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Anthropologie: Das Zeitalter der Menschenaffen

In Eurasien – nicht in Afrika – stand die Wiege der Hominiden. Genauer: Dort entstanden die Großen Menschenaffen, aus denen später in Afrika der Mensch hervorging.


Charles Darwin (1809-1882) vermutete schon, dass der Mensch von menschenaffenähnlichen Wesen abstammte. Nach seiner Überlegung lebten diese Urahnen am wahrscheinlichsten in Afrika. Denn die uns ähnlichsten unter den heutigen Affen seien die afrikanischen Menschenaffen Gorilla und Schimpanse. Zu Darwins Zeit kannten Anthropologen weder afrikanische Fossilien von Vor- und Frühmenschen noch deren Primatenvorfahren.

Was der Entdecker der heute gültigen Evolutionstheorie über unsere Herkunft schrieb, konnten Paläontologen dennoch im Verlauf des 20. Jahrhunderts weitgehend bestätigen. Außer vielen Fossilien sprechen inzwischen auch genetische Untersuchungen dafür, dass der letzte gemeinsame Vorfahre von Mensch und Schimpanse vor etwa 6 bis 8 Millionen Jahren in Afrika lebte. Fragt man jedoch, woher wiederum diese Linie stammte, wird das Bild komplexer. Eine Zeit lang glaubten Paläoanthropologen, auch diese längst verschwundenen Primaten seien afrikanischen Ursprungs gewesen. Eine Vielzahl neuerer Fossilien verweist aber inzwischen nach Eurasien. Zwar sind die Menschenaffen in Afrika entstanden, sie hatten dann aber in Eurasien die so genannten Großen Menschenaffen hervorgebracht.

Heute leben in letzten Refugien nur noch wenige Menschenaffenarten. Doch im Miozän, der Epoche vor 22 bis 5,5 Millionen Jahren, existierten rund hundert Arten. Sie waren die vorherrschenden Primaten und müssen weite Gebiete der Alten Welt bevölkert haben. Paläontologen finden ihre Fossilien quer durch Eurasien von Frankreich bis China und in Afrika von Kenia bis Namibia.

Hinsichtlich der menschlichen Evolution interessieren besonders die Großen Menschenaffen. Zu ihnen gehören die afrikanischen Arten Schimpanse, Bonobo (Zwergschimpanse) und Gorilla sowie der in Südostasien beheimatete Orang-Utan. Die Gibbons, die ebenso in Südostasien lebenden Kleinen Menschenaffen, sind mit dem Menschen entfernter verwandt. Fossilien von Großen Menschenaffen fanden sich bisher nur in Eurasien – in West-, Mittel- und Südeuropa, in der Türkei, in Südasien und in China. In Afrika sind bisher keine solchen Überreste aufgetaucht. Angesichts dessen hätte Darwin sicherlich angenommen, dass die Primatenfamilie, die Mensch und Große Menschenaffen umfasst, also die Hominiden, in Eurasien entstand.

Nachträglich mag das Ursprungsgebiet der Hominiden nicht sonderlich überraschen. Eurasien dürfte im Miozän ein ideales Experimentierfeld für diese Evolution geboten haben. In einem Ausmaß wie seither nie wieder ereigneten sich damals Wanderungen von Primatengruppen, Klimawechsel, tektonische Verwerfungen und ökologischer Wandel. Unter diesen Bedingungen entstand eine Vielfalt von Menschenaffen. Von denen konnten zwei Linien Großer Menschenaffen später einerseits Südostasien, andererseits Afrika besiedeln.

Diese Entwicklung werde ich hier in großen Zügen darstellen. Nach einem kurzen Abriss der Forschungsgeschichte der letzten beiden Jahrhunderte beschreibe ich zunächst die frühen Menschenaffen vom Anfang des Miozäns in Afrika. Zu ihnen gehörte Proconsul, der sie gut repräsentiert. Dann erzähle ich, wie in Eurasien aus einer der afrikanischen Linien die Großen Menschenaffen hervorgingen. Zuletzt komme ich auf die menschliche Evolution zu sprechen.

Im Jahr 1812 behauptete der französische Naturforscher Georges Cuvier (1769-1832), der Begründer der Paläontologie, einen fossilen Menschen gebe es nicht, ebenso wenig fossile Primaten. Tatsächlich sammelten die Wissenschaftler damals zwar Knochen von Mastodonten und anderen ausgestorbenen Tieren. Doch kannten sie noch keine Fossilien von Primaten aus vergangenen Zeitaltern. Was Cuvier nicht wusste: Er selbst hatte einen Lemuren aus den Kalksteinbrüchen von Paris beschrieben. Er nannte das Tier Adapis parisiensis, hielt es aber für ein primitives Huftier.

Dryopithecus: erster Fund unseres mutmaßlichen Urahnen

Das erste Fossil eines gleich richtig klassifizierten höheren Primaten beschrieb Cuviers Schüler Édouard Lartet (1801-1871) im Jahr 1837. Diesen Affen, von dem sich in Südostfrankreich ein Kieferknochen fand, nennt die Fachwelt heute Pliopithecus. Anhand dieses Fundes und anderer erkannten Wissenschaftler, dass die Wälder Europas einmal von Primaten bewohnt gewesen sein müssen. Den ersten fossilen Großen Menschenaffen, Dryopithecus, klassifizierte Lartet fast zwanzig Jahre später. Das Fossil stammte aus den französischen Pyrenäen.

In den folgenden Jahrzehnten bargen Paläontologen vielerorts Überreste von früheren Menschenaffen: in Spanien, Frankreich, Deutschland, Österreich, der Slowakei, Ungarn, Georgien und in der Türkei. Außer zahlreichen Kieferfragmenten und Zähnen entdeckten sie auch ein paar Knochen von Gliedmaßen. In den 1920er Jahren allerdings lenkten Aufsehen erregende Funde das Augenmerk der Forscher nach Südasien – nach Indien und Pakistan – und nach Afrika, insbesondere nach Kenia. Die früheren Entdeckungen gerieten weitgehend in Vergessenheit.

Entdeckungen in den letzten zwanzig Jahren entfachten erneut Interesse an den Menschenaffen des westlichen Eurasien. Manche dieser Fossilien sind vollständig genug, um sich ein Bild zu machen, wie diese Primaten aussahen. Das erlaubt auch Rückschlüsse auf ihre Verwandtschaft mit den heutigen Menschenaffen und dem Menschen.

Bisher kennen Wissenschaftler von Afrika und Eurasien aus dem Miozän vierzig Gattungen von Menschenaffen, von manchen davon mehrere Arten. Im frühen Miozän, in der Phase vor 22 bis 17 Millionen Jahren, lebten in ihrer ursprünglichen Heimat Afrika nach heutiger Kenntnis 14 Gattungen. Weil Fossilfunde stets lückenhaft sind, dürften es noch deutlich mehr gewesen sein. Offenbar war Vielfalt für die Menschenaffen von Anfang an typisch. Kaum erscheinen sie in Afrika in den Fossilschichten, treten sie in mehreren Arten auf. Schon im frühen Miozän variierten sie stark in der Größe. Manche wogen kaum drei Kilogramm, wenig mehr als eine Hauskatze. Die größten Arten reichten mit achtzig Kilogramm fast an Gorillas heran. Ihre Ernährung war noch breiter gefächert als die ihrer überlebenden Verwandten. Die meisten fraßen vorwiegend reifes Obst. Einige hatten sich auf Blätter spezialisiert, andere auf Früchte und Nüsse.

Am meisten unterscheiden sich jene ersten Menschenaffen von den heutigen in Körperhaltung und Fortbewegungsweise. Die modernen Arten beherrschen ganz unterschiedliche Lokomotionsformen, vom weit ausgreifenden Schwinghangeln der Gibbons bis zum Knöchelgang des Gorillas auf dem Boden. Dagegen kletterten die frühen Menschenaffen vierfüßig auf den Ästen, waren in ihren Möglichkeiten also recht eingeschränkt.

Das hing mit ihrem Körperbau zusammen. Am bekanntesten ist die Gattung Proconsul, von der Paläontologen bemerkenswert vollständige Fossilien auf der kenianischen Halbinsel Rusinga im Nyanza-See, dem früheren Viktoriasee, fanden (siehe Spektrum der Wissenschaft 3/1989, S. 102). Momentan unterscheiden die Wissenschaftler vier Proconsul-Arten. Die kleinste wog zehn, die größte möglicherweise achtzig Kilogramm.

Proconsul vermittelt einen guten Eindruck davon, wie diese Affen gebaut waren und sich fortbewegten. Sie besaßen keinen Schwanz mehr. Dafür waren ihre Hüften, Schultern, Hand- und Fußgelenke sowie Hände und Füße bereits beweglicher als bei Tieraffen. Die ausgeprägte Gelenkigkeit der modernen Menschenaffen und des Menschen kündigte sich gewissermaßen schon an. Dank dessen vermögen heutige Menschenaffen auf einzigartige Weise schwungvoll durchs Geäst zu hangeln. Später nutzte der Mensch die hohe Beweglichkeit seiner Hände unter anderem zum Anfertigen von Werkzeugen.

Daneben bewahrten Proconsul und seine hominiden Zeitgenossen noch etliche ursprünglichere Merkmale. Wirbelsäule, Becken und Arme glichen in manchem noch stark denen von Tieraffen. Wie ihre äffischen Vorfahren waren die ersten Menschenaffen besser dafür gerüstet, auf Ästen entlangzuklettern, als sich mit den Armen daran zu hängen und vorwärts zu schwingen – die rätselhafte Gattung Morotopithecus vielleicht ausgenommen. Viel dieser überkommenen Merkmale mussten die Menschenaffen erst ablegen, bevor sie sich neue Fortbewegungsweisen aneigneten.

Das Gros der frühen afrikanischen Formen starb bald aus. Eine davon muss allerdings Vorläuferin jener Art gewesen sein, die als Erste vor rund 16,5 Millionen Jahren nach Eurasien gelangte. Vielleicht war dieser Ahne Afropithecus aus Kenia. Der sinkende Meeresspiegel schuf damals zur arabischen Halbinsel eine Landbrücke, über die viele Säugetiere nach Eurasien einwanderten, darunter Elefanten, Nagetiere, Schweine und Antilopen sowie ein paar Exoten, etwa Erdferkel, außerdem Primaten.

Offenbar durchquerten die Menschenaffen damals Saudi-Arabien. Von dort stammen Fossilien von Heliopithecus, der Afropithecus so stark ähnelt, dass manche Forscher sie zusammen in eine Gattung stellen. Beide besaßen Zähne mit dicker Schmelzschicht, fraßen also wohl hartes und zähes Futter, etwa Nüsse oder hartschalige Samen. Besonders die kräftigen Zähne könnten ihren Nachfahren erlaubt haben, Eurasien zu erobern. In dessen Wäldern mögen diese Menschenaffen Nahrungsquellen erschlossen haben, die einem Proconsul nicht zugänglich gewesen wären. Als die Landverbindung nach Afrika eine halbe Million Jahre später wieder verschwand, hatten sie sich auf die neue Heimat schon gut eingestellt.

Rasche Ausbreitung in Eurasien

Wenn Organismen erstmals in einen neuen Lebensraum vordringen, bringen sie dort oft in kurzer Zeit viele neue Arten hervor. Das scheint auch hier der Fall gewesen zu sein. Binnen nur 1,5 Millionen Jahren, erdgeschichtlich eines Augenblicks, passten die Menschenaffen sich vielfältig an ihre neue Umwelt an und bildeten in Eurasien mindestens acht neue Formen.

Diese lebhafte Entwicklung gab den Hintergrund für die Evolution der Großen Menschenaffen ab. Die besondere Bedeutung Eurasiens auch für die Evolution des Menschen begreifen die Forscher erst jetzt allmählich.

Früher glaubten Paläontologen, erst vor 15 Millionen Jahren hätten Menschenaffen mit kräftigen Kiefern und großen Mahlzähnen, also mit einem weiter entwickelten Gebiss als dem von Heliopithecus und Afropithecus, Eurasien erreicht. Das wäre etwa der Zeitraum, als solche Formen in Afrika erstmals auftauchten. Dies deckte sich mit der These, dass solche Primaten in Afrika entstanden und sich erst später nach Norden ausbreiteten. Neuere Fossilfunde deuten darauf hin, dass es in Eurasien bereits deutlich früher Menschenaffen mit einem fortschrittlichen Gebiss gab. Meine Kollegen und ich beschrieben 2001 und 2003 Griphopithecus. Dieser vergleichsweise moderne Primat ist aus 16,5 Millionen Jahre alten Ablagerungen von Engelswies in Südwestdeutschland und aus der Türkei bekannt. Damit konnten wir den Beginn der eurasischen Geschichte der Menschenaffen um über eine Million Jahre zurückdatieren.

In Afrika lebten so moderne Menschenaffen vor 17 bis 15 Millionen Jahren anscheinend noch nicht. Vielmehr sahen sie zu jener Zeit noch immer so ursprünglich aus wie im frühen Miozän. Nur wenige Gattungen, etwa Kenyapithecus, hatten sich vielleicht im Körperbau mehr ans Bodenleben angepasst. Die Evolution neuartiger Schädel- und Gebisszüge scheint demnach von einigen eurasischen Hominoiden ausgegangen zu sein. Erst später, als der Meeresspiegel wieder gesunken war, besiedelten modernere Formen auch Afrika.

Gegen Ende des mittleren Miozäns, vor knapp 13 Millionen Jahren, lebten in Eurasien nachweislich Große Menschenaffen, in Europa der von Lartet entdeckte Dryopithecus und in Asien Sivapithecus. Wie ihre heutigen Vettern besaßen diese Tiere einen Kauapparat, der sich ideal zum Zerkleinern weicher, reifer Früchte eignete. In den langen, kräftigen Kiefern saßen große Schneidezähne, schaufel-, nicht hauerförmige Eckzähne sowie hohe Vorbacken- und Backenzähne mit relativ einfacher Kaufläche. Ihre verkürzte Schnauze deutet darauf hin, dass Sehen wichtiger wurde als Riechen.

Frühe Intelligenz bei den Menschenaffen

Wie aus der Feinstruktur der Zähne zu schließen ist, wuchsen diese Primaten in der Jugend offenbar ähnlich langsam wie moderne Menschenaffen. Auch sonst mag ihr Leben vergleichbar abgelaufen sein: mit später Geschlechtsreife, langer Lebensdauer, Aufzucht von nur einem Jungen und so fort. Es scheint sogar, dass diese frühen Großen Menschenaffen, würden sie heute leben, ihren modernen Verwandten intellektuell durchaus Paroli bieten könnten. Dryopithecus besaß wahrscheinlich ein ebenso großes Gehirn wie ein gleich großer Schimpanse. Von Sivapithecus fehlen hierzu leider aussagekräftige Fossilien. Doch da Lebensform und Gehirngröße meist eng zusammenhängen, dürfte er ebenfalls recht intelligent gewesen sein.

Auch der Bau der Gliedmaßen dieser beiden Primaten ähnelte in vielem dem von Großen Menschenaffen. Bedeutend ist vor allem, dass sich ihre Extremitäten sehr gut zum Hangeln eigneten. Dies zeigt besonders das voll streckbare und während des gesamten Bewegungsablaufs den Arm stabilisierende Ellenbogengelenk. Unter den Primaten haben dieses Merkmal einzig die Menschenaffen. Sie können dadurch allein an den Armen, sogar an einem Arm, hängen und sich mit abwechselndem Einsatz beider Arme in Schwüngen durchs Geäst bewegen. Dem Menschen erlaubt diese anatomische Besonderheit, weit und zielgenau zu werfen. Die Gliedmaßen von Dryopithecus wiesen etliche weitere Anpassungen an das Hangeln auf, ebenso Hände und Füße, mit denen er vorzüglich greifen konnte. Er scheint sich folglich in ähnlicher Weise wie die lebenden Großen Menschenaffen durch die Bäume bewegt zu haben.

Die Fortbewegungsart von Sivapithecus ist nicht so klar. Neben Anzeichen für Hangeln gibt es auch solche für einen vierfüßigen Gang. Höchstwahrscheinlich besaß dieser Primat eine eigene Art der Lokomotion, für die es unter den heutigen Formen kein Beispiel gibt. Seine Linie war in Asien sehr verbreitet. Sie bildete Abzweige in der Türkei, in Pakistan, Indien, Nepal, China und Südostasien. Von Sivapithecus stammt nach vorherrschender Auffassung der Orang-Utan ab. Der "Waldmensch" der Regenwälder Borneos und Sumatras wäre somit der einzige lebende Nachfahre dieser erfolgreichen Gruppe.

Im westlichen Eurasien spielte sich eine ähnlich reiche Artenbildung ab. Die früheste Art dieser Gattung war Dryopithecusfontani, den Lartet beschrieben hatte. Innerhalb von etwa 3 Millionen Jahren tauchten mehrere weitere Arten auf. Bald folgten auch stärker spezialisierte Formen. In 2 Millionen Jahren bildeten sich von Nordwestspanien bis nach Georgien vier neue Dryopithecus-Arten heraus.

Umstritten ist allerdings die systematische Stellung von Dryopithecus innerhalb der Hominoiden. Manche Forscher halten ihn für einen Verwandten der asiatischen Menschenaffen. Andere bezeichnen ihn als den Urahn aller heutigen Großen Menschenaffen. Nach meinen eigenen Untersuchungen – die wohl die meisten Merkmale einbeziehen – dürfte Dryopithecus am nächsten mit Ouranopithecus verwandt sein, einem Primaten aus Griechenland. Einer von beiden ist wahrscheinlich der Vorfahr der heutigen afrikanischen Menschenaffen und des Menschen.

Gesichtsvergleich mit den ersten Vormenschen

Im Jahr 1999 bargen meine Kollegen und ich in Rudabánya (Ungarn) einen für diese These sehr interessanten Dryopithecus-Schädel. Bei diesem Fossil sind erstmals Gesichts- und Hirnschädel noch verbunden. Dieser Affe hatte eine lange, niedrige Gehirnkapsel, eine abgeflachte Nasenpartie und ein vergrößertes Untergesicht – wie afrikanische Menschenaffen und frühe Vormenschen. Besonders aufschlussreich erscheint das Gesichtsprofil von Dryopithecus, das sich in einer Außenwölbung nach unten zu abneigt wie bei den afrikanischen Hominiden. Das Profil von Orang-Utans ist dagegen vertieft und weist aufwärts, ebenso das von Gibbons und von Proconsul. Im Grunde erinnert der Schädel von Dryopithecus stark an den von jungen Schimpansen. Dergleichen finden Paläontologen häufig bei Stammarten. Demnach entstanden die ausgeprägten Gesichter von Schimpansen, Gorillas und den frühen Menschenformen in Abwandlung des schlichteren Grundplans, den Dryopithecus aufwies und der sich auch bei jungen afrikanischen Menschenaffen andeutet.

Unbedingt erwähnt werden muss noch Oreopithecus. Dieser merkwürdige Menschenaffe lebte vor 7 Millionen Jahren, also im späten Miozän, im Gebiet der heutigen Toskana, das damals eine bewaldete Inselregion war. Von keinem anderen fossilen Menschenaffen Eurasiens kennen die Forscher das Skelett so genau. Erstmals beschrieb Oreopithecus 1872 der französische Paläontologe Paul Gevais. Diese Linie hatte sich von allen fossilen Primaten der Alten Welt, Menschen- wie Tieraffen, am stärksten auf Blattnahrung spezialisiert.

Im Aussehen fällt Oreopithecus mit seinem großen Körper und kleinen Gehirn völlig aus dem Rahmen. Er könnte ein urtümlicher gemeinsamer Vorfahr von Gibbons und Großen Menschenaffen gewesen sein. Vielleicht war er aber auch schon ein früher Großer Menschenaffe oder sogar ein naher Verwandter von Dryopithecus. Meike Köhler und Salvador Moyà Solà vom Miquel-Crusafont-Institut für Paläontologie in Barcelona behaupten, Oreopithecus sei aufrecht, auf zwei Beinen, auf Baumstämmen gegangen und habe menschenähnliche Hände besessen, mit denen er präzise greifen konnte. Die meisten Paläontologen glauben allerdings, dass dieses Tier vorzüglich ans Hangeln angepasst war. Wie auch immer: Oreopithecus ist ein sehr gutes Beispiel dafür, wie erfolgreich die eurasischen Menschenaffen waren und wie vielfältig sie sich an neue Umwelten anzupassen vermochten.

Wieso starben die meisten dieser Linien aus? Und wie konnten ein paar davon überdauern, von denen die heutigen Hominiden abstammen? Antworten hierzu ermöglicht die Paläoklimatologie. Die Großen Menschenaffen verdankten ihre Blütezeit in Eurasien während des gesamten Mittleren Miozäns einer üppigen subtropischen Waldvegetation und dem stets warmen Klima. Jederzeit fanden sie reife Früchte. Der hohe Wald bildete mehrere Kronenstockwerke, die das Fortkommen im Geäst leicht machten.

Im späten Miozän jedoch erfolgte ein massiver Klimaumschwung, als sich die Alpen, der Himalaja und die Gebirge Ostafrikas weiter aufschoben, die Meeresströmungen verlagerten und die polaren Eiskappen zu bilden begannen. In Asien entstanden die noch heute vorhandenen Monsunzyklen. Ostafrika wurde nun immer trockener und Europa bekam ein gemäßigtes Klima. Offenbar hielten die eurasischen Großen Menschenaffen den Klimaumschwung nicht aus. Einzig die Linien von Sivapithecus und Dryopithecus überlebten – indem sie in Gebiete südlich des nördlichen Wendekreises auswichen. Von China zogen sie nach Südostasien, von Europa in die afrikanischen Tropen. Sie blieben in Umweltbedingungen ähnlich denen, an die sie sich in Eurasien angepasst hatten.

Dieses Szenario könnte Anhaltspunkte dafür liefern, wie und warum der aufrechte Gang des Menschen entstand. Paläontologen wissen immer noch nicht, aus welcher Fortbewegungsweise er hervorging. Fossilreihen, die das eindeutig zeigen, gibt es bisher nicht.

Aufrechter Gang und Anfänge der Menschenevolution

Vor allem zwei Modelle werden diskutiert. Nach dem einen hangelten und kletterten die unmittelbaren Vorfahren der ersten aufrecht gehenden Vormenschen eher in Bäumen, nach dem anderen liefen sie meistens am Boden, vielleicht in einem Knöchelgang ähnlich den Schimpansen, bei dem die Hände die Erde nicht mit der Innenfläche berührten, sondern mit der Außenseite der Fingerknöchel.

Die Vorfahren der afrikanischen Menschenaffen verließen Eurasien, als dort die dichten Wälder lichteren Baumbeständen und Graslandschaften Platz machten. Meines Erachtens überlebten sie, indem sie bestimmte Anpassungen für eine Fortbewegung am Boden erwarben. Um überhaupt schließlich bis nach Afrika zu gelangen, dürfte insbesondere der Knöchelgang unerlässlich gewesen sein. Einige Zweige dieser Primaten kehrten in Afrika wieder in dichte Wälder zurück. Andere besiedelten verschiedene mehr oder weniger locker bewaldete Landschaften. Ein Zweig drang schließlich in offenes Gelände vor und wurde zum reinen Bodenbewohner.

Die Evolution der Menschenaffen und des Menschen zeichnete sich von Anbeginn durch Flexibilität in der Anpassung aus. Dank einer Neuerung im Kauapparat konnten Menschenaffen Afrika im frühen Miozän verlassen und eine Vielzahl neuer Umwelten erschließen. In Eurasien gelang es den Großen Menschenaffen durch eine Reihe von Skelettveränderungen, sich mit ihren einzelnen Zweigen in recht unterschiedlichen Bedingungen einzurichten. Überdies halfen ihnen große Gehirne, komplexe soziale wie ökologische Situationen zu meistern.

Mit diesen Voraussetzungen überstanden einige wenige von ihnen den dramatischen Klimawandel im späten Miozän und vor etwa 9 Millionen Jahren kamen sie wieder nach Afrika. Die Linie, aus der die heutigen Menschenaffen und der Mensch hervorgingen, war gewissermaßen vorangepasst, mit drastischen Umweltveränderungen fertig zu werden. Allzu sehr überrascht es nicht, dass eine der Arten ein besonders großes Gehirn ausbildete und zum technischen Genie wurde.

Vor zwanzig Jahren begann ich als Student, mich für fossile Menschenaffen zu interessieren. Schon damals wurde mir klar, dass sich die Evolution des Menschen nur dann ergründen lässt, wenn klar ist, wann, wo, wie und woraus er entstand. Um Körperbau und Verhalten der ersten Menschen zu deuten, ziehen Wissenschaftler zum Vergleich gewöhnlich heutige Menschenaffen heran, durchaus mit großem Gewinn.

Schimpansenähnlicher Urahn

Allerdings haben sich die Menschenaffen seit ihrer Abspaltung von unserem letzten gemeinsamen Vorfahren ebenfalls weiterentwickelt. Das Studium der Arten des Miozäns bietet nicht nur eine einzigartige Sicht auf die Vorfahren der heutigen Hominiden einschließlich des Menschen. Sondern es bietet auch Einblicke in die Hintergründe der Evolution der modernen Formen.

Nachdem feststehen dürfte, dass die afrikanischen Großen Menschenaffen aus den europäischen hervorgingen, lässt sich auch der letzte gemeinsame Vorfahr von Mensch und Schimpanse skizzieren. Es müsste ein schimpansenähnlicher Waldbewohner gewesen sein, der auf dem Boden im Knöchelgang lief und sich hauptsächlich von Früchten ernährte, aber auch kleinere Tiere tötete und verzehrte. Er benutzte Werkzeuge und lebte in sehr komplexen, dynamischen Horden – wie Schimpansen und Menschen.

Viele Fragen sind noch offen. Von etlichen fossilen Menschenaffen existieren bisher nur Zähne und Kieferfragmente, die über ihre Statur, Hirngröße, Körperhaltung und Bewegungsweise wenig oder gar nichts aussagen. Außerdem besteht zwischen den europäischen Vorläufern der afrikanischen Großen Menschenaffen, also Dryopithecus und Ouranopithecus, und den afrikanischen Formen geographisch wie zeitlich eine beachtliche Fossillücke.

Auch bei den ersten mutmaßlichen Vormenschen ist der menschliche Stammbaum – besser Stammbusch – noch recht unklar, was die Zugehörigkeit dieser Arten betrifft. So trug der kürzlich entdeckte, 6 bis 7 Millionen Jahre alte Sahelanthropus tchadensis aus dem Tschad kleine Eckzähne. Vielleicht saß das Hinterhauptsloch etwas mehr unter dem Schädel, was ein Zeichen für einen aufrechten Gang wäre. Daneben wies dieser Primat manches Schim-
pansenmerkmal auf, unter anderem ein kleines Gehirn, ein vorspringendes Gesicht, eine flache Stirn und eine kräftige Nackenmuskulatur.

Eine Mixtur von menschen- und schimpansenähnlichen Merkmalen erscheint auch bei dem 6 Millionen Jahre alten Orrorin tugenensis aus Kenia. Gleiches gilt für den 5,8 Millionen Jahre alten Ardipithecus ramidus kadabba aus Äthiopien. Die Entdecker dieser Fossilien halten jeweils die von ihnen gefundene Art für einen Vorfahren des Menschen (siehe Spektrum der Wissenschaft 9/2003, S. 46). An sich genügen die Daten nicht, um sagen zu können, ob es sich jeweils wirklich um einen sehr frühen Vormenschen handelte, um einen Vorfahren der modernen afrikanischen Menschenaffen oder einen Vertreter ausgestorbener Menschenaffenlinien. Meiner Meinung nach war der erste eindeutige Vormensch der 4,4 Millionen Jahre alte Ardipithecus ramidus ramidus aus Äthiopien.

Noch sind sich die Forscher nicht einig, ob die Vorfahren der modernen Großen Menschenaffen in Eurasien entstanden. Das liegt aber nicht an unzureichenden Hinweisen. Vielmehr begreifen einige Anthropologen Darwins eingangs erwähnte These so, dass sich die Evolution der afrikanischen Menschenaffen ausschließlich auf dem Dunklen Kontinent abgespielt haben muss.

Ein anderer Einwurf ist, dass fehlende Fossilien nicht bedeuten müssen, es habe die fraglichen Arten in der Gegend nicht gegeben. Von Afrika existieren derzeit keine fossilen Großen Menschenaffen. Das beweist keineswegs, dass sie während der fraglichen Zeit dort nicht vorkamen. Jedoch kennen Paläontologen in Afrika viele zwischen 14 und 7 Millionen Jahre alte Fossillagerstätten. In manchen davon fanden sie massenhaft Knochen von waldlebenden Tieren. An keiner tauchten bisher Überreste Großer Menschenaffen auf. Zwar könnte es sein, dass im Miozän in Afrika und Eurasien ähnliche Arten lebten – doch das ist unwahrscheinlich.

Literaturhinweise


Vom Affen zum Menschen. Teil 1: Evolution der Primaten. Von Louis de Bonis. Spektrum der Wissenschaft, Compact 1, 2001.

Rudabánya: A Late Miocene Subtropical Swamp Deposit with Evidence of the Origin of the African Apes and Humans. Von László Kordos und David R. Begun in: Evolutionary Anthropology, Bd. 11, Nr. 1, 2002, S. 45.

The Oldest Eurasien Hominoid. Von Elzmar P.J. Heizmann und David R. Begun in: Journal of Human Evolution, Bd. 41, 2001, S. 463.


In Kürze


- Im Miozän, vor 22 bis 5,5 Millionen Jahren, lebten rund hundert Arten von Menschenaffen. Heute gibt es nur noch fünf.

- Ursprünglich entstanden die Menschenaffen zwar in Afrika. Doch die Linie der Großen Menschenaffen, von der auch der Mensch abstammt, entwickelte sich offenbar in Eurasien.

- Wahrscheinlich stammt der Orang-Utan von einer alten eurasischen Linie ab, zu der Sivapithecus gehörte. Vorfahr der afrikanischen Menschenaffen und des Menschen dürfte die Verwandtschaftsgruppe von Dryopithecus gewesen sein.


Glossar


- Hominiden: nach neuerer Auffassung Große Menschenaffen (Orang-Utan, Gorilla, Schimpanse, Bonobo) und Mensch

- Kleine Menschenaffen: Gibbons

- Hominoiden: Kleine sowie Große enschenaffen und der Mensch


Was sind Menschenaffen?


Worin unterscheiden sich die Menschenaffen von anderen Primaten?

Sie alle haben keinen Schwanz. Rumpf und Gliedmaßen müssen darum neue Aufgaben übernehmen. Also verfügen Mensch und Menschenaffen über besonders gelenkige Gliedmaßen. Sie können die Arme über den Kopf heben und sogar an ihnen baumeln. Alle Menschenaffen besitzen zu diesem Zweck längere und kräftigere Arme als Beine. Beim Menschen verkehrte sich das Verhältnis in Anpassung an den aufrechten Gang.

Wegen der Funktion der Arme besitzen die Menschenaffen auch einen breiten Brustkorb, einen verkürzten Lendenbereich sowie recht bewegliche Hüft- und Fußgelenke und kräftige Greiffüße, und sie halten sich aufrechter als die meisten anderen Primaten. Sie sind außerdem ziemlich groß. Vor allem bei den Großen Menschenaffen dauert das Wachstum viele Jahre, und sie werden spät geschlechtsreif. Nach dem Menschen weisen sie von allen Primaten die größten Gehirne auf. Fast in jeder Hinsicht übertreffen sie sämtliche anderen Säugetiere an Intelligenz.

Proconsul gilt als der erste unstrittige Menschenaffe. Er lebte vor 19 Millionen Jahren in Afrika. Er besaß offensichtlich keinen Schwanz mehr, wie an der unteren Wirbelsäule erkennbar ist. Allerdings hatte er noch ein relativ kleines Gehirn und war in den Gelenken nicht so beweglich wie die modernen Arten.


Der Yeti – Mythos und Wirklichkeit


Auch einige ernsthafte Wissenschaftler glauben, dass Sivapithecus außer dem Orang-Utan noch einen weiteren lebenden Nachfahren hat, einen zottigen, aufrecht gehenden nichtmenschlichen Primaten von riesiger Statur, den Leute an verschiedenen Orten Zentralasiens und Nordamerikas gesehen haben wollen. Seine Namen – wie Yeti, Schneemensch, Bigfoot, Raksi-Bombo – sind so zahlreich wie die Beweise rar.

Anhänger des Yetis verweisen auf irgendwelche Haare, Kotreste, Fußabdrücke, verschwommene Fotos oder Videoaufnahmen. Meist nennen sie Gigantopithecus als seinen nächsten Vorfahren. Dieser Menschenaffe von der doppelten bis dreifachen Größe eines Gorillas lebte, soweit bekannt, bis vor etwa 300000 Jahren in China und Südostasien.

Tatsächlich könnte solch ein Koloss durchaus immer noch irgendwo sein Dasein fristen. Stutzig macht aber, dass Menschenaffen, die vor 20 Millionen Jahren auftraten und nicht größer als Kleinkatzen waren, Fossilien hinterließen. Vom Yeti aber existiert bisher nicht ein einziger Knochen, obwohl das Monster eine halbe Tonne wiegen müsste. Wohl jeder von uns Forschern würde liebend gerne einen lebendigen Schneemenschen zu Gesicht bekommen. Hoffnung darf er sich kaum machen.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 2003, Seite 58
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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