Das Wüten der Weltraumstürme
Zuverlässig hält das Magnetfeld der Erde die gefährliche Strahlung aus dem Weltraum von uns fern. Doch mitunter speit die unruhige Sonne derart energiereiche Teilchenschwaden aus, dass der irdische Schutzschirm aufs heftigste durchgeschüttelt wird.
Das Unwetter begann an einem Tag, der für seine gewaltsamen Ereignisse bekannt ist: am Jahrestag der Erstürmung der Bastille, des Beginns der Französischen Revolution. Am Morgen des 14. Juli 2000 entdeckte das Space Environment Center in Boulder (Colorado) das erste Warnzeichen, geliefert vom Satelliten GOES-8, der die Röntgenstrahlung der Sonne ebenso wie das Wetter auf der Erde überwacht. Um 10:03 Uhr Weltzeit (12:03 Uhr MESZ) registrierten die Wetterwächter einen scharfen Anstieg der Röntgenstrahlung aus der Aktivitätsregion 9077, einer Zone auf der Sonnenoberfläche, die schon die ganze Woche unruhig gewesen war. Hier brach jetzt offensichtlich ein Flare los, eine kurze, aber heftige Eruption in der oberen Atmosphäre der Sonne.
Denselben Flare, der um 10:24 Uhr Weltzeit seine größte Intensität erreichte, registrierte auch der Satellit SOHO (Solar and Heliospheric Observatory), der zwischen Sonne und Erde stationiert ist, rund 1,5 Millionen Kilometer von unserem Heimatplaneten entfernt. Eine halbe Stunde später – der Flare verblasste bereits wieder – beobachtete SOHO ein noch drohenderes Phänomen: eine helle, größer werdende Wolke, die sich wie ein Heiligenschein oder Halo um die Sonnenscheibe legte. Es handelte sich um einen koronalen Massenauswurf, bei dem die Korona – die äußerste, bis weit in den Weltraum hineinreichende Atmosphärenschicht der Sonne – Milliarden Tonnen elektrisch geladener Teilchen in den Raum hinaus schleudert. Das haloartige Aussehen der Wolke bedeutete, dass die Partikel genau auf die Erde zuschossen, mit einer Geschwindigkeit von schätzungsweise 1700 Kilometern pro Sekunde.
Während der riesige Teilchenschauer durch den langsameren Sonnenwind pflügte, einen ständig von der Sonne abströmenden Fluss aus elektrisch geladenen Teilchen, bildete sich eine Stoßwelle aus: Diese beschleunigte manche der geladenen Partikel auf noch höhere Geschwindigkeiten. Nach weniger als einer Stunde traf deshalb ein Schwall hochenergetischer Protonen auf SOHO und überfrachtete die Messinstrumente des Satelliten. Auf die Solarzellen prasselte innerhalb von 24 Stunden eine Teilchenmenge ein wie sonst innerhalb eines ganzen Jahres. Aber diese heftige Dusche war nur ein Vorbote: Am nächsten Tag traf die Stoßwelle ein. Um 14:37 Uhr Weltzeit rammte sie das Magnetfeld der Erde. Damit brauste ein heftiger geomagnetischer Sturm los, der seine volle Wucht ein paar Stunden später entfaltete, als auch der koronale Massenauswurf selbst die Erde erreichte. Nach der Messskala des Space Environment Center war es der stärkste geomagnetische Sturm im letzten Jahrzehnt.
Die meisten Leute auf der Erde merkten indes nichts von dem himmlischen Tosen. Nur wenige Wissenschaftler verfolgten den Sturm akribisch. Zu den Messinstrumenten, die eigens zu diesem Zweck auf der Erde und im Weltraum installiert waren, gehörte auch der Satellit IMAGE (Imager for Magnetopause-to-Aurora Global Exploration), den die amerikanische Luft- und Raumfahrtbehörde Nasa erst vier Monate zuvor gestartet hatte. IMAGE ist der erste Satellit, der Bilder der gesamten Magnetosphäre aufnehmen kann, also von dem Bereich um die Erde, der von ihrem Magnetfeld beherrscht wird. Durch die globale Erfassung der magnetosphärischen Aktivität leistet er für den Weltraum, was die ersten Wettersatelliten für die Vorgänge in der Erdatmosphäre taten.
Im Jahre 1996 hatte mich die Nasa als Leiter eines Teams ausgewählt, das den IMAGE-Satelliten entwickeln und seine Daten auswerten sollte. Während des Sturms am französischen Nationalfeiertag erhielten wir nun erstaunliche Aufnahmen von Ionen, die um die Erde schwirrten, und von brillanten Polarlichtern, die durch das Auftreffen geladener Teilchen auf die Hochatmosphäre entstanden. Die Auswertung der Daten wird klären helfen, wie koronale Massenauswürfe und der Sonnenwind mit der Magnetosphäre der Erde wechselwirken. Auch praktische Anwendungen ergeben sich daraus: Weltraumstürme können nämlich Satelliten beschädigen, Astronauten gefährden und sogar irdische Stromnetze lahm legen. Der hier beschriebene Sturm hat letztlich den Verlust des japanischen Röntgensatelliten ASCA verursacht: Durch den Teilchenbeschuss dehnte sich die Erdatmosphäre aus, und der dadurch angestiegene Luftwiderstand auf der Bahn des Satelliten bremste diesen stärker als vorgesehen ab, sodass er schließlich im März dieses Jahres in der Atmosphäre verglühte. Um künftig besser gewappnet zu sein, möchten die Wissenschaftler gerne die Genauigkeit von Weltraumwetter-Vorhersagen verbessern.
Magnetosphäre als Schutzschirm
Ebenso wie das Wetter auf der Erde ist auch das Weltraumwetter starken Schwankungen unterworfen. Innerhalb weniger Minuten können die Bedingungen von ruhig auf stürmisch umschlagen, und Stürme können stunden- oder tagelang anhalten. Und so wie das irdische Wetter mit den Jahreszeiten wechselt, folgt auch das Weltraumwetter seinen eigenen Zyklen. Die magnetische Aktivität der Sonne, die solche Eruptionen wie Flares und koronale Massenauswürfe verursacht, steigt und fällt etwa alle elf Jahre, und deshalb folgen die geomagnetischen Stürme demselben Muster. So ereignete sich der Sturm vom 14. Juli 2000 während eines Maximums des Aktivitätszyklus. Auch mit der 27-tägigen Rotation der Sonne sind periodische Schwankungen des Weltraumwetters – allerdings nicht so ausgeprägt – zu beobachten, weil die Geschwindigkeit des an der Erde vorbeiströmenden Sonnenwindes ansteigt und wieder abflaut.
Das Weltraum- und das irdische Wetter werden freilich durch gänzlich unterschiedliche physikalische Vorgänge bestimmt. Das Wettergeschehen auf der Erde spielt sich in der unteren Atmosphäre ab, also in einem dichten, elektrisch neutralen Gas, das von den Gesetzen der Gas- und Thermodynamik beherrscht wird. Das Medium des Weltraumwetters hingegen ist ein Plasma, ein Gas sehr geringer Dichte, das aus einer gleichen Anzahl positiv geladender Ionen und negativ geladener Elektronen besteht. Im Gegensatz zu den neutralen Atomen und Molekülen der Atmosphäre werden die Partikel im Plasma in ihrer Bewegung von elektrischen und magnetischen Feldern beeinflusst.
Treibende Kraft für das irdische Wetter ist die Sonnenstrahlung, die Atmosphäre, Ozeane und Landmassen aufheizt. In der Magnetosphäre jedoch entsteht das Wetter aus der Wechselwirkung zwischen dem Magnetfeld der Erde und dem Sonnenwind. Letzterer hat sein eigenes Magnetfeld, das mit dem Plasma in den interplanetaren Raum hinausströmt. Dabei strecken sich die Feldlinien gewöhnlich aus, sodass sie schließlich radial von der Sonne fort oder zu ihr hin zeigen. Unter bestimmten Bedingungen jedoch können sich die Feldlinien aus der Äquatorebene der Sonne heraus neigen und eine nord- oder südwärts gerichtete Komponente erhalten. Während des eingangs erwähnten Sturms zum Beispiel waren die Feldlinien mehrere Stunden lang südwärts gerichtet.
Der Sonnenwind besteht überwiegend aus Protonen, die 80 Prozent seiner Masse ausmachen. Heliumkerne steuern weitere 18 Prozent bei; schwerere Ionen sind nur in Spuren vorhanden. Die mittlere Dichte des Sonnenwinds in der Nähe der Erde beträgt neun Protonen pro Kubikzentimeter, die mittlere Geschwindigkeit 470 Kilometer pro Sekunde und die mittlere Stärke sechs Nanotesla, was 1/5000 der Stärke des Magnetfelds der Erde an deren Oberfläche entspricht. Diese Eigenschaften des Sonnenwinds sind allerdings stark variabel, ebenso wie die Orientierung des interplanetaren Magnetfelds – und genau das erklärt letztlich die Dynamik des Weltraumwetters.
Alle Körper des Sonnensystems sind dem Sonnenwind ausgesetzt, der erst weit außerhalb der Pluto-Bahn auf das Gas des interstellaren Raumes trifft. Weil die Erde aber von ihrem Magnetfeld umgeben ist, das wie ein Schutzschild wirkt, können die Partikel des Sonnenwinds nicht direkt auf die Atmosphäre unseres Heimatplaneten treffen. Unter dem Einfluss des Teilchenstroms verformt sich die irdische Magnetosphäre. Auf der sonnenzugewandten Seite ist sie eingedrückt, während sie auf der abgewandten Seite zu einem langen Schweif, ähnlich wie bei einem Kometen, auseinander gezogen ist. Dieser Magnetfeld- oder Magnetosphärenschweif erstreckt sich über mehr als eine Million Kilometer weit in den Raum, also weit über die Mondbahn hinaus.
Zwischen dem Sonnenwind und der Magnetosphäre liegt eine dünne Grenzschicht, die Magnetopause: Hier gleicht der Druck des Erdmagnetfelds den des Sonnenwinds gerade aus. Auf der Tagseite der Erde liegt diese Grenze normalerweise etwa 64000 Kilometer vor dem Zentrum unseres Planeten, doch ihr Abstand schwankt mit dem Druck des Sonnenwinds: Nimmt dieser zu, dann rückt sie näher an die Erde heran, manchmal bis auf 26000 Kilometer.
Wie bei einem Düsenflugzeug, das mit Überschallgeschwindigkeit durch die Atmosphäre rast, bildet sich beim Auftreffen des Sonnenwinds auf die irdische Magnetosphäre eine Bugstoßwelle aus: Sie liegt etwa 13000 Kilometer vor der Magnetopause. In der Region zwischen Bugstoßwelle und Magnetopause – der Magnetosphärenhülle – ist das Plasma langsamer, heißer und turbulenter als näher an der Sonne.
Messungen mit Satelliten haben ergeben, dass sich in der unmittelbaren Umgebung der Erde das Plasma aus der Magnetosphärenhülle (überwiegend Protonen) mit demjenigen mischt, das aus der Hochatmosphäre über den Erdpolen strömt (vorwiegend Protonen und Sauerstoffionen). Das Mischungsverhältnis ist dabei vom jeweiligen Zustand der Magnetosphäre abhängig. Während eines geomagnetischen Sturms bombardieren geladene Teilchen die Erde in hohen geografischen Breiten. Dadurch fließen elektrische Ströme, welche die Hochatmosphäre aufheizen und noch mehr Protonen und Sauerstoffionen in die Magnetosphäre pumpen. Dieses Plasma landet in einer Art Speicher, der so genannten Plasmaschicht, die sich Zehntausende Kilometer weit auf der Nachtseite der Erde erstreckt; auch Plasma aus dem Sonnenwind, das in die Magnetosphäre eingedrungen ist, sammelt sich hier.
Kurzschluss im Magnetfeld
Die zentrale Frage lautet nun: Wie beeinflussen Veränderungen im Sonnenwind die Bedingungen im Raum rund um die Erde? Oder anders ausgedrückt: Wie kann der Wind die Barriere des Erdmagnetfelds überwinden und Bewegungen des Plasmas im Innern der Magnetosphäre antreiben?
Eine Antwort hat Frank Johnson von der Lockheed Missiles and Space Division bereits 1960 vorgeschlagen. Nach seiner Hypothese ist die Magnetosphäre prinzipiell geschlossen, sodass der Sonnenwind Energie und Impuls nur über Wellenbewegungen entlang der Magnetopause in das erdnahe Plasma einbringen kann. Die Bewegungen würden dabei durch die unterschiedliche Zähigkeit der Plasmen im Sonnenwind und in der Magnetosphäre hervorgerufen, ähnlich den Wellen, die darüber wehender Wind auf einer Wasserfläche erzeugt. Wellen entlang der Magnetopause gibt es tatsächlich – aber sie scheinen nicht in der Lage zu sein, die großräumige Zirkulation der Magnetosphäre oder ihre häufigen großen Störungen anzutreiben. Solche Wellen würden wohl auch keinen effizienten Eintritt des Sonnenwindplasmas in die Magnetosphäre erlauben.
Ein anderer Mechanismus, den der britische Physiker James W. Dungey 1961 vorgeschlagen hat, gilt generell als bessere Erklärung. Demnach sollen sich auf der Tagseite der Magnetopause die Feldlinien des interplanetaren und diejenigen des irdischen Magnetfeldes zeitweise verbinden. An dieser Berührungsstelle könnte der Sonnenwind große Mengen Plasma und magnetische Energie in die Magnetosphäre hinein übertragen.
Diese Kopplung der Feldlinien ist am effektivsten, wenn das interplanetare Magnetfeld eine südwärts gerichtete Komponente aufweist, genau entgegengesetzt dem immer nordwärts gerichteten Erdmagnetfeld auf der Tagseite. Dann verbinden sich die Feldlinien entlang einer breiten Zone entlang des Äquators, und nahezu die gesamte Luvseite der Magnetosphäre öffnet sich dem Sonnenwind. Auch bei anderer Orientierung des interplanetaren Feldes ist eine Kopplung möglich, doch beschränkt sie sich dann meist auf höhere Breiten, wo die freigesetzte Energie größtenteils um die Magnetosphäre herum fließt und nicht in sie hinein.
Durch die Aufnahme magnetischer Energie aus dem Sonnenwind verändert sich die Gestalt der Magnetosphäre erheblich. Wenn sich an der Tagseite der Magnetopause die Feldlinien des interplanetaren und des irdischen Magnetfeldes vereinigt haben, werden sie vom Sonnenwind über die Erdpole geweht, und Energie strömt in die nördlichen und südlichen Bereiche des langen Magnetfeldschweifs auf der Nachtseite. Dadurch schwellen diese Bereiche an, während die Plasmaschicht zwischen ihnen eingedrückt wird. Das geht so lange weiter, bis sich die gegensätzlich verlaufenden Feldlinien der nördlichen und südlichen Bereiche berühren und es auch hier zu einer Verschmelzung kommt.
Magnetische Substürme
Der "Kurzschluss" hat nun zur Folge, dass an dieser Stelle die Feldlinien des mit dem Sonnenwind transportierten Magnetfelds abgeschnürt werden. Dadurch trennt sich ein Plasmatropfen von der Magnetosphäre ab, der mit dem Sonnenwind weiter stromabwärts treibt. Gleichzeitig schnappen die Feldlinien des Erdfeldes, die sich immer weiter in den Schweif hinein gebogen hatten, zurück in ihre normale Gestalt. Diese abrupte Bewegung der Feldlinien erhitzt und beschleunigt die Elektronen und Ionen in der Plasmaschicht und treibt sie in den inneren Bereich der Magnetosphäre hinein. Einige dieser Teilchen dringen dann entlang der Feldlinien des Erdfelds in die Hochatmosphäre über den Polen ein. Dort stoßen sie mit Sauerstoffatomen und Stickstoffmolekülen zusammen und lösen Polarlichter aus, die bei allen Wellenlängen leuchten, vom Röntgenbereich über sichtbares Licht bis in den Radiofrequenzbereich. Die gesamte Folge von Ereignissen, von der Verschmelzung der Feldlinien auf der Tagseite über diejenige auf der Nachtseite bis zu den Polarlichtern, nennen die Wissenschaftler einen magnetischen Substurm.
Die Verschmelzung der Feldlinien auf der Tagseite leitet nicht nur magnetische Energie in den Magnetosphärenschweif, sie verstärkt auch das elektrische Feld quer zu ihm. Das stärkere Feld wiederum erhöht den Fluss von Ionen und Elektronen aus der Plasmaschicht in die innere Magnetosphäre. Und dieser Fluss führt in einen Ringstrom aus geladenen Teilchen, die in 6400 bis 38000 Kilometer Höhe über dem Äquator die Erde umrunden. Hält ein Substurm länger an – was dann der Fall ist, wenn das interplanetare Magnetfeld südwärts gerichtet bleibt – nehmen Anzahl und Energie der Teilchen im Ringstrom erheblich zu. Gelegentlich können die Substürme auch in rascher Folge auftreten und auf diese Weise die Teilchendichte im Ring erhöhen. Jedenfalls ist das Ansteigen des Ringstroms das klassische Merkmal für einen voll ausgeprägten geomagnetischen Sturm.
Das interplanetare Magnetfeld orientiert sich recht häufig südwärts, sodass magnetische Substürme nichts Ungewöhnliches sind: Im Mittel treten sie mehrmals am Tag auf und dauern ein bis drei Stunden. Große geomagnetische Stürme wie der am 14. Juli 2000 sind hingegen weit seltener. Sie treten bevorzugt um die Zeit des Aktivitätsmaximums im elfjährigen Sonnenzyklus auf.
Bis Anfang der neunziger Jahre galten Flares allgemein als Auslöser geomagnetischer Stürme. Doch einige Wissenschaftler trugen nach und nach Hinweise zusammen, die auf eine andere Ursache hinwiesen. John T. Gosling vom Los-Alamos-Nationallaboratorium veröffentlichte schließlich 1993 einen Artikel im "Journal of Geophysical Research", in dem er alle Indizien zusammentrug und erstmals die zentrale Rolle der koronalen Massenauswürfe als Auslöser der großen geomagnetischen Stürme hervorhob. Wodurch diese riesigen Plasmaschwaden ausgestoßen werden, ist immer noch nicht genau bekannt. Vermutlich trägt eine Umlagerung der magnetischen Feldlinien in der Sonnenkorona dazu bei. Meistens, aber nicht immer, treten koronale Massenauswürfe gemeinsam mit Flares auf.
Indes lösen nicht alle koronalen Massenauswürfe geomagnetische Stürme aus. Die meisten zielen gar nicht in Richtung Erde. Aber auch von denen, die auf uns gerichtet sind, ist nur jeder sechste stark genug, um einen Sturm zu entfachen. Wichtigstes Kriterium hierfür ist, dass sich die Massenauswürfe mit höherer Geschwindigkeit bewegen als der Sonnenwind: Denn nur dann bilden sich Stoßwellen aus, die wiederum für die Schauer energiereicher Teilchen und die starken Verformungen des Erdmagnetfeldes verantwortlich sind. Und vor allem presst ein schneller Massenauswurf den Sonnenwind vor sich zusammen, wodurch dort – wie auch im Frontbereich der Plasmaschwaden selbst – die Magnetfeldstärke ansteigt, und zwar in einer Weise, die die Feldlinien bevorzugt in Nord-Süd-Richtung kippt. Wenn dann das interplanetare Magnetfeld auf das Magnetfeld der Erde trifft, führt diese Orientierung zu einer effektiveren Verschmelzung der Feldlinien.
Es gibt noch eine schwächere Art geomagnetischer Stürme, die während der absteigenden Phase des Sonnenzyklus und nahe des Aktivitätsminimums auftreten. Diese Störungen, die in Phase mit der 27-tägigen Sonnenrotation wiederzukehren pflegen, gehen auf Wechselwirkungen zwischen dem schnellen Sonnenwind aus koronalen Löchern und langsamerem aus der Äquatorregion der Sonne zurück. Koronale Massenauswürfe spielen für die wiederkehrenden Stürme keine primäre Rolle, können aber ihre Intensität verstärken.
Der Start des Satelliten IMAGE im März 2000 hat der Forschung zum ersten Mal die Möglichkeit gegeben, die Entwicklung eines großen geomagnetischen Sturms minutiös und umfassend zu verfolgen. Der Satellit umrundet die Erde auf einer stark elliptischen, polaren Bahn in Höhen zwischen 1000 und 46000 Kilometern. Von dieser Warte aus kann IMAGE einen Großteil der Magnetosphäre überblicken.
Alle Instrumente an Bord untersuchen das Plasma der Magnetosphäre, aber auf unterschiedliche Weise. Drei so genannte Energetic Neutral Atom Imager messen indirekt den Ionenfluss. Wenn zum Beispiel ein schnelles Sauerstoffion mit einem Wasserstoffatom der Magnetosphäre zusammenstößt, kann es gelegentlich dessen Elektron übernehmen. Das nun neutrale Sauerstoffatom wird jetzt nicht mehr vom Magnetfeld beeinflusst, sodass es sich auf einer geraden Bahn weiterbewegt. Die drei Instrumente registrieren Anzahl und Energie der neutralen Atome aus einer bestimmten Region, und aus den Daten können die Wissenschaftler Masse, Geschwindigkeit, Richtung und Dichte der Ionen in der Ursprungsregion bestimmen.
Andere Bordinstrumente überwachen Emissionen im ultravioletten Teil des Spektrums. Die Extrem-Ultraviolett-Kamera misst die Dichte einfach ionisierter Heliumatome in der Plasmasphä-re – einer torusförmigen Region in der inneren Magnetosphäre, die Plasma geringer Energie enthält – über das UV-Licht der Sonne, das sie absorbieren und wieder abstrahlen. Das Fern-Ultraviolett-Kamerasystem besteht aus zwei Polarlicht-Kameras (der Wideband Imaging Camera und dem Spectrographic Imager) sowie dem Geokorona-Photometer, das die Strahlung neutraler Wasserstoffatome nachweist. Der Radio Plasma Imager schließlich sendet Radiopulse aus, die von Wolken geladener Teilchen zurückgeworfen werden. Das funktioniert wie bei einer Radarfalle: Die reflektierten Radiosignale enthalten Informationen über Richtung, Geschwindigkeit und Dichte der Plasmaschwaden.
Nach dem Sonnensturm am 14. Juli 2000 sah IMAGE die ersten Auswirkungen bereits weniger als zwei Minuten, nachdem die vom koronalen Massenauswurf getriebene Stoßwelle am 15. Juli das Erdmagnetfeld getroffen hatte. Die Wideband Imaging Camera sendete faszinierende Bilder der Nordlichter, die durch die Kompression des Feldes ausgelöst wurden (und die damals auch in Deutschland zu sehen waren). Sie zeigen, wie das Aurora-Oval über der Arktis plötzlich hell aufzuleuchten beginnt und wie eine Feuerwalze Richtung Nordpol rast. Die Aurora war binnen einer Stunde wieder abgeklungen, flammte aber gegen 17:00 Uhr Weltzeit erneut auf, als eine zweite Stoßwelle eintraf. Mehrere heftige Substürme folgten, als Energie, die im Magnetosphärenschweif gespeichert war, explosionsartig in die Hochatmosphäre entlassen wurde. Substürme und dazugehörige Polarlichter hielten noch bis zum Morgen des 16. Juli an.
Während der Hauptphase des Sturms – vier Stunden nach seinem Beginn – fiel die Magnetfeldstärke auf der Erdoberfläche unvermittelt um 300 Nanotesla ab. Dieses Phänomen, das bei geomagnetischen Stürmen immer auftritt, ging auf das rasche Anwachsen des Ringstroms zurück. Die Energetic Neutral Atom Imager an Bord von IMAGE lieferten eindrucksvolle Aufnahmen dieser Strömung von Ionen und Elektronen um die Erde, als sie am 16. Juli ihr Maximum erreichte und dann wieder abflaute. Sobald die Energiezufuhr aus dem Sonnenwind nachlässt, verlangsamt sich der Plasmafluss in die innere Magnetosphäre, und der Ringstrom verliert mehr Ionen, als er nachgeliefert bekommt. Mit dem Nachlassen des Stromes steigt die Magnetfeldstärke an der Erdoberfläche wieder auf ihren ursprünglichen Wert an – normalerweise binnen weniger Tage, aber nach sehr heftigen Stürmen kann es über einen Monat dauern.
Geomagnetische Stürme verändern auch die Gestalt der Plasmasphäre. Der verstärkte Zustrom von Plasma aus dem Magnetosphärenschweif erdwärts spült nämlich ihre geladenen Teilchen in Richtung der Magnetopause auf der Tagseite. Nach dem Abklingen eines Sturms wird die Plasmasphäre durch Ionen aus der Hochatmosphäre wieder aufgefüllt. Aus Modellrechnungen hatten die Wissenschaftler erwartet, dass die aus der Plasmasphäre entfernten und auf die Tagseite gelangten Teilchen einen langen Plasmaschweif bilden und schließlich vom Sonnenwind erfasst würden. Bilder der EUV-Kamera an Bord von IMAGE haben diese 30 Jahre alte Hypothese nun direkt bestätigt. Zugleich haben diese Aufnahmen aber auch Strukturen in der Plasmasphäre aufgespürt, die neue Fragen darüber aufwerfen, welche Prozesse in ihr nach magnetosphärischen Störungen ablaufen.
Satelliten als globale Wächter
Trotz aller neuen Erkenntnisse ist unser Bild vom Weltraumwetter noch immer unvollständig. Im Gegensatz zu irdischen Wolken sind die Plasmawolken, die IMAGE sieht, komplett durchsichtig. Dadurch bleibt nichts dem Blick verborgen, doch fehlt die räumliche, die Tiefeninformation. Diese wird man erst bekommen, wenn Satelliten direkt vor Ort das Plasma sowie die Felder und Ströme darin messen.
Der nächste Schritt in der Erforschung des Weltraumwetters sind Gruppen von Satelliten, die praktisch genau zum Ort des Geschehens fliegen. Das erste derartige Unternehmen hat bereits begonnen, als die Europäische Weltraumbehörde ESA im Sommer 2000 die Mission Cluster II gestartet hat. (Die ursprünglichen Cluster-Satelliten waren 1996 bei der Explosion ihrer Trägerrakete zerstört worden.) Cluster II besteht aus vier identischen Raumsonden in enger Nachbarschaft zueinander, die turbulente Plasmaphänomene in der Magnetosphäre und dem benachbarten Sonnenwind untersuchen. Die Nasa plant eine ähnliche Mission für 2006: Die Magnetospheric Multiscale-Mission wird das Verbinden der Feldlinien, die Beschleunigung geladener Teilchen und Turbulenzen untersuchen, auf der Tagseite der Magnetopause ebenso wie an bestimmten Stellen des Magnetosphärenschweifs, wo die Substürme ausgelöst werden.
Die Weltraumbehörden denken auch schon über noch ehrgeizigere Projekte nach, mit Dutzenden von Kleinsatelliten, die große Bereiche des Raumes überwachen können – ähnlich wie das globale Netz von Wettersatelliten heute die gesamte Erde im Blickfeld hat. Die ersten derartigen Missionen werden sich wohl auf die innere Magnetosphäre und die Magnetopause auf der Tagseite konzentrieren, wobei jede dieser nur tortengroßen Sonden die wesentlichen Eigenschaften des Plasmas und der Magnetfelder messen soll.
Die Magnetosphäre der Erde ist ein wichtiger Schutzschirm. Ihr starkes Magnetfeld bewahrt die Menschheit vor der durchdringenden und tödlichen Strahlung des Weltraums. Doch den stärksten Stoßwellen von der Sonne vermag auch die Magnetosphäre nicht standzuhalten. So, wie es auf der Erde bestimmte Zonen gibt, die häufig Tornados oder tropischen Wirbelstürmen ausgesetzt sind, können auch in der Magnetosphäre Stürme für Durcheinander sorgen. Deswegen sind Sturmwächter wie IMAGE so wichtig.
Literaturhinweise
Views of Earth’s Magnetosphere with the IMAGE Satellite. Von J. L. Burch et al. in: Science, Bd. 291, 619 (2001).
From the Sun: Auroras, Magnetic Storms, Solar Flares, Cosmic Rays. Von S. T. Suess und B. T. Tsurutani (Hg.). American Geographical Union, 1998.
Die Auswirkungen von Weltraumstürmen
Während geomagnetischer Stürme wirbeln geladene Teilchen um die Erde und bombardieren ihre obere Atmosphäre, besonders in höheren Breiten. Die Teilchenschauer können erhebliche Auswirkungen haben auf:
- Das Stromnetz. Die erdwärts fliegenden Schauer aus Elektronen erzeugen in der oberen Atmosphäre einen starken Strom. Dieser so genannte Aurora-Elektrojet löst Fluktuationen im Erdmagnetfeld aus, die wiederum Spannungsstöße in Überlandleitungen induzieren können. Während eines schweren geomagnetischen Sturms am 13. März 1989 legte ein solcher Spannungsstoß das Stromnetz von Hydro-Quebec lahm, und große Teile Kanadas versanken in Dunkelheit.
- Satelliten. Wenn geladene Teilchen einen Satelliten treffen, lädt sich seine Oberfläche elektrisch auf, was zu Kurzschlüssen in der Bordelektronik führen kann. Zudem erwärmen Weltraumstürme die Erdatmosphäre, wodurch sie sich weiter ausdehnt. Satelliten in einem niedrigen Erdorbit sind dadurch einer stärkeren Bremsung durch die Atome und Moleküle der Atmosphäre ausgesetzt. Dadurch wiederum geraten sie in noch niedrigere Umlaufbahnen, in denen die Reibung weiter zunimmt, bis sie schließlich abstürzen – das vorzeitige Ende der Raumstation Skylab 1979 hatte diese Ursache.
- Astronauten. Ein schwerer Sturm kann Protonenschauer hervorrufen, die Raumanzüge und sogar die Wände der Internationalen Raumstation durchdringen können. Um ihre Astronauten zu schützen, überwacht die Nasa das Weltraumwetter: Wenn ein erwarteter Sturm ein Risiko darstellen könnte, würden Ausstiege in den freien Raum verschoben oder die Astronauten sogar angewiesen, sich in besonders gut geschützte Bereiche der Station zurückzuzie-hen – so geschehen im November 2000, kaum dass die erste Stammbesatzung eingezogen war.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 2001, Seite 30
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