Das Wirbeltier-Immunsystem: Frühformen bei Haien
Die seit mehr als 420 Millionen Jahren existierende Linie der Knorpelfische mit den Haien gestattet Einblicke in eine weit zurückliegende Phase der Evolution der Wirbeltier-Immunabwehr insbesondere von Strategien, Vielfalt und Effizienz bei Antikörpern zu erreichen.
Vor mutmaßlich ungefähr 500 Millionen Jahren tauchte im warmen Wasser der riesigen Urmeere der Urahne aller mit Kiefern ausgestatteten Wirbeltiere auf. Nichts von ihm ist mehr zu finden. Aber nach Ansicht mancher Paläontologen könnte er bestimmten Panzerfischen (Placodermen) aus späterer Zeit geähnelt haben, deren Fossilien erhalten sind (Bild im Brief an die Leser, Seite 3). Bei diesen furchterregenden Geschöpfen, von denen einige offenbar bis zu sieben Meter Länge erreichten, waren Kopf und Rumpf von meist schweren schützenden Knochenplatten umhüllt. Sie starben vor rund 350 Millionen Jahren aus.
Ein lebendes Exemplar eines frühen Panzerfisches oder einer der anderen möglichen Ahnen kiefertragender Wirbeltiere brächte unschätzbare Erkenntnisse zur Entwicklungsgeschichte. Für Immunologen besonders faszinierend wäre, daran die Arbeitsweise des frühen spezifischen Abwehrsystems zu studieren, wie es kurz nach dem kritischen Übergang einiger fischartiger Wirbeltiere von der kieferlosen zur kiefertragenden Form existierte. Dies war ein entscheidender evolutiver Schritt, weil von hier aus die Entwicklung zu fast allen heutigen Wirbeltieren weiterlief, darunter jenen, die später das Land eroberten und in einer ihrer Linien zu den Säugern einschließlich des Menschen wurden.
Kieferlose Fische als die einfachsten Wirbeltiere im engeren Sinne (Neunaugen gehören beispielsweise dazu) sind immerhin die erste Tiergruppe mit einem Immunsystem, das über Lymphocyten verfügt, wenn auch noch nicht über die beiden typischen getrennten Sorten und über deutlich organisierte lymphatische Organe. Wahrscheinlich entstand ein mehrkomponentiges anpassungsfähiges Immunsystem zusammen mit den ersten Wirbeltieren. Seine bemerkenswerte Anpassungsfähigkeit geht den Abwehrsystemen heutiger Wirbelloser ab, die wahrscheinlich denen urtümlicher, noch vor den Wirbeltieren existierenden Formen ähneln (siehe den vorstehenden Beitrag).
Niedere Kieferfische (eben die Placodermen) und deren Vorfahren stehen nicht mehr als immunologisches Studienobjekt zur Verfügung, wohl aber die nächsthöheren: die Knorpelfische mit den Haien (Bild 1), Rochen und Seekatzen. Ihre Abwehrsysteme, die sich seit ihrem ersten Erscheinen vor einigen hundert Jahrmillionen wahrscheinlich ebenfalls wenig verändert haben, könnten sich als ein Fenster zu diesem weit zurückliegenden außergewöhnlichen Abschnitt der Evolution erweisen.
Während der vergangenen Jahre haben meine Kollegen und ich einige Vertreter der Klasse der Knorpelfische untersucht. Wie erwartet, unterscheiden sich diese lebenden Fossile in Aspekten ihrer Immunabwehr von stammesgeschichtlich jüngeren Wirbeltieren wie Fröschen, Affen und Menschen. Was jedoch die Schutzwirkung anbelangt, scheinen ihre urtümlichen Immunsyteme erstaunlicherweise in keiner Hinsicht schlechter – wenn nicht sogar in mancher besser – zu sein als die fortschrittlichen Pendants.
Eigentlich ist das gar nicht so überraschend: Die als Plattenkiemer (Elasmobranchier) bezeichnete Unterklasse, die Haie und Rochen umfaßt, existiert seit mehr als 420 Millionen Jahren (Homo sapiens allenfalls erst seit ungefähr einer halben Million Jahre) und hat mehrere Massensterben überlebt, bei denen zahllose andere Gruppen verschwanden. Ohne ein außerordentlich schlagkräftiges Immunsystem ist ein derartiger evolutionärer Erfolg kaum vorstellbar. Unsere Bemühungen, die immunologischen Erfolgsgeheimnisse der Elasmobranchier aufzuspüren, erbrachten als nützlichen Nebeneffekt auch Einsichten in das menschliche Abwehrsystem.
Zweiteilung
Die adaptive oder erworbene Form der Abwehr untergliedert sich in zwei verschiedene Grundkomponenten: eine humorale (nach lateinisch umor oder humor, Flüssigkeit) und eine zelluläre.
Die Träger der humoralen Immunität sind die als B-Zellen bezeichnete Sorte von Lymphocyten, die zu den weißen Blutkörperchen gehören. Sie reifen beim Menschen im Knochenmark (englisch bone marrow) und stellen Antikörper her, die sie als Rezeptor auf ihrer Zelloberfläche tragen und bei Bedarf in etwas anderer Form ausschütten. Diese freien Proteine erkennen wie der Rezeptor jeweils bestimmte molekulare Strukturen beispielsweise auf Bakterien oder Viren, die ins Blut gelangt sind, und heften sich daran. Dadurch werden die Erreger neutralisiert und für andere Abwehreinheiten als zu zerstörendes Ziel markiert. Antikörper werden auch als Immunglobuline bezeichnet; der Mensch hat fünf Hauptklassen davon.
Alle Antikörper-Moleküle auf einer einzelnen B-Zelle binden spezifisch ein und dasselbe Antigen. Sobald dies geschieht, wird die Zelle dazu angeregt, sich zu vermehren und entsprechende Antikörper abzugeben. Insgesamt befinden sich im menschlichen Körper Milliarden solcher Zellen, und jede erzeugt einen Antikörper, der sich von dem der meisten anderen unterscheidet. Dies ist möglich, weil bei der Bildung jeder B-Zelle ein genetischer Prozeß mit sowohl zufallsbestimmten als auch vererbten Komponenten dafür sorgt, daß der Abschnitt des Antikörpers, der sich an das Antigen heftet, eine so gut wie einzigartige Struktur erhält. Es ist diese unglaubliche Vielfalt der Antigen-Bindungsstellen, die der humoralen Abwehr ihre immense Bandbreite bei gleichzeitiger Spezifität verleiht.
Träger der zellulären Immunität ist eine andere Gruppe von Lymphocyten. Diese T-Zellen (sie reifen im Thymus) stellen keine Antikörper her, sondern erkennen Antigene, die ihnen andere Körperzellen auf einer Art molekularem Präsentierteller gewissermaßen zur Kontrolle vorweisen. Zu diesem Zweck sind sie mit einer eigenen Klasse von Molekülen ausgestattet, den T-Zell-Rezeptoren. Werden virusinfizierte oder entartete Zellen abgetötet oder nicht kompatible Spenderorgane abgestoßen, so ist dies das typische Werk von T-Zellen.
Antikörper und T-Zell-Rezeptoren bilden das wichtigste Instrumentarium zur spezifischen Erkennung von Antigenen. Zwar sind humorale und zelluläre Abwehr auf unterschiedliche Funktionen und Zwecke ausgerichtet, doch greifen sie ineinander. T-Zellen helfen zum Beispiel, die Funktion von B-Zellen zu regeln.
In gewisser Weise ähnelt das Immunsytem von Haien und Rochen dem menschlichen (Bild 2). So haben die Tiere eine Milz als lymphatisches Organ, bei ihnen ein reiches Reservoir für B-Zellen, beim Menschen auch für T-Zellen. Wird ein Hai immunisiert, erhält er also ein Antigen injiziert, reagieren passende B-Zellen darauf mit der Herstellung spezifischer Antikörper. Haie und Rochen haben auch einen Thymus; in diesem lymphatischen Organ reifen die T-Zellen, die später im Blut zirkulieren oder in anderen lymphatischen Geweben ihrer Aufgabe harren. Und wie beim Menschen liegt der Vielfalt ihrer T-Zell-Rezeptoren die gleiche Art von genetischem Mechanismus zugrunde, dem die Vielfalt der Antikörper entspringt. Dies haben neuere Arbeiten von mir und Jonathan P. Rast gezeigt, der jetzt am California Institute of Technology in Pasadena arbeitet. Überdies stoßen Haie transplantierte Haut eines anderen Individuums ab, jedoch nicht heftig und schnell, sondern nur allmählich im Laufe von Wochen.
Es gibt einige weitere wesentliche Unterschiede zum Immunsystem des Menschen. Zum Beispiel haben Knorpelfische vier verschiedene Klassen von Immunglobulinen, aber nur eine davon entspricht einer der fünf Hauptklassen des Menschen. Außerdem fehlt diesen Hai-Antikörpern die hochgradige Spezifität, die unter anderem etwa die feine Unterscheidung zwischen zwei ähnlichen Bakterientypen gestattet. Auch verbessert sich ihre Bindungsstärke zum Antigen nicht im Zuge einer länger anhaltenden Abwehrreaktion. Beim Menschen sorgen Abwandlungs- und Selektionsprozesse unter den stimulierten B-Zellen für eine Optimierung, so daß immer spezifischere Antikörper die Immunantwort bestimmen – entschieden ein Vorteil bei der Bekämpfung von Infektionen.
Dies bedeutet aber keineswegs, daß die Immunsysteme von Haien und Rochen den Bedürfnissen des jeweiligen Organismus weniger gut gerecht würden als jene des Menschen und anderer Säugetiere. In ihren Eigenarten spiegelt sich vielmehr der vielfältige Lauf der Evolution, die – zumindest was das Immunsystem betrifft – allem Anschein nach nicht immer so geradlinig fortgeschritten ist, wie das oft dargestellt wird.
Kombinatorik
Wir haben uns vor allem mit der Aufklärung des humoralen Parts beim kalifornischen Hornhai befaßt. Das Tier wird gewöhnlich bis zu etwa einem halben Meter lang und trägt ein auffälliges Tupfenmuster auf der Haut (Bild 1).
Wie bei allen Wirbeltieren hat die Vielfalt seiner Antikörper eine genetische Basis. Ein Standardantikörper enthält eine lange, schwere und eine kurze, leichte Aminosäurekette in jeweils doppelter Ausfertigung. Ein besonderer Abschnitt der langen Kette bildet mit einem der kurzen die Bindungsregion für das Antigen, so daß ein Standardantikörper über zwei gleiche Erkennungsstellen verfügt, an jedem Arm eine (Bild 3). Zu welchem Antigen diese genau passen werden hängt von der Abfolge der verschiedenen Aminosäuren im kritischen Bereich der Ketten ab.
Der Bauplan ist, wie für praktisch alle Proteine einer Zelle, in den Genen des Zellkerns niedergelegt – allerdings in Form eines Modulsystems. Allein für die Bindungsregion der schweren Kette sind drei Typen von Genteilen zu kombinieren: V (für variabel), D (für englisch diverse, vielfältig) und J (für englisch joining, verbindend). Im Falle der leichten Kette sind es nur V- und J-Abschnitte. Ein vierter Typ von Untergenen – mit C bezeichnet (für englisch constant) – bestimmt den übrigen Bereich des Antikörpers und damit zugleich dessen Klassenzugehörigkeit.
Beim Menschen findet man in embryonalen Zellen die verschiedenen funktionsfähigen V-, D-, J- und C-Segmente auf der DNA eines einzigen Chromosoms, und zwar in jeweils eigenen Gruppen (Clustern) wie bei den meisten höheren Wirbeltieren. Für die schwere Kette zum Beispiel sind rund 50 funktionsfähige V-, 30 D- und sechs J-Elemente vorhanden, jeder Cluster Hunderttausende von DNA-Bausteinen vom anderen entfernt. Hinzu kommen acht gestückelte C-Untergene (zu den Hauptklassen existieren teilweise Unterklassen).
Wenn sich eine B-Zelle entwickelt und reift, werden aus diesem Repertoire auf genetischer Ebene zunächst je ein V- und ein D-Element mit einem der J-Elemente in der Nachbarschaft der C-Untergene vereint (rekombiniert). Dies ist dann die einzige von der jeweiligen Zelle nutzbare Kombination für die Bindungsregion. Das Zusammenführen mit einem der C-Untergene geschieht teils durch neuerliche genetische Rekombination, teils erst durch unterschiedliches Ablesen und Spleißen auf der Ebene der RNA, die als Abschrift an die Protein-Produktionsstätten im Zellplasma geht. Bei höheren Wirbeltieren wie dem Menschen ist die Vereinigung verschiedener V-, D- und J-Genelemente, die für die sogenannte kombinatorische Mannigfaltigkeit sorgt, eine wichtige Basis für die Vielfalt der Antigen-Bindungsstellen von Antikörpern.
Auch bei Haien sind Antikörper-Gensegmente in Clustern organisiert, allerdings in anderer Weise (Bild 3 rechts). Für schwere Ketten gibt es mehr als 100 unabhängige Gruppen, verteilt auf mehrere verschiedene Chromosomen, und jede enthält nur ein V-, zwei D- und ein J-Segment bereits relativ dicht beieinander sowie ein einziges C-Untergen, das jeweils sehr eng mit dem der anderen Cluster verwandt ist. Wie sich zeigte, werden in einer B-Zelle nur die vier für die Bindungsregion zuständigen Genteile – V, D1, D2 und J – innerhalb einer einzelnen Gruppe miteinander rekombiniert (das J- ist bereits mit dem C-Untergen gekoppelt).
Ungenaues Verleimen und Vorfertigung
Da keine Elemente aus anderen Clustern miteinander rekombiniert werden, wäre das Hai-Immunsystem nicht fähig, eine große Vielfalt von Antigen-Bindungsstellen zu erzeugen, gäbe es nicht Hunderte verschiedener Cluster, verteilt auf mehrere Chromosomen (für schwere und leichte Ketten zusammengerechnet). Außerdem tragen bei Haien – wie bei Säugern – weitere Mechanismen dazu bei, die Vielfalt zu erhöhen. Bei ihnen und anderen Knorpelfischen sind die sogenannte Verknüpfungsvielfalt und eine bei höheren Wirbeltieren unbekannte Form ererbter Vielfalt sogar viel wichtiger als die kombinatorische.
Verknüpfungsvielfalt entsteht durch eine Art unsauberen Zusammenschluß zwischen beispielsweise V- und D- oder D- und J-Gensegmenten. An den Schnittstellen der zu fusionierenden Teile werden mehrere DNA-Bausteine entfernt und neue in nahezu zufallsmäßiger Weise hinzugefügt. Diese lokale Veränderung der genetischen Information ändert letztlich die Aminosäuresequenz und damit die Eigenschaften der künftigen Antigen-Bindungsstelle.
Darin liegt der wirkliche Vorteil des zusätzlichen, zweiten D-Gensegments im Antikörper produzierenden System des Haies. Bei insgesamt vier zu vereinenden Elementen gibt es drei Stellen, an denen solche Veränderungen möglich sind: zwischen V und D1, D1 und D2 sowie D2 und J. Dank der Verknüpfungsvielfalt können bei diesem Knorpelfisch ohne Kombinatorik aus jedem einzelnen Cluster Millionen verschiedener Varianten einer schweren Antikörper-Kette hervorgehen, jede mit einer etwas anderen Antigen-Bindungsregion. Bei Säugetieren hingegen tritt Verknüpfungsvielfalt im typischen Falle nur an zwei Stellen auf: zwischen den zusammengeführten V- und D-Segmenten sowie zwischen D und J.
Diese Fähigkeit, viele verschiedene Antikörper aus einem begrenzten ererbten Repertoire zu erzeugen, ist eine günstige Strategie, wenn es gilt, den Organismus vor praktisch allen erdenklichen eindringenden Erregern zu schützen. Allerdings besteht eine große – und potentiell lebensgefährliche – Kluft zwischen der Schaffung einer solchen verknüpfungsbedingten Vielfalt und ihrem effizienten Einsatz: Theoretisch erhält das Immunsystem dadurch zwar genug verschiedenartige Antikörper-Spezifität, um gegen nahezu jede Bedrohung gerüstet zu sein; doch in der konkreten Situation könnte es – salopp gesprochen – zu lange brauchen, um überhaupt genügend Antikörper zu erzeugen. Denn es gilt, die wenigen Zellen mit den zufällig am besten zum Antigen passenden erst einmal selektiv zu vermehren und dann dem eingedrungenen Krankheitserreger entgegenzustellen. Kurzum, der Organismus könnte das Rennen gegen das infektiöse Agens verlieren.
Er verfügt freilich über Mechanismen, die eine rasche Selektion der Zellen mit dem momentan erforderlichen Antikörpergen ermöglichen. Das sind zunächst bestenfalls wenige unter den Milliarden B-Zellen des Körpers. Bindet ihr membranständiger Antikörper (der B-Zell-Rezeptor) das Antigen, vermehrt sich eine solche Zelle und baut eine Art Fließbandproduktion für lösliche, auszuschüttende Antikörper auf.
Bei Säugetieren hilft unter anderem ein kompliziertes Kommunikationsnetz zwischen verschiedenen Zellen, die Abwehr zu diesem Zweck zu mobilisieren und die nötige Spezialtruppe zu erweitern. Außerdem tauchen bei ihnen im Zuge der Immunreaktion Zellen mit genauer und stärker bindendem Antikörper auf, deren Vermehrung in bestimmten Zentren lymphatischer Organe gefördert wird. Schließlich bleiben nach erfolgreichem Einsatz Gedächtniszellen erhalten, die bei neuerlichem Kontakt mit dem Antigen rascher eine schlagkräftige Truppe aufbauen, weil sie die genetische Vorlage für die zielgenaueste Waffe schon parat haben.
Haie stützen sich statt dessen stark auf eine besondere Form ererbter Vielfalt, die das kennzeichnende Merkmal ihres Immunsystems und das vieler anderer Knorpelfische ist. Dadurch ist das Tier nicht unbedingt auf ein Zufallsereignis angewiesen, um den richtigen Antikörper zur rechten Zeit zu haben – daß zum Beispiel durch Einfügen und Weglassen von DNA-Bausteinen beim Verbinden eine gerade günstige Sequenz zusammenkommt. Beim Hai ist nämlich ein erheblicher Prozentsatz der Cluster in allen Zellen seines Körpers, einschließlich der B-Zellen, mit bereits vollständig oder teilweise vorverknüpften V-, D1-, D2- und J-Segmenten ausgestattet; diese Vorvereinigung wird also mit den Ei- und Samenzellen (den Keimbahnzellen) weitervererbt und deshalb auch als Keimbahn-Verknüpfung bezeichnet.
In solchen Clustern der B-Zellen gibt es – wenn überhaupt – nur eine begrenzte Möglichkeit, weitere, nicht ererbte Verknüpfungsvielfalt zu schaffen. Hunderte sind inzwischen untersucht worden, und dabei hat man eine bemerkenswerte Ähnlichkeit in den Sequenzen ihrer Gensegmente und denen gewöhnlicher, nicht vorverknüpfter Cluster festgestellt. Mithin liegt die Annahme nahe, daß sich an irgendeinem Punkt der Evolution ein Typ aus dem anderen entwickelt hat.
Aber warum? Wie auf so vielen Gebieten wissen wir mittlerweile über die genetischen Mechanismen weitaus mehr als über die damit zusammenhängenden Funktionen. Immerhin scheint die Vermutung berechtigt, daß in der Entwicklung der humoralen Immunsysteme von Knorpelfischen das Beste zweier möglicher Strategien vereint wurde: eine große Anzahl von Genen, die im Laufe des Lebens in speziellen Abwehrzellen rekombiniert werden und dadurch immunologische Flexibilität schaffen, sowie einige Gene für Antikörper mit festen Spezifitäten, die sich schnell gegen Krankheitserreger ins Feld führen lassen, mit denen diese Tierarten immerfort zusammentreffen.
Erhöht wird die Mannigfaltigkeit übrigens noch dadurch, daß die beiden Typen von Gen-Clustern in B-Zellen durch Mutationen im Laufe des Lebens weiter verändert werden, wie sie an bestimmten Stellen der Antikörpergene höherer Wirbeltiere sehr häufig auftreten. Auf diese Weise wird in den Zellen die Charakteristik der Antigen-Bindungsstellen ihres Antikörpers modifiziert.
Eine interessante Schlußfolgerung aus dem Vergleich zwischen Mensch und Hai ist, daß ungefähr 450 Millionen Jahre Evolution relativ wenig an den Molekülen der spezifischen humoralen Abwehr verändert haben: In ihrer Gestalt sind sie sich sehr ähnlich, und auch die V-, D- und J-Sequenzen der Gensegmente für die Antikörper ähneln sich. Was sich dagegen radikal verändert hat ist die Art, in der diese Genteile organisiert sind: So wurde beim Hai größerer Wert auf die verknüpfungsbedingte und vor allem die ererbte Vielfalt gelegt. Obwohl relativ einfach, scheinen die Mechanismen zur genetischen Diversifikation im Immunsystem von Haien in vieler Hinsicht effizienter zu sein als die in höheren Wirbeltieren wie dem Menschen.
Dieser Befund unterstreicht, was nicht überrascht, daß Systeme evolutiv den unmittelbaren Bedürfnissen ihrer Träger angepaßt werden. Im Falle der Immunabwehr galt es außerdem, Vorsorge für unvorhersehbare Herausforderungen zu treffen. Das Überraschende daran ist, daß manchmal offenbar ungewöhnlich starke, rätselhafte evolutionäre Sprünge in relativ kurzen Zeiträumen aufgetreten sind, die jene Effizienz ermöglicht haben – zumindest bei der antikörper-vermittelten Immunität.
Zelluläre Immunität
Viele der vorgestellten grundlegenden Prinzipien – so das Umrangieren weit auseinanderliegender Gensegmente, die über einen Chromosomenabschnitt verstreut sind, und das differentielle Spleißen der abgelesenen genetischen Information – finden sich auch im Bereich der zellulären Immunität wieder. Schließlich müssen T- wie B-Zellen mit ihrem Rezeptor in ihrer Gesamtheit ein nahezu unbegrenztes Repertoire von Antigenen erkennen und binden.
Der T-Zell-Rezeptor wird ebenfalls von Gensegmenten codiert wie der B-Zell-Rezeptor (die membranständige Form des Antikörpers). Ihre Organisation entspricht im großen und ganzen der von Immunglobulinen, und die Teile werden durch die gleichen grundlegenden Mechanismen zusammengeführt und dabei variiert.
Von T-Zell-Rezeptoren gibt es aber keine ins Blut abgegebenen Formen (also keine Pendants zu sezernierten Antikörpern), und diese Moleküle erkennen ihr Antigen auch nur, wenn ein spezielles Oberflächenmolekül einer anderen Zelle es gebunden vorweist. Im Vergleich zu manchen Antikörpern ist ihre Affinität zum Antigen gering, und ihre Gensegmente mutieren auch nachträglich nicht stärker als normal.
Viele Immunologen haben die zelluläre Immunität für den Vorläufer der humoralen gehalten. Aber die erwähnte langsame, chronische Abstoßung von Hauttransplantaten bei Haien legte bereits nahe, daß die zellvermittelte Abwehr bei ihnen – wenn überhaupt – nicht stark ausgeprägt ist und ihr möglicherweise die Spezifität fehlt. Daraus wiederum schlossen manche Wissenschaftler, Haie hätten keine T-Zellen.
Diese Hypothese haben meine Kollegen und ich am Hornhai überprüft. Ein eindeutiger Gegenbeweis wäre das Vorhandensein von Genen für einen T-Zell-Rezeptor. Sie zu identifizieren waren die früher gängigen Methoden nicht geeignet. Der Durchbruch kam vor einigen Jahren mit der Entwicklung der Polymerase-Kettenreaktion (PCR), mit der sich von einem interessierenden kleinen DNA-Abschnitt des Erbguts Millionen Kopien herstellen und dann analysieren lassen. Wir benutzten eine Variante der PCR-Technik für unsere Zwecke. Vor einiger Zeit haben wir tatsächlich alle vier Klassen von T-Zell-Rezeptorketten, die es bei Säugetieren gibt, auch beim Rochen nachgewiesen, und wir fanden zudem Indizien, daß sie alle gleichfalls bei Haien vorkommen.
Die Charakteristika einer Klasse von T-Zell-Rezeptorketten des Hornhais haben wir umfassend untersucht: Sie zeigt etwa die gleiche komplexe Auffächerung in mehrere Familien von Genelementen für die Bindungsregion wie ihr menschliches Gegenstück, was uns überraschte. Hieße dies doch, daß sich die T-Zell-Rezeptorgene – im Gegensatz zu den Antikörpergenen – in ihrer Organisation anscheinend nicht wesentlich verändert haben, seit sich die Haie vor mindestens 420 Millionen Jahren von der bis dahin gemeinsamen Linie abgespalten haben. Die Gensysteme für Antikörper und für T-Zell-Rezeptoren könnten sehr wohl aus einem einzigen Vorläufersystem hervorgegangen sein, das eher dem T- als dem B-System ähnelte; allerdings ist auch das Umgekehrte denkbar.
Mit fortschreitender Charakterisierung des Erbguts von Haien und ihren Verwandten haben wir nun auch eine Anzahl andersartiger Gen-Cluster aufgespürt, die denen für Antikörper und T-Zell-Rezeptoren entsprechen. Zum Beispiel hat eine von Martin F. Flajnik an der Universität Miami (Florida) geleitete Arbeitsgruppe kürzlich solche Cluster gefunden, die in ihren Genelementen interessanterweise außerordentlich hohe Mutationsraten aufweisen (ähnlich dem sogenannten Mutationsbrennpunkt der Genregion für die Bindungsstelle von Antikörpern bei Säugern).
Laufende Untersuchungen lassen auch vermuten, daß Immungene aus verschiedenen Clustern im Verlauf der Evolution miteinander vermischt und gekoppelt wurden. Da deren Zahl in die Hunderte geht und reichliche genetische Reserven existieren, könnte ein Austausch zwischen bestehenden Clustern ein sehr effizientes Mittel zur Erzeugung neuer gewesen sein. Es ist deshalb gut möglich, daß wir bei unseren laufenden Untersuchungen noch auf weitere durch Cluster codierte Rezeptoren im Immunsystem des Hais stoßen.
So gesehen erscheint die sonderbare Redundanz verschiedener Gen-Cluster für Immunrezeptoren beim Hai – die Gruppierungen im wesentlichen identischer V-, D1-, D2- und J-Segmente wiederholen sich auf verschiedenen Chromosomen immer wieder – als effiziente Besonderheit: Ihr rekombinatorischer Austausch zusammen mit anderen spezifischen genetischen Mechanismen des Hais ermöglicht eben die schnelle Entstehung neuer Familien von Rezeptormolekülen.
Bei Säugetieren sind die Gensegmente auf jeweils ein Chromosom beschränkt, und es ist wenig strukturelle Redundanz zu erkennen; das bedeutet, daß kaum Gelegenheit für Rekombinationen dieser Art besteht. Außerdem wird die Vervielfachung von Gensegmenten – erkennbar am Vorhandensein mehrerer oder sogar sehr vieler V-, D- und J-Abschnitte, einem Kennzeichen des Säuger-Immunsystems – offenbar nur um den Preis der Einführung und Erhaltung einer erheblichen Anzahl funktionsloser genetischer Elemente erkauft. Bei Haien und Rochen hingegen sind funktionslose Elemente selten und gehen dem Erbgut wahrscheinlich schnell verloren.
Als überlebende Vertreter eines sehr alten Stammes sind Haie und ihre Verwandten wohl die einzigen uns verbliebenen Verbindungsglieder zu den weit zurückliegenden Ursprüngen der T- und B-Zell-Immunität. Diese Knorpelfische gewähren eine einzigartige Einsicht in einen entscheidenden evolutionären Schritt.
Wenn wir das Protokoll der Evolution richtig lesen, ergibt sich daraus eine Reihe von Fragen: War es der unaufhörliche Ansturm von Krankheitserregern, der vergleichsweise plötzlich radikale Änderungen in der Organisation der Antikörpergene veranlaßte? Bedeuten diese Erkenntnisse über frühe Wirbeltiere und die grundlegenden Unterschiede zu heutigen Säugern, daß das Immunsystem sich in einer Art labilen Gleichgewichts befindet, so daß es sich erforderlicherweise rasch zu wandeln vermag? Das könnte durchaus sein und uns zwingen, unsere Vorstellungen über evolutionäre Selektion und Anpassung neu zu überdenken.
Literaturhinweise
- Immunologie. Das menschliche Abwehrsystem. Von Jan G. van den Tweel. Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft, Heidelberg 1991.
– Phylogenetic Diversification of Immunoglobulin Genes and the Antibody Repertoire. Von Gary W. Litman, Jonathan P. Rast, Michael J. Shamblott und anderen in: Molecular Biology and Evolution, Band 10, Heft 1, Seiten 60 bis 72, Januar 1993.
– Evolution of the Immune System. Von Louis DuPasquier in: Fundamental Immunology, 3. Auflage. Herausgegeben von William E. Paul. Raven Press, 1993.
– Das molekulare Arsenal des Immunsystems. Von Charles A. Janeway in: Das Immunsystem, Spezial 2, Spektrum der Wissenschaft, Heidelberg 1993.
– Molecular Evolution of the Vertebrate Immune System. Von Simona Bartl, David Baltimore und Irving L. Weissman in: Proceedings of the National Academy of Sciences, Band 91, Heft 23, Seiten 10769 bis 10770, 8. November 1994.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 1997, Seite 36
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