Wahrnehmung: Gefangen in der Unwirklichkeit
Mit einem Schlag war Julian Liebigs (Name von der Redaktion geändert) Welt wie ausgetauscht. Die Blumen im elterlichen Garten hatten ihre Farben verloren, die Bäume wirkten trostlos und zweidimensional. Die Welt schien ihm zu entgleiten. Am unheimlichsten jedoch war dieser Körper – sein Körper, der ihm plötzlich so fremd war. Der 19-Jährige sah zu, wie seine Füße ohne sein Zutun einen Schritt nach dem anderen gingen. Er fühlte sich wie in einem absurden Traum gefangen. Drei Jahre ist das nun her. Die Normalität ist nie wieder vollkommen zurückgekehrt. Doch inzwischen weiß er, dass sein Zustand einen Namen hat: Julian leidet an einer Depersonalisations-/Derealisationsstörung.
Betroffene fühlen sich wie ohnmächtige Beobachter ihres eigenen Lebens, wie in einem fremden Körper oder einer unwirklichen Welt (siehe "So fühlen sich Depersonalisation und Derealisation an", S. 75). Obwohl das Krankheitsbild bereits Mitte des 19. Jahrhunderts von den deutschen Ärzten Albert Zeller (1804–1877) und Wilhelm Griesinger (1817–1868) beschrieben wurde, führt es in der öffentlichen Wahrnehmung noch immer ein Schattendasein. In der Klassifikation psyhischer Störungen der Weltgesundheitsorganisation ICD-10 gilt das so genannte Depersonalisations-/Derealisationssyndrom als selten – doch das dürfte unter anderen daran liegen, dass es in der Praxis häufig verkannt wird. Tatsächlich ergeben Studien übereinstimmend, dass in den westlichen Ländern zwischen einem und zwei Prozent der Bevölkerung die Kriterien dieser psychischen Störung erfüllen. Das sind ebenso viele Menschen, wie an einer Schizophrenie leiden ...
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