er könnte weiterhin sehen, woraus es besteht und wie seine Masse verteilt ist.
Doch die Quantentheorie verändert die Situation grundlegend. Erstens sendet der kollabierende Körper vor dem Unterschreiten des Ereignishorizonts nur eine begrenzte Anzahl von Photonen aus – weitaus zu wenige, um die gesamte Information über das Objekt nach außen zu tragen. Das bedeutet, daß in der Quantentheorie ein äußerer Beobachter den Zustand des kollabierten Körpers prinzipiell nicht zu messen vermag. Man könnte meinen, das mache nicht viel aus, denn die Information stecke auch dann noch im Inneren des Schwarzen Lochs, wenn man von außen nicht an sie herankommt. Aber hier kommt der zweite quantentheoretische Effekt bei Schwarzen Löchern ins Spiel...
Aufgrund der Theorie strahlen Schwarze Löcher und verlieren Masse. Anscheinend verschwinden sie letztlich völlig – und mit ihnen die Information in ihrem Inneren. Ich werde begründen, warum diese Information wirklich verloren ist und nicht in irgendeiner Form wiederkehrt. Wie ich zeigen werde, erzeugt dieser Informationsverlust einen neuen Grad physikalischer Unbestimmtheit, der über die aus der Quantenmechanik vertraute hinausgeht. Leider wird dieser zusätzliche Grad – anders als das Heisenbergsche Unbestimmtheitsprinzip – nur sehr schwer experimentell an Schwarzen Löchern nachzuweisen sein.
Roger Penrose über Quantentheorie und Raumzeit:
Die großen physikalischen Theorien des 20. Jahrhunderts – Quantentheorie, spezielle und allgemeine Relativitätstheorie sowie Quantenfeldtheorie – sind nicht unabhängig voneinander: Die allgemeine Relativitätstheorie baut auf der speziellen auf, und in die Quantenfeldtheorie gehen spezielle Relativitätstheorie und Quantentheorie ein.
Mit einer Genauigkeit von 10-11 gilt die Quantenfeldtheorie als die exakteste physikalische Theorie überhaupt. Ich möchte jedoch darauf hinweisen, daß die allgemeine Relativitätstheorie kürzlich bis auf 10-14 genau bestätigt worden ist (wobei die Genauigkeit anscheinend nur durch die Exaktheit irdischer Uhren begrenzt war). Ich meine Messungen an dem Binärpulsar PSR 1913 + 16, einem Doppelsternsystem aus zwei Neutronensternen, deren einer ein Pulsar ist. Der allgemeinen Relativitätstheorie zufolge müssen die beiden Sterne einander allmählich immer enger umkreisen (wobei die Umlaufperiode sich verkürzt), weil durch die Emission von Gravitationswellen Energie verlorengeht. Das hat man tatsächlich beobachtet, und der gesamte Bewegungsablauf... stimmt über insgesamt 20 Jahre hinweg mit der allgemeinen Relativitätstheorie (die als Spezialfall die Newtonsche Theorie einschließt) mit der erwähnten bemerkenswerten Genauigkeit überein. Die Entdecker dieses Systems, Joseph H. Taylor und Russell A. Hulse, sind dafür im Jahre 1993 mit dem Nobelpreis geehrt worden [siehe Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1993, Seite 21]. Die Quantentheoretiker haben immer verlangt, angesichts der Genauigkeit ihrer Theorie müsse die allgemeine Relativitätstheorie an sie angepaßt werden; doch mir scheint, daß nun eher die Quantenfeldtheorie einiges aufzuholen hat.
Obzwar diese vier Theorien sehr erfolgreich sind, hat jede ihre Probleme... Aus der allgemeinen Relativitätstheorie folgt die Existenz von Raumzeit-Singularitäten. In der Quantentheorie stellt sich das sogenannte Meßproblem, auf das ich später eingehen werde. Möglicherweise liegt die Lösung der verschiedenen Probleme darin, daß jede Theorie für sich genommen unvollständig ist. Zum Beispiel erwarten viele, daß die Quantenfeldtheorie die Singularitäten der allgemeinen Relativitätstheorie irgendwie verschmieren werde...
Ich möchte nun auf den Informationsverlust in Schwarzen Löchern zu sprechen kommen, da er nach meiner Überzeugung für das letztgenannte Thema relevant ist. Ich stimme fast allem zu, was Stephen dazu gesagt hat. Doch während er den Informationsverlust in Schwarzen Löchern für eine zusätzliche physikalische Unbestimmtheit hält, die zu der quantentheoretischen noch hinzukommt, betrachte ich beide als gewissermaßen komplementär... Möglicherweise entkommt ein wenig Information in dem Moment, in dem das Schwarze Loch verdampft,... doch dieser winzige Informationsgewinn ist viel geringer als der Informationsverlust beim Kollaps (jedenfalls erscheint mir dies als die einzig plausible Vorstellung vom endgültigen Verschwinden des Lochs).
Wenn wir im Gedankenexperiment das System in einen riesigen Kasten einschließen, können wir die Phasenraum-Entwicklung der Materie im Kasten betrachten. In dem Gebiet des Phasenraums, das Situationen entspricht, in denen ein Schwarzes Loch vorhanden ist, konvergieren die Trajektorien der physikalischen Entwicklung, und die längs dieser Trajektorien wandernden Volumina schrumpfen. Der Grund dafür ist der Informationsverlust in der Singularität des Schwarzen Lochs. Dieses Schrumpfen steht in direktem Widerspruch zum Liouvilleschen Theorem der klassischen Mechanik, demzufolge Volumina im Phasenraum konstant bleiben [Arbeiten des französischen Mathematikers Joseph Liouville (1809 bis 1882) trugen viel zur Physik des 20. Jahrhunderts bei]... Somit verletzt eine Raumzeit mit Schwarzen Löchern diesen Erhaltungssatz. Doch in meinem Modell wird der Verlust an Phasenraum-Volumen durch einen spontanen Quantenmeßprozeß ausgeglichen, bei dem Information gewonnen wird und gewisse Phasenraum-Volumina zunehmen. Darum betrachte ich die durch den Informationsverlust in Schwarzen Löchern verursachte Unbestimmtheit als komplementär zur quantentheoretischen: Beide sind Seiten derselben Münze...
Betrachten wir nun das Gedankenexperiment mit Schrödingers Katze. Es beschreibt das riskante Schicksal einer Katze in einem Kasten, in dem – beispielsweise – ein Photon emittiert wird und auf einen halbdurchlässigen Spiegel trifft. Der durchgelassene Teil der Photon-Wellenfunktion trifft auf einen Detektor, der bei Eintreffen des Photons automatisch einen für die Katze tödlichen Schuß auslöst; erfaßt der Detektor kein Photon, bleibt die Katze am Leben. (Wie ich weiß, ist Stephen gegen das Mißhandeln von Katzen, selbst in einem Gedankenexperiment!) Die Wellenfunktion des Systems ist eine Superposition dieser beiden Möglichkeiten... Doch warum können wir niemals makroskopische Überlagerungen derartiger Zustände wahrnehmen, sondern nur die makroskopischen alternativen Tatbestände "Die Katze ist tot" und "Die Katze lebt"?...
Wie ich meine, geht etwas schief mit den Superpositionen der alternativen Raumzeit-Geometrien, die auftreten würden, sobald die allgemeine Relativitätstheorie eine Rolle zu spielen beginnt. Vielleicht ist die Überlagerung zweier unterschiedlicher Geometrien instabil und zerfällt in eine der beiden. Zum Beispiel könnten die Geometrien die Raumzeit einer lebenden Katze oder die einer toten sein. Diesen Zerfall in die eine oder die andere Raumzeit-Geometrie nenne ich objektive Reduktion... Was hat dies nun mit der Planckschen Länge von 10-33 Zentimetern zu tun? Das natürliche Kriterium dafür, wann zwei Geometrien sich signifikant unterscheiden, hängt vom Planck-Maßstab ab; er wiederum definiert den Zeitmaßstab für den Zer-fall in eine der beiden alternativen Geometrien.
Hawking über Quantenkosmologie:
Ich möchte diesen Vortrag mit einem Thema abschließen, über das Roger und ich sehr unterschiedlicher Ansicht sind – mit dem Zeitpfeil. In unserem Teil des Universums gibt es einen klaren Unterschied zwischen zeitlicher Vorwärts- und Rückwärtsrichtung. Man braucht dafür nur einen verkehrt laufenden Film zu betrachten: Tassen, die normalerweise vom Tisch fallen und zerbrechen, fügen sich wie durch ein Wunder auf dem Boden zusammen und springen auf den Tisch. Wenn das nur in Wirklichkeit so wäre!
Die lokalen Gesetze, denen physikalische Felder gehorchen, sind zeitsymmetrisch oder genauer gesagt, CPT-invariant (dabei steht C für Ladung, P für Parität und T für Zeit). Darum muß der beobachtete Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft von den Randbedingungen des Universums herrühren. Nehmen wir an, daß das Universum räumlich geschlossen ist, sich bis zu einer Maximalgröße ausdehnt und wieder in sich zusammenfällt. Wie Roger betont hat, sieht das Universum an den beiden Endpunkten seiner Geschichte höchst unterschiedlich aus. Bei dem, was wir den Anfang des Universums nennen, scheint alles sehr glatt und regelmäßig gewesen zu sein. Doch beim allgemeinen Kollaps wird es vermutlich sehr ungeordnet und unregelmäßig zugehen. Weil es so viel mehr ungeordnete als geordnete Konfigurationen gibt, müssen die Anfangsbedingungen unglaublich präzise ausgewählt worden sein.
Anscheinend müssen deshalb an den beiden Enden der Zeit unterschiedliche Randbedingungen gelten. Roger vertritt die These, daß der Weylsche Tensor nur an einem der beiden Zeitenden verschwindet. Der Weylsche Tensor ist der Teil der Raumzeit-Krümmung, der nicht durch die Materie über die Einsteinschen Gleichungen lokal bestimmt wird. In der glatten, geordneten Anfangsphase soll er klein gewesen sein, im kollabierenden Universum jedoch groß werden. Demnach würde dieser Ansatz die beiden Enden der Zeit unterscheiden und so vielleicht den Zeitpfeil erklären.
Ich halte Rogers Hypothese nicht für der Weisheit letzten Schluß. Erstens ist der Ansatz nicht CPT-invariant. Roger betrachtet dies als Vorteil; doch wie ich meine, sollte man an Symmetrien festhalten, solange nichts zwingend dagegen spricht. Zweitens: Wäre der Weylsche Tensor im frühen Universum exakt gleich null gewesen, so wäre das All selbst anfangs völlig homogen und isotrop gewesen, und daran hätte sich für alle Zeiten nichts geändert. Rogers Weyl-Hypothese vermag weder die Fluktuationen im Strahlungshintergrund zu erklären noch die Störungen, aus denen Galaxien und Körper wie wir selbst hervorgegangen sind.
Trotz alledem hat Roger nach meiner Meinung auf einen wichtigen Unterschied zwischen den beiden Enden der Zeit hingewiesen. Doch die Tatsache, daß der Weylsche Tensor an einem Ende klein war, sollte nicht als Ad-hoc-Randbedingung postuliert, sondern von einem fundamentaleren Prinzip abgeleitet werden, dem Unbegrenztheitspostulat (no-boundary-proposal)...
Wieso können die beiden Enden der Zeit sich unterscheiden? Warum sollten die Störungen am einen Ende klein sein, aber nicht am anderen? Der Grund ist, daß es zwei mögliche komplexe Lösungen der Feldgleichungen gibt... Offensichtlich entspricht eine Lösung dem einen Ende der Zeit und die zweite dem anderen... An einem Ende war das Universum sehr glatt und der Weylsche Tensor sehr klein. Er kann jedoch nicht exakt gleich null gewesen sein, denn dies wäre eine Verletzung des Unbestimmtheitsprinzips. Vielmehr gab es kleine Fluktuationen, aus denen sich später Galaxien und Körper wie wir entwickelt haben. Hingegen müßte das Universum am anderen Ende der Zeit sehr unregelmäßig und chaotisch sein – mit einem entsprechend großen Weylschen Tensor. Das würde den tatsächlich beobachteten Zeitpfeil erklären und somit, warum Tassen vom Tisch fallen und zerbrechen, statt sich zusammenzufügen und hinaufzuspringen.
Penrose über Quantenkosmologie:
Wenn ich Stephen recht verstehe, scheinen unsere Standpunkte zu dieser Frage [der Weylschen Krümmungshypothese] sich nicht allzusehr zu unterscheiden. Für eine anfängliche Singularität ist die Weylsche Krümmung annähernd null... Stephen hat betont, es müsse im Anfangszustand kleine Quantenfluktuationen geben, und darum gehöre die Hypothese, wonach die Weylsche Krümmung bei der anfänglichen Singularität gleich null ist, zur klassischen Physik. Gewiß gibt es für die präzise Formulierung der Hypothese noch einigen Spielraum. Kleine Störungen lassen sich mit meiner These vereinbaren, insbesondere im Gültigkeitsbereich der Quantentheorie. Wir brauchen nur etwas, das die Weylsche Krümmung fast auf null einschränkt...
Vielleicht bietet das Unbegrenztheitspostulat von [James P.] Hartle und Hawking eine gute Erklärung für die Struktur des Anfangszustands. Doch meiner Meinung nach brauchen wir zur Erklärung des Endzustands etwas ganz anderes. Insbesondere müßte eine Theorie, welche die Struktur von Singularitäten erklärt, unbedingt [die CPT-Symmetrie und andere Symmetrien] verletzen, damit so etwas wie die Weylsche Krümmungshypothese überhaupt ins Spiel kommen kann. Dieser Bruch der Zeitsymmetrie könnte sehr subtil sein; er müßte implizit in den Gesetzen einer Theorie enthalten sein, die über die Quantenmechanik hinausgeht.
Hawking über Physik und Wirklichkeit:
Diese Vorträge haben sehr deutlich den Unterschied zwischen Roger und mir gezeigt. Er ist Platonist, und ich bin Positivist. Er macht sich Sorgen darüber, daß Schrödingers Katze sich in einem Quantenzustand befindet, in dem sie halb lebendig und halb tot ist. Das kann in seinen Augen nicht der Wirklichkeit entsprechen. Doch mir macht das nichts aus. Ich verlange nicht, daß eine Theorie mit der Wirklichkeit übereinstimmt, denn ich weiß gar nicht, was das ist. Wirklichkeit ist keine Eigenschaft, die man mit Lackmuspapier testen kann. Mich interessiert nur, ob die Theorie die Ergebnisse von Messungen vorhersagt. Die Quantentheorie leistet dies sehr erfolgreich...
Roger meint,... der Kollaps der Wellenfunktion führe eine CPT-Verletzung in der Physik herbei. Die Wirkung solcher Verletzungen sieht er in mindestens zwei Situationen: in der Kosmologie und bei Schwarzen Löchern. Ich gebe zu, daß wir dadurch, wie wir Fragen zu Beobachtungen stellen, eine Zeitasymmetrie ins Spiel bringen können. Doch ganz entschieden lehne ich die Idee ab, es gebe einen physikalischen Prozeß, welcher der Reduktion der Wellenfunktion entspräche, oder dies habe irgend etwas mit Quantengravitation oder Bewußtsein zu tun. Für mich klingt das nicht wie Wissenschaft, sondern wie Hexerei.
Penrose über Physik und Wirklichkeit:
Die Quantenmechanik gibt es erst seit 75 Jahren. Im Vergleich zu Newtons Gravitationstheorie ist das eine recht kurze Zeit. Es würde mich darum nicht wundern, wenn die Quantenmechanik für ausgesprochen makroskopische Objekte modifiziert werden muß.
Zu Beginn dieser Debatte sagte Stephen, daß er sich für einen Positivisten hält und mich für einen Platonisten. Von mir aus mag er ein Positivist sein, aber für den entscheidenden Punkt halte ich, daß ich ein Realist bin. Und wenn man diese Diskussion mit der berühmten Debatte zwischen Bohr und Einstein vor rund 70 Jahren vergleicht, sehe ich Stephen in der Rolle von Bohr und mich in der von Einstein. Denn Einstein beharrte darauf, es müsse so etwas wie eine reale Welt geben, die nicht unbedingt durch eine Wellenfunktion dargestellt sein müsse, während Bohr betonte, die Wellenfunktion beschreibe keine "reale" Mikrowelt, sondern nur "Wissen", das für Vorhersagen nützlich sei.
Bohr gilt als Sieger in diesem Streit. Tatsächlich hätte Einstein, folgt man der kürzlich erschienenen Einstein-Biographie von [Abraham] Pais, nach 1925 genausogut angeln gehen können. Zwar stimmt, daß er keine großen Fortschritte mehr machte, obwohl seine scharfsinnigen Einwände sehr nützlich waren. Ich glaube aber, der Grund, warum Einstein in der Quantentheorie nicht weiterhin Grundlegendes leistete, war, daß dieser Theorie eine entscheidende Komponente fehlte. Diese fehlende Zutat war die Strahlung Schwarzer Löcher, die Stephen 50 Jahre später entdeckt hat. Der Informationsverlust, der mit dieser Strahlung verbunden ist, eröffnet neue Perspektiven.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1996, Seite 46
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