Dendrimere - neue Sterne am Himmel der Chemie?
Im Bereich zwischen klassischer organischer Chemie und Polymerchemie bilden die kugelförmigen, in sich verzweigten Dendrimere einen fließenden Übergang, der wachsendes - auch interdisziplinäres - Interesse findet.
Dendrimere sind verästelte molekulare Strukturen, die äußerlich an Eiskristalle, Weihnachtssterne oder Baumkronen erinnern. Ihr Name (zusammengezogen aus griechisch dendron, Baum, und Polymer) spielt denn auch – ebenso wie die Bezeichnung Arborole (nach lateinisch arbor, Baum), die gleichfalls gelegentlich in der Literatur auftaucht – auf dieses charakteristische Aussehen an. Dagegen weist der Ausdruck Kaskadenmoleküle auf die besondere Art ihrer Synthese hin, bei der sich die einzelnen Schritte in einer Art Kettenreaktion mehrfach wiederholen.
Herstellung
Eine solche Synthesefolge, die zunehmend verzweigte Moleküle ergibt, hat Fritz Vögtle an der Universität Bonn schon 1978 erstmals vorgestellt. In der Folgezeit erzeugte man zunächst ausschließlich organische Dendrimere auf Kohlenstoffbasis. Seit Beginn der achtziger Jahre werden aber auch Elemente wie Phosphor oder Silicium zum Aufbau genutzt. Einen Glanzpunkt setzten in diesem Jahr Jeffrey S. Moore und Zhifu Xu an der Universität von Michigan in Ann Arbor mit der Synthese des größten bekannten reinen Kohlenwasserstoffs; er besteht aus 1134 Kohlen- und 1146 Wasserstoffatomen und hat ein Molekulargewicht von 14|||776.
Bislang gibt es zwei grundsätzlich verschiedene Synthesemethoden für Dendrimere. Bei der einen wird das Molekül divergent aufgebaut, das heißt, von einer Kerneinheit nach außen (Bild 1). Mit jeder Umsetzung aller Reaktionszentren in der Peripherie entsteht dabei eine neue konzentrische Schicht, die als Generation bezeichnet wird. Infolge des Verzweigungskonzeptes nehmen die peripheren Reaktionszentren mit den Generationen exponentiell zu, bis ihre Dichte so groß geworden ist, daß neue Äste keinen Platz mehr finden – man spricht vom kritischen Verzweigungszustand. Dann läßt sich keine weitere Schale mehr anbringen: Die Moleküle haben ihre maximale Große erreicht.
Nach diesem Verfahren hat Donald A. Tomalia von der Dow Chemical Company in Midland (Texas) 1980 die von ihm "Starburst-Dendrimere" genannten Verbindungen hergestellt. Es weist allerdings einen wesentlichen Nachteil auf: Wenn nicht in jeder Generation sämtliche Verknüpfungspunkte mit dem nächsten Bauteil reagieren, ergeben sich tote Äste, und Dendrimere mit solchen Fehlstellen lassen sich nach der Synthese kaum mehr von den perfekt aufgebauten abtrennen.
Als alternative Strategie hat Jean M. J. Fréchet von der Cornell-Universität in Ithaca (US-Bundesstaat New York) daher die konvergente Synthesemethode entwickelt. Dabei wird das Dendrimer von der Peripherie her aufgebaut und die Kerneinheit zuletzt eingefügt (Bild 2). Um im Bild zu bleiben, fängt man bei den Zweigen an, baut daraus die Äste und setzt diese schließlich zur fertigen Baumkrone zusammen. Bei dieser Methode unterscheiden sich unvollständige und perfekte Moleküle in jedem Schritt deutlich in der Größe und lassen sich dadurch jeweils relativ leicht aussortieren.
Anwendungen
Auf den ersten Blick könnten Dendrimere als reine Spielerei erscheinen: die Verwirklichung des Fraktalkonzeptes in der Chemie. Die kuriosen Moleküle haben jedoch eine Fülle ungewöhnlicher Eigenschaften, die interessante Anwendungsmöglichkeiten eröffnen. Wegen ihrer kugelförmigen Gestalt zeichnen sie sich beispielsweise durch eine sehr geringe Viskosität aus. Im Vergleich zu den linearen Polymeren sind sie deshalb leichter zu verarbeiten.
Zugleich bilden sie mit ihrem Labyrinth aus Hohlräumen und der zerklüfteten Oberfläche eine Art molekularen Schwamm, der kleinere Moleküle aufnehmen und bei Bedarf in langsamer, kontrollierter Weise wieder abgeben kann. Diese Eigenschaft ließe sich beispielsweise für den gezielten Transport und die dosierte Freisetzung von Medikamenten im Körper nutzen. Man untersucht auch, inwieweit sich Dendrimere aus Polyaminosäuren als Gerüste für antigene Strukturen eignen, die möglicherweise als Impfstoffe dienen können. Andererseits könnten Dendrimere bei großtechnischen Synthesen ähnlich wie Zeolithe – Minerale mit definierten Hohlräumen – als Katalysatoren wirken, die selektiv bestimmte Stoffe aufnehmen und miteinander zur Reaktion bringen.
Des weiteren lassen sich an der kugelförmigen Oberfläche chemische Gruppen mit bestimmten Eigenschaften anfügen – beispielsweise hydrophile (wasserliebende) Carboxylat-Gruppen, die das verzweigte Kaskadenmolekül wasserlöslich machen. Wie George R. Newkome von der Lousiana State University in Baton Rouge zeigte, verhalten sich solche Dendrimere wie Micellen. Das sind kugelförmige Aggregate, die spontan entstehen, wenn man lineare Moleküle, die am einen Ende hydrophil und am anderen hydrophob (wassermeidend) sind, in ein wäßriges Medium bringt; die Moleküle stecken dann gewissermaßen die hydrophoben Enden zusammen und strecken die hydrophilen Köpfe nach außen ins Wasser.
Micellen können nicht wasserlösliche, fettartige Substanzen umschließen und sie so in Lösung bringen (darauf beruht größtenteils die Wirkung von Seifen und Waschmitteln). Da sie ein lockerer Verbund sind, finden in einem dynamischen Gleichgewicht unablässig Austausch- und Reorganisationsprozesse statt, die Aufbau und Größe der einzelnen Aggregate ändern. Dendrimer-Micellen sind dagegen festgefügte Moleküle definierter Zusammensetzung und einheitlicher Größe, die über chemische Bindungen zwischen den Atomen zusammengehalten werden. Dies sollte ihnen besonders günstige Eigenschaften verleihen.
Andererseits können die Carboxylat-Endgruppen auch Metall-Ionen an sich binden und so Polymetallkomplexe bilden, die 60 und mehr Metallatome pro Dendrimer enthalten. Dies ist für die Abwasserreinigung von großem Interesse; denn damit lassen sich einer Lösung sehr effizient beispielsweise giftige Schwermetalle entziehen.
Einige Dendrimere sind selbst bereits durch das Ankoppeln von stickstoffhaltigen Kohlenwasserstoffen an Metall-Ionen aufgebaut. Ein Beispiel ist ein jüngst von italienischen Wissenschaftlern synthetisierter Komplex, der 22 Ruthenium-Ionen enthält. Interessanterweise zeigen solche Metallkomplexe bei Anregung Leuchteffekte; aufgrund dieser Lumineszenz könnten sie als photochemische molekulare Funktionselemente dienen.
Der industrielle Einsatz der Dendrimere ist allerdings dadurch behindert, daß sie sich wegen ihrer vielstufigen Synthese derzeit noch nicht in großen Mengen herstellen lassen und folglich relativ teuer sind. Deshalb sucht man intensiv nach Wegen, die Herstellung zu vereinfachen. Dabei erwies sich die Idee, die Kerneinheiten an einen polymeren Träger zu binden und alle nachfolgenden Reaktionen an diesen gebundenen Zentren ablaufen zu lassen, in ersten Versuchen als erfolgversprechend. Sukzessive kann so Schale um Schale angefügt werden, ohne daß die Zwischenstufen isoliert werden müßten. Überschüssige Reagenzien lassen sich einfach auswaschen, und auch die Reinigung des gewünschten Produktes ist vergleichsweise einfach. Vorbild war hier die Peptidchemie, bei der die Synthese von Eiweißstoffen an Trägersubstanzen mit der sogenannten Merrifield-Technik seit langem vollautomatisch durchgeführt wird.
Eine andere Möglichkeit, die Synthese zu vereinfachen, besteht darin, sie nicht sukzessive, sondern als Eintopf-Polymerisation in einem Schritt durchzuführen. Dabei kann man in der Kunststoffchemie erprobte Verfahren anwenden. Beispielsweise erzeugte Lou J. Mathias von der University of Southern Mississippi in Hattiesburg Dendrimere durch radikalische Polymerisation, mit der Kunststoffe wie Polystyrol industriell hergestellt werden. Bei dieser Methode muß man freilich in Kauf nehmen, daß ein Gemisch von Verbindungen entsteht, die sich in Größe und Verzweigungsgrad unterscheiden. Dennoch gehen erwünschte Eigenschaften der Dendrimere nicht verloren: So sind auch diese Produkte wie die perfekt aufgebauten oft gleichzeitig hochschmelzend und (anders als die meisten Polymere) gut löslich. Ein weiterer Schritt in Richtung klassischer Kunststoffe wäre die polymer-analoge Verknüpfung von Dendrimeren zu molekularen Perlenketten.
Inzwischen werden einige Dendrimere bereits kommerziell angeboten, und die Firma DSM in Galeen (Niederlande) vermag eines aus vier Generationen mit 32 Endgruppen im Kilogramm-Maßstab herzustellen. Da sich Größe und Struktur der dendritischen Verbindungen bereits kontrollieren lassen, sind wichtige Voraussetzungen erfüllt, sie für bestimmte Anwendungen maßzuschneidern. Wenn es gelingt, sie in größeren Mengen zugänglich zu machen und dabei die charakteristischen Eigenschaften zu erhalten, dürften sie mehr sein als Sternschnuppen, die zwar kurz Aufsehen erregen, dann aber schnell verglühen.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1993, Seite 26
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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