Den Hunger beenden und die Natur erhalten - Vorschau auf den Welternährungsgipfel
In den nächsten Jahrzehnten muß die Verfügbarkeit von Nahrung drastisch erhöht werden. Es ist eine der zentralen technologischen und politischen Aufgaben unserer Zeit, den jetzt schon grassierenden Hunger auf der Welt zu bekämpfen und nachhaltige Vorsorge dafür zu treffen, daß die Ernährung für eine wachsende Bevölkerung und bei wachsenden Einkommen in den Schwellenländern auch künftig gesichert ist.
Im November 1996 findet in Rom der Welternährungsgipfel statt. Die Staatschefs der Welt werden dort ein Aktionsprogramm zur beschleunigten Reduzierung von Hunger und Unterernährung beschließen. Im Juni 1996 hatte in Leipzig - ausgelöst durch die Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro 1992 – die Internationale Konferenz über pflanzengenetische Ressourcen auf den drohenden Verlust an Biodiversität hingewiesen und Maßnahmen zur Sicherung der genetischen Vielfalt erörtert. In Rom werden die Menschen, die heute von Hunger betroffen sind, und die Ernährungssicherung der nächsten Generationen auf der Tagesordnung stehen. Die beiden Ereignisse sowie die ihnen zugrunde liegenden Probleme können nicht isoliert voneinander gesehen werden; ihre sachgerechte Verknüpfung ist aber nicht trivial.
Konflikt zwischen Ernährung und Naturerhaltung?
Die meisten Menschen auf der Welt ernähren sich zum größten Teil von Getreideprodukten. Ungefähr die Hälfte der täglichen Kalorienaufnahme wird aus den wichtigsten Getreidearten Weizen, Reis, Mais, Gerste und Sorghumhirse gedeckt. Je knapper das Land, desto mehr nimmt inzwischen der Anbau von Wurzel- und Knollenfrüchten in Teilen der armen Welt zu.
Die globale Versorgung mit Nahrungsmitteln ist in den vergangenen zwei Jahren prekär geworden. Die Weltlagerbestände von Getreide reichten Anfang 1996 für 53 Tage des Verbrauchs, während sie im Durchschnitt der vergangenen zehn Jahre für etwa 80 Tage vorhielten. Gestiegene Preise spiegeln diese Knappheit wider.
Die kurzsichtige Reduzierung der internationalen Anstrengungen für Agrarentwicklung in den achtziger Jahren, der beschleunigte Nachfragezuwachs insbesondere Ostasiens und die Korrektur der Agrarpolitik der Industrieländer haben wichtigen Anteil an dieser Verknappung. Boden, Wasser, die genetischen Ressourcen sowie menschliches Wissen und Können bilden die technische Grundlage der Nahrungsmittelproduktion und der Ernährungssicherheit. Die für die Nahrungsmittelproduktion nutzbare Fläche aber ist begrenzt und nicht vermehrbar, und die Wasserverfügbarkeit wird in einigen Weltregionen ebenfalls zunehmend knapp.
Die Einführung hochertragreicher Sorten bei den wichtigsten Nutzpflanzen hat bewirkt, daß viele Millionen Menschen heute weniger Hunger leiden, als es sonst zu erwarten gewesen wäre. Ohne erhöhte landwirtschaftliche Produktivität werden Nahrungsmittel in den Armutsgebieten der Welt zunehmend rar. Die arme Landbevölkerung bleibt so gezwungen, Raubbau an natürlichen Ressourcen zu treiben, um zu überleben; das Abholzen von Waldgebieten zugunsten landwirtschaftlicher Nutzung mit den bekannten lokalen und auch globalen Wirkungen sowie die Kultivierung von Berghängen, die Erosion zur Folge hat, sind Beispiele dafür.
Eine Landwirtschaft ohne Mineraldünger und Pflanzenschutz kann diese erforderliche Produktivitätssteigerung mit den heute verfügbaren technologischen Mitteln nicht leisten. Nachhaltige landwirtschaftliche Technologie erfordert gerade jetzt vermehrte Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen zur Reduzierung des latenten Konflikts zwischen Naturraumerhaltung und Ernährungsbedarf. Die moderne Landwirtschaft aber, die auf dem Einsatz von Mineraldüngern, auf Pflanzenschutz, Bewässerung und Maschinen beruht, wird immer wieder verantwortlich gemacht für den Verlust an Biodiversität beziehungsweise genetischer Vielfalt.
Über Jahrhunderte haben Bauern die ihnen gemäßen Pflanzensorten entwickelt und den speziellen regionalen Besonderheiten und Bedürfnissen angepaßt. Aber auch in der Vergangenheit war dies nicht immer erfolgreich: Ein Beispiel trauriger Berühmtheit für Risiken genetischer Uniformität ist die Kartoffelkrankheit, die vor 150 Jahren die große Hungersnot in Irland auslöste; Hunderttausende fielen ihr zum Opfer.
Ein Problem der intensiven Landwirtschaft weltweit besteht in ihrer Abhängigkeit von nur wenigen Pflanzensorten und Tieren. Höhere und sicherere Erträge der verbesserten Sorten bedeuteten stets eine schrumpfende Zahl der Sorten. Es ist unbekannt, wie viele domestizierte Pflanzenarten in der Vergangenheit schon verlorengegangen sind. Es ist jedoch ein Faktum, daß der Verlust an Diversität in der Landwirtschaft das vorhandene genetische Material verarmen läßt, das für gegenwärtige und künftige Generationen nützlich sein könnte, denn es ist häufig für die Pflanzenzüchtung erforderlich, auf den Genpool traditioneller Arten zurückzugreifen, um krankheits- und schädlingsresistente Gene für unterschiedliche und sich verändernde Stress-Situationen zu finden. Verluste in diesem Pool sind nach gegenwärtigem Stand des Wissens riskant für die Ernährungssicherung der Zukunft.
Lage und Zukunft der Welternährung
Die Versorgung der gesamten Bevölkerung eines Landes mit ausreichender Nahrung ist auch in den Industrieländern eine moderne Errungenschaft. In den sich entwickelnden Ländern leiden viele Menschen noch immer unter permanentem Mangel wie auch unter akuten Hungersnöten, die durch natürliche Katastrophen und politische Krisen hervorgerufen werden. Dabei geht es nicht nur um eine unzureichende Aufnahme von Kalorien. Ein weitgefaßter Begriff von Ernährungsunsicherheit umfaßt auch die Fehl- und Unterernährung als Folge vielfältiger Nährstoffdefizite wie Vitamin- und Mineralstoffmangel, meist verbunden mit Gesundheitsproblemen; diese Form wird als versteckter Hunger bezeichnet. Die Verbesserung von Grundnahrungsmitteln durch Züchtung und Biotechnologie, die auch Armen zur Verfügung stehen, schließt deshalb in jüngster Zeit zunehmend Aspekte der Nahrungsqualität mit ein, die über die rein mengenmäßige Ertragssteigerung hinausgehen.
Wichtige Fakten zur Lage der Ernährungs(un)sicherheit sind die folgenden: Der Anteil der Hungernden an der Bevölkerung der Entwicklungsländer ist in den beiden vergangenen Jahrzehnten bis Anfang der neunziger Jahre von 36 auf 20 Prozent gesunken. Allerdings ist gleicherweise zu vermerken, daß immer noch etwa 840 Millionen Menschen unter gravierenden Defiziten von Grundnahrungsmitteln (Kalorien) leiden, also hungern.
Defizit an Vitamin A, das außer anderen Gesundheitsschäden Sehstörungen bis zur Erblindung auslösen kann, ist ein Problem in mindestens 60 Ländern, wo insgesamt etwa 40 Millionen Kinder darunter leiden. Von Joddefizit sind schätzungsweise 29 Prozent der Weltbevölkerung betroffen. Fast zwei Milliarden Menschen haben Eisenmangel, der Anteil der Frauen ist besonders hoch.
Die Zahl der unterernährten, untergewichtigen Kinder beträgt etwa 190 Millionen und geht nur sehr langsam zurück. Der relative Anteil von unterernährten Kindern in Entwicklungsländern ist in den letzten 20 Jahren beachtlich gesunken, aber Ernährungsprobleme sind die Ursache von etwa 55 Prozent der hohen Kindersterblichkeit in Entwicklungsländern. Rund die Hälfte der unterernährten Kinder lebt in Südasien (Indien, Bangladesch, Pakistan, Nepal, Sri Lanka) und fast ein Drittel in Afrika südlich der Sahara. Dort hat die Anzahl der unterernährten Kinder in den letzten Jahren in einer Reihe von Ländern sogar wieder zugenommen.
Akute Hungersnöte sind in den neunziger Jahren bisher weniger häufig aufgetreten als in den siebziger und achtziger Jahren und waren weitgehend auf Afrika südlich der Sahara beschränkt. Frühwarnsysteme, nationale Programme zur Abwendung von Hungersnöten und verbesserte Koordination der externen Hilfe haben dazu beigetragen. Allerdings existiert Hunger im Kontext komplexer Krisen mit dramatischen humanitären Konsequenzen vor allem in Regionen mit kriegerischen Auseinandersetzungen weiterhin.
Es reicht nicht, den gerade diagnostizierten Hunger zu bekämpfen. Die Politik zur Ernährungssicherung muß präventiv sein. Es hängt entscheidend vom politischen Handeln ab, wie sich die Weltversorgungs- und Welternährungssituation in Zukunft entwickeln wird. Im Rahmen der "2020 Vision Initiative for Food, Agriculture, and the Environment" des International Food Policy Research Institute (IFPRI) in der US-Bundeshauptstadt Washington, eines Zusammenschlusses von Wissenschaftlern, Politikern und Entscheidungsträgern der internationalen Entwicklungskooperation, ist ein Analysesystem zur Abbildung von Zukunftsszenarien der Welternährung unter unterschiedlichen Politikbedingungen entwickelt und angewandt worden.
Der Vergleich von zwei Szenarien zeigt die Bedeutung von verantwortungsbewußter Politik. Ein – hoffentlich nicht eintretendes – pessimistisches Szenario, bei dem den gegenwärtigen Trends folgende niedrige Agrarinvestitionen sowie niedrige Investitionen in Gesundheit und Bildung bei niedrigem nicht landwirtschaftlichem Wachstum unterstellt sind, resultiert in zunehmender Unterernährung von Kindern und kaum verbesserter Versorgungslage bei Grundnahrungsmitteln in Entwicklungsländern. Das durchaus realisierbare alternative Szenario, bei dem erhöhte Investitionen in landwirtschaftliche Entwicklung sowie in Gesundheit und Bildung unterstellt sind und bei dem die Wachstumsentwicklung in den Entwicklungsländern im Vergleich zu einem Trendszenario zunimmt, halbiert die Zahl der Unterernährten. Demnach wäre eine Weltgetreideproduktion mit zusätzlich mehr als einer Milliarde Tonnen zu erwarten (1996 produziert die Welt rund 1,8 Milliarden Tonnen). Die zusätzliche Menge würde auch überwiegend in den Entwicklungsländern erzeugt.
Die komplexen Ursachen von Hunger
Die Theorie der Ernährungssicherung erlaubt keine monokausale Erklärung. Konzeptionelle Klarheit ist Voraussetzung für die effektive und effiziente Bekämpfung des Hungers. Die wissenschaftliche Bearbeitung des Problems in den vergangenen beiden Jahrzehnten kann mit politikrelevanten Einsichten aufwarten, die eine effektivere und effizientere Bekämpfung des Hungers ermöglichen. Verbreitete Vorstellungen lauten, daß der Hunger nur ein Verteilungsproblem sei oder daß er heute nur noch wegen der kriegerischen Auseinandersetzungen existiere; sie gehen jedoch an der Realität des existierenden Hungers wie auch an den Herausforderungen der Zukunft vorbei.
Die Beziehungen zwischen Bevölkerungswachstum und Ernährungssicherung sind gleichfalls komplex. Es geht nicht nur darum, die beiden einander beeinflussenden dynamischen Faktoren auszutarieren; denn Bedingungen, die heute die Ernährungslage verbessern, reduzieren das künftige Bevölkerungswachstum. Hunger- und Armutsbekämpfung tritt bestenfalls auf der Stelle, wenn makroökonomische Rahmenbedingungen und Handelsbehinderungen einem Wirtschaftswachstum im Wege stehen. Ursachen von Hunger und Ansatzpunkte zu seiner Bekämpfung sind auf verschiedenen, aber verbundenen Ebenen zu suchen.
Grundlegende politische und natürliche Ursachen sind Politikversagen (also verfehlte wirtschafts- und sozialpolitische Strategien sowie Diskriminierung und kriegerische Auseinandersetzungen), Knappheit an natürlichen und Humanressourcen, Bedingungen, die Krisen heraufbeschwören (zum Beispiel Dürren), sowie rasches Bevölkerungswachstum.
Dabei spielen institutionelle, organisatorische und strukturelle Konditionen eine Rolle. Dazu gehören Stand, Entwicklung und Einsatz des technologischen Wissens und der Infrastruktur, insbesondere in der Landwirtschaft und im ländlichen Raum, sowie das Rechtssystem, der Zugang zu und die Verteilung von Vermögenswerten, insbesondere Land, und auch die Funktionsweise und Effizienz von Systemen der sozialen Sicherung, von Finanzsystemen und öffentlichen Dienstleistungen für Gesundheit und Bildung.
Bedeutend sind des weiteren die Funktionsweisen von Märkten, vor allem für Nahrungsmittel, für Güter, die in hohem Maße von Armen produziert werden, sowie von Märkten für Arbeit. Die Hungernden haben oft keine oder nur unzureichend entlohnte Arbeitsmöglichkeiten.
Schließlich sind auch die Bedingungen auf und innerhalb der Haushalts- und Familienebene relevant, wo sich die Verfügbarkeit von Nahrung als Ergebnis des Standes der Technik (besonders in der Landwirtschaft) und der Funktionsweisen von Märkten niederschlägt. In der Familie entscheiden das Einkommen, die Ressourcen und die Preise, ob ausreichend Nahrung zur Verfügung stehen kann; und hier bedingen auch Verhaltensweisen und Wissen die tatsächliche Nutzung und Verteilung von Nahrungsmitteln im Haushalt. Wie die einzelnen Haushaltsmitglieder ernährt werden, das hängt wesentlich mit von der Rolle von Frauen und Kindern in einer Gesellschaft ab; sie ist relevant dafür, wie sich erhöhte Nahrungsknappheiten auf einzelne Mitglieder der Haushalte auswirken.
Diese Ursachenbündel verdeutlichen, daß das Ernährungsproblem mit einem vielschichtigen Portfolio von Maßnahmen anzugehen ist. Ein allein agrarisches Programm wäre verfehlt. Allerdings ist seit den achtziger Jahren die Schlüsselrolle von Landwirtschaft und ländlicher Entwicklung für die Überwindung des Hungers unterbewertet worden.
Zukunftsfähige Technologie in der Landwirtschaft
Die heute auch in Schulbüchern behandelte sogenannte Grüne Revolution steht für ein Technologiepaket, das auf hochertragreiche Sorten vor allem von zwei Nutzpflanzen – nämlich Reis und Weizen – setzte. Zu diesem Paket gehören gesteuerte Wasserversorgung, Dünger, Pflanzenschutz und die Förderung der Fähigkeiten von Betriebsleitern. Der Einsatz dieses Paketes auf dafür geeignetem Boden im passenden sozioökonomischen Rahmen ermöglichte hauptsächlich in Asien sehr viel höhere Ernten. Die Erträge von Reis, Weizen und auch Mais verdoppelten sich ungefähr in den letzten dreißig Jahren.
Die günstigen indirekten Wirkungen der Grünen Revolution auf das wirtschaftliche Wachstum und die Beschäftigung im ländlichen Raum und die Reduzierung der Armut werden oft unterschätzt. Das Entstehen von Unternehmen, die Dienstleistungen für den landwirtschaftlichen Sektor boten, hatte Wachstum und Beschäftigung in nachgelagerten und außerlandwirtschaftlichen Sektoren zur Folge. Begleitende öffentliche Investitionen in die Infrastruktur trugen ebenfalls zur Entwicklung der ländlichen Regionen bei. Für viele Jahre waren der Weizen- und der Reispreis auf dem Weltmarkt niedrig genug, um billige Nahrung für die Masse der städtischen Armen in den sich entwickelnden Nationen anzubieten.
Während die Produktivitätsgewinne bei Weizen und Reis in Asien herausragend waren, blieben sie in anderen Teilen der Dritten Welt wesentlich bescheidener. Besonders in Afrika hat es keine großräumige Anwendung der Grünen Revolution gegeben, da die Forschung ihre Anstrengungen auf die global wichtigen Nutzpflanzen Weizen und Reis konzentriert und die weniger bedeutenden afrikanischen Nutzpflanzen noch nicht ins Auge gefaßt hatte. Eine Ausnahme bildet der Mais. Zudem waren die infrastrukturellen und politischen Voraussetzungen für den Einsatz des einfach anwendbar scheinenden Technologiepakets besonders in Afrika ungünstig.
Es gab jedoch auch eine Kehrseite der Grünen Revolution, und diese hat sich bei vielen Beobachtern stärker eingeprägt als der Erfolg. Die hochertragreichen Sorten bestanden aus genetisch gleichförmigem Saatgut, das die traditionellen diversen Sorten verdrängte, weil es für die Bauern vorteilhafter war. Die mit dem neuen Saatgut bestellten Reis- und Weizenfelder waren teilweise anfälliger gegen Schädlinge und Krankheiten. Die Bewässerung der neuen Sorten verlangte Fähigkeiten, die viele Bauern und politische Entscheidungsträger überforderte. Versalzung und Alkalisierung der Böden waren besonders in Südasien verbreitet, weil die Forschungsgrundlagen zur Korrektur dieser negativen Bewässerungsfolgen noch nicht vorhanden waren.
Viele dieser Probleme sind inzwischen erkannt, aber damit noch nicht aus der Welt geschafft. Es ist nicht möglich, eine Technologie sachgerecht statisch und kurz nach Einführung zu beurteilen. Auch die Folgen der Grünen Revolution wurden erst im Laufe ihrer Entwicklung gesehen. Heute haben sich entsprechende verkürzte Kritiken festgesetzt und zur Technikaversion beigetragen. Indes wirkten die frühen Probleme (und deren deutliche Artikulation) aber katalytisch für die Entwicklung technologischer Korrekturen, insbesondere neuer Schädlingsbekämpfungsmethoden, die Mensch und Umwelt schützen, und verstärkten die Aufmerksamkeit für Folgen genetischer Uniformität.
Vielfalt der Kulturpflanzen und langfristige Ernährungssicherung
Die Bedingungen für den Zugang zu und die Nutzung von genetischen Ressourcen für die Landwirtschaft und Ernährung werden aus mehreren Gründen zunehmend zu einem relevanten Thema. Neue Möglichkeiten der Biotechnologie erhöhen die Nachfrage. Die Rechtslage in Sachen Eigentum an diesen Ressourcen hat sich gewandelt: Seit dem Umweltgipfel in Rio de Janeiro 1992 gilt das Eigentum der Länder. Abnehmende biologische Vielfalt und die Anerkennung ihres Wertes lassen Risiken und Knappheiten erkennbar werden. Und schließlich steht die Welt weiterhin vor der enormen Herausforderung, in den kommenden Jahrzehnten die sich absolut rasch erhöhende Weltbevölkerung von konstanten Bodenressourcen mit nachhaltiger neuer Technologie zu ernähren.
Der Stand und die Veränderung der biologischen Vielfalt der Kulturpflanzen beruhen auf einem evolutionären Prozeß, resultierend aus natürlicher Mutation und menschengemachter Selektion. So ist beispielsweise die genetische Diversität von Mais in manchen Gebieten Afrikas höher als in den zentralamerikanischen Ursprungsregionen. Die Variation einer Sorte kann im Zeitablauf durch züchterisches Interesse zunehmen und durch Vernachlässigung in der Zucht, zum Beispiel wegen geringerer Nachfrage der Bauern nach bestimmten Sorten, abnehmen. Durch erneutes züchterisches Interesse kann die genetische Variation innerhalb einer Sorte jedoch wieder wachsen, sofern nicht eine kritische Populationsgröße bereits unterschritten wurde. Weil jedoch die genetische Variation dynamischen Prozessen unterliegt und wir über das Ausmaß früherer und auch heutiger genetischer Vielfalt der Kulturpflanzen zu wenig wissen, läßt sich über die Verluste letztendlich nur spekulieren. Möglich sind jedoch fundiertere Aussagen über die Ausdehnung beziehungsweise Reduzierung des Anbaus spezifischer Sorten und Kulturarten seit Beginn dieses Jahrhunderts in einigen Ländern.
Seit den dreißiger Jahren werden pflanzengenetische Ressourcen gesammelt und in Genbanken konserviert. Der Höhepunkt dieser – unter dem Eindruck dramatischer Verluste – unkoordinierten und auch unkontrollierten Sammelaktivitäten fiel in die siebziger und frühen achtziger Jahre. Zu Beginn der siebziger Jahre existierten weniger als zehn Genbanken mit insgesamt etwa 500000 Sammelproben. Inzwischen sind mehr als 1300 Genbanken registriert mit insgesamt etwa sechs Millionen Proben.
Inwieweit diese Zahl die in der Landwirtschaft genutzten Sorten vollständig repräsentiert, ist ebenso wie die Verlustrate der genetischen Ressourcen Spekulation. Es wird vermutet, daß durchschnittlich mehr als 80 Prozent der traditionellen Sorten von Getreide durch Proben in den Genbanken vertreten sind (von Weizen 95 Prozent der traditionellen Sorten, von Reis insgesamt 95 Prozent). Wesentlich geringer und auch ungenauer sind die Schätzungen für Wurzel- und Knollenfrüchte sowie für Hülsenfrüchte (50 bis 80 Prozent). Die Einlagerung der wildwachsenden Verwandten unserer Kulturpflanzen ist bis auf den heutigen Tag stark vernachlässigt worden (von Weizen etwa 60 Prozent, von Reis lediglich 10 Prozent).
Auch wenn - besonders bei Getreide - die Einlagerungsrate ausgesprochen hoch ist, darf man nicht unterstellen, daß die durch die Proben repräsentierten Sorten auf lange Sicht gesichert seien. Durch Infrastrukturmängel, fehlende Informationen und finanzielle Engpässe können ebenso wie durch ungenügende Regeneration und zu häufige Multiplikation einer ungenügend großen Probe einmalige Sorten verlorengehen.
Biotechnologie, ein expandierender Bereich des zivilisatorischen Fortschritts, und Pflanzenvielfalt, ein durch Verknappung kostbarer werdendes Umweltgut, stehen in komplexer Beziehung zueinander: Pflanzenvielfalt ist der Rohstoff der Biotechnologie-Wirtschaft, und Biotechnologie ist potentieller Anreiz für die Erhaltung der Pflanzenvielfalt. Durch die Akkumulation von Wissen ist eine exponentielle Dynamik in der Forschung und Entwicklung der Biotechnologie entstanden. Vor fünf Jahren existierten fast noch keine gentechnisch veränderten Pflanzen, heute gibt es sie in verschiedenen Entwicklungsstadien. Auch wenn derzeit erst wenige gentechnisch veränderte Pflanzenarten kommerziell in signifikantem Maße eingesetzt werden, so sind doch viele - vor allem mit dem Ziel der Herbizid- und Insektenresistenz – bereits in verschiedenen Stadien der Entwicklung.
Es wird wohl kaum ein absoluter Verdrängungsprozeß stattfinden, sondern es ist zu erwarten, daß die konventionellen um die biotechnologischen Zuchtverfahren ergänzt werden. Erfolge der Pflanzenzucht in der Überwindung biotischer Stressfaktoren wie Schädlinge oder Krankheiten werden sich vermutlich dabei eher einstellen als solche bei abiotischen Stressfaktoren wie Dürre oder Kälte, die schließlich stärker zu einer nachhaltigen Produktionssteigerung an marginalen Standorten beitragen könnten.
Mögliche Erfolge des Welternährungsgipfels
Würde der Welternährungsgipfel erfolgreich, machte er – anknüpfend an die globalen humanitären, ökologischen und sozialen Programme relevanter Vorläufer-Konferenzen – endlich den Hunger zum Thema und könnte fünf Ergebnisse aufweisen:
- Aufmerksamkeit der Entscheidungsträger für das tatsächliche Ausmaß der Ernährungsprobleme heute und in den kommenden Jahrzehnten;
- Konsens über eine sachgerechte Einschätzung der wichtigsten Ursachen der Welternährungsprobleme und über Strategien zur Beendigung des Hungers;
- quantifizierte und klar definierte Ziele der Reduzierung von Hunger und Unterernährung in bestimmten Zeitabschnitten;
- Mechanismen, also Mittel und organisatorische Regelungen auf internationaler und nationaler Ebene, die zum Erreichen der Ziele erforderlich sind, und
- eine glaubwürdige, das heißt unabhängige Überprüfung der Gipfelbeschlüsse in den Jahren danach mit laufender Berichterstattung sowie Sanktionsmechanismen, wenn zum Beispiel Mittel aus internationalen Fonds zur Ernährungsverbesserung nicht effizient und sachgerecht eingesetzt werden.
Das erstgenannte Ergebnis dürfte in gewissem Grade erzielt werden. Nichtregierungsorganisationen spielen dabei eine wichtige Rolle. Die den Gipfel ausrichtende Food and Agriculture Organization der Vereinten Nationen (FAO) stellt dazu die wichtigsten Hintergrundinformationen bereit. Ihr Informations- und Statistikapparat ist im übrigen eine der Stärken der Organisation.
Das zweite Ergebnis droht im Rahmen der laufenden Erörterungen der auf dem Gipfel zu beschließenden "Politischen Erklärung" und des "Aktionsplanes" zu einem generellen Minimalkonsens zerredet zu werden. Bekämpfung des Hungers erfordert vor allem Initiative auf nationaler Ebene, die international durch freien Handel, Stärkung der Rechte der Hungernden, Bereitstellung von Kenntnissen und Ressourcen unterstützt werden muß.
Das dritte Ergebnis wird buchstäblich ausgeklammert. Die vorläufige Fassung der Politischen Erklärung und des Aktionsplanes enthält Hunderte von eingeklammerten Textstellen, die noch zwischen den Regierungen zu verhandeln sind.
Das vierte Ergebnis ist schon am Ausgangspunkt des Gipfelprozesses weitgehend ausgeschlossen worden: Die Konferenz in Rom soll nicht neue Finanzierungsmechanismen einführen oder weitere Institutionen schaffen.
Damit droht auch das fünfte Ergebnis obsolet zu werden; denn wenn keine klaren Ziele formuliert werden, kann man sie auch nicht künftig wirksam weiterverfolgen. Aber Entscheidungen könnten durchaus noch getroffen werden. Schließlich ist der Hunger in vielen Ländern mit dem Gipfel zur Chefsache erklärt worden.
Die Bedeutung günstiger gesamtwirtschaftlicher Rahmenbedingungen und moderner landwirtschaftlicher Technologien als Grundvoraussetzungen für die Hungerbekämpfung zu betonen ist zwar unerläßlich, auf deren langfristige Wirkung kann aber nicht gewartet werden. Es besteht die Notwendigkeit und die Möglichkeit, den Hunger durch Programme gezielt zu reduzieren, um sich der Vision einer ausreichend ernährten Menschheit beschleunigt anzunähern. Drei erfolgreiche Programmtypen, die in den achtziger und neunziger Jahren erprobt wurden und inzwischen breite Resonanz gefunden haben, sollen kurz skizziert werden. In allen drei Fällen sind die Hungernden selbst Akteure:
- Beschäftigung gegen Hunger. Am Unterbeschäftigungsproblem der Hungernden setzen Programme an, die zusätzliche produktive Beschäftigung bereitstellen. Sie sind im Vergleich zur schlichten Verteilung von Nahrungsmitteln attraktiv, da sie kurzfristige Hungerbekämpfung mit dem Schaffen langfristig produktiver Güter verbinden; Beispiele sind Infrastruktur, Wasserbau, Erosionsschutz und Aufforstung. Solche Programme haben sich in den achtziger Jahren weltweit in Regionen mit niedrigem Einkommen bewährt, und zwar mit besonderem Erfolg in China, in Botswana, im Sahel und in Äthiopien. Der vorläufige Aktionsplan des Welternährungsgipfels weist auf die Vorteile dieser Programme hin.
- Arme-Leute-Banken zur Ernährungssicherung.. Hunger tritt oft saisonal auf, zum Beispiel vor der nächsten Ernte oder in Krisenzeiten. Wer dann keine liquiden Mittel hat, ist besonders verletzlich. Wenn Arme Kreditzugang hätten, könnten sie sich in solcher Lage selbst helfen. Die Vorstellung, Arme könnten nicht sparen und ihre Rückzahlungsmoral sei schlecht, ist weit verbreitet, aber falsch, wie neue Formen der Organisation von Sparen und Kreditvergabe für Arme und mit Armen zeigen. Diese Neuerung ist unter anderem auf die pionierhafte Grameen Bank in Bangladesch zurückzuführen. Inzwischen ist das Grameen-Bank-System von Millionen Armutshaushalten in Bangladesch positiv aufgenommen und umgesetzt worden. In anderen Ländern Asiens ist das Programmkonzept in den achtziger Jahren mit ähnlichem Erfolg in großem Stil eingeführt worden und expandiert in Afrika und Lateinamerika.
- Integrierte Ernährungsprogramme.. Die Bevölkerung wird auf kommunaler Ebene zur Selbsthilfe mobilisiert, um Unterernährung zu bekämpfen. Ernährungsprobleme werden identifiziert mittels kontinuierlicher Beobachtung von Risikogruppen, insbesondere Kindern, die gewogen, gemessen und gesundheitlich untersucht werden. Identifizierte Fehl- und Unterernährte werden gezielt mit Nahrung und Nährstoffen versorgt. Im Dorf wird eine Ernährungs- und Gesundheitsberatung eingerichtet, gestärkt durch Frauengruppen und Beratungspersonal. Integrierte Ernährungsprogramme dieser Art haben dazu beigetragen, daß Unterernährung in Thailand in den achtziger Jahren vollständig überwunden und in Tamil Nadu in Indien innerhalb von vier Jahren immerhin halbiert werden konnte.
Die drei skizzierten erfolgreichen Programmtypen sind eng auf die Zielgruppe der Hungernden beziehungsweise Armen ausgerichtet; sie haben deren Partizipation gefördert und marktwirtschaftliche Anreize genutzt. Effektive Hungerbekämpfung muß sich außer der Agrarförderung eines so breiten Instrumentariums bedienen wie in den genannten Programmen beschrieben. Daraus resultiert ein Dilemma für die agrarisch orientierte FAO, die den Gipfel ausrichtet: Erforderlich ist eigentlich ein mit anderen Organisationen sorgfältig abgestimmtes Vorgehen; aber sowohl im UN-System als auch zwischen Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen, die sich mit Hungerbekämpfung befassen, ist die Koordination immer noch unbefriedigend.
Bezug zur Leipziger Konferenz
Durch den von der FAO in Leipzig vorgelegten globalen Sachstandsbericht ist deutlich geworden, wie wichtig Maßnahmen zur Erhaltung und Nutzung pflanzengenetischer Ressourcen sind. Der Verlust an solchen Ressourcen wie auch die bislang unkoordinierten Konservierungsmaßnahmen erfordern abgestimmtes Vorgehen auf nationaler wie auch internationaler Ebene. Repräsentanten von 150 Staaten und 54 Organisationen haben sich dazu in Leipzig im Juni dieses Jahres verpflichtet. Der dort verabschiedete erste Globale Aktionsplan stellt einen Rahmen für die unterschiedlichsten Aktivitäten dar. Die Ziele sind, damit generell die Grundlagen für Ernährung und Landwirtschaft sicherzustellen, Hunger und Armut besonders in Entwicklungsländern zu reduzieren, eine gerechte Verteilung des aus pflanzengenetischen Ressourcen erwachsenden Nutzens zu fördern, Länder und Institutionen im Setzen von Prioritäten zu unterstützen und besonders nationale, aber auch regionale und internationale Programme zur Erhaltung und Nutzung pflanzengenetischer Ressourcen sowie institutionelle Kapazitäten zu stärken.
Diese Ziele zählen zu den Grundvoraussetzungen langfristiger Ernährungssicherung. Der Aktionsplan des Gipfels in Rom müßte somit eine Aufforderung zur Umsetzung der Ziele von Leipzig beinhalten, wenn es Schritt für Schritt zielgerichtet weitergehen soll. Dies ist aber noch keineswegs eine beschlossene Sache.
Nach dem Globalen Aktionsplan von Leipzig sollen unter anderem die Konservierung und Entwicklung der pflanzlichen Vielfalt im Feld die bislang dominierende Erhaltung in der Genbank ergänzen. Außerdem muß das Angebot an pflanzengenetischen Ressourcen durch Aufbereitung für Züchter attraktiver gestaltet werden.
Die Implementierung des Globalen Aktionsplans sowie andere Folgeprozesse sollen die FAO-Mitgliedsstaaten und involvierte Organisationen durch eine spezielle Kommission leiten und beobachten. Die Staaten wollten sich allerdings nicht verpflichten, zusätzliche finanzielle Mittel für die Implementierung zur Verfügung zu stellen. Dabei muß jedoch bedacht werden, daß der Globale Aktionsplan zwar ein wichtiges, aber nicht das einzige Instrument ist. Ein weiteres, über das in Rom verhandelt wird, ist eine Regelung, wie Interessenten freien Zugang zu pflanzengenetischen Ressourcen innerhalb eines multilateralen Systems bekommen können und im Austausch dafür die Anbieter an dem Nutzen zu beteiligen sind. Das wird stärkeres finanzielles Engagement der Nachfrager stimulieren. Aufgrund eines solchen Abkommens in Einklang mit anderen internationalen Übereinkünften, die den Handel und Eigentumsrechte betreffen, können die notwendigen neuen Schritte zur Erhaltung und Nutzung genetischer Ressourcen vollzogen werden.
Die Vision einer Welt ohne schwerste Armut und Hunger ist nicht unrealistisch, aber noch lange nicht realisiert. Die Herausforderung, intelligente Lösungen des Ernährungsproblems zu finden und rasch umzusetzen, bleibt immens, insbesondere wenn dabei die natürlichen Ressourcen nachhaltig genutzt werden sollen. Der Konflikt zwischen den Zielen‰ die Welternährung zu sichern und die Natur zu erhalten, läßt sich überwinden, wenn es schnell gelingt, zusammen mit den Armen die armutsbedingten Umweltprobleme zu bekämpfen.
Sowohl die in Leipzig beschlossenen wie die von der Konferenz in Rom zu erwartenden Aktionen bewirken allerdings zuwenig, solange nicht genug Geld dafür bereitgestellt wird. Die Überwindung des Hungers ist nicht nur ein Problem von mangelndem Wissen und unzureichender Technologie, sondern im Kern ein Problem von Politik und Macht sowie der Bereitschaft zum Teilen. Auch hier kann der Welternährungsgipfel neue Akzente setzen.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 1996, Seite 76
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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