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Depression: »Die Partner übernehmen häufig zu viel Verantwortung«

Eine Depression ist für eine Beziehung eine enorme Herausforderung. Wie man einen erkrankten Menschen am besten ­­unter­stützen kann, erklärt der Psychologe Guy Bodenmann.
Paar trennt sich

Professor Bodenmann, Depressive kommen ­morgens oft nicht aus den Federn. Darf man ihnen die Bettdecke wegziehen, um sie zum Aufstehen anzutreiben, oder sollte man sie aus Mitgefühl weiterschlafen lassen?

Weder noch. Um eine Depression zu überwinden, sollte man ins Tun kommen, was in der Regel voraussetzt, dass man am Morgen aufsteht. Die Decke wegzuziehen wäre aber zu rabiat. Wenn man mit einem depressiven Menschen liiert ist und diesen bei der Genesung unterstützen möchte, sollte man Verständnis zeigen für sein Leid und gleichzeitig motivierend einwirken, indem man ihn in Aktivitäten einbindet.

Guy Bodenmann

geboren 1962 in Bern, ist Professor für Klinische Psychologie an der Universität Zürich, wo er zu psychischen Störungen bei Paaren und »dyadischem Coping« forscht, dem Umgang mit Stress in Paarbeziehungen. Er ist Direktor der Praxisstelle für Paartherapie und Kinder- und Jugend­lichen-Psychotherapie am Psychotherapeu­tischen Zentrum der Universität Zürich sowie als Ausbilder und Supervisor tätig. In populärwissenschaftlichen Büchern gibt Bodenmann seine Forschungsbefunde an Paare und Familien weiter.

Was läuft andernfalls schief?

Es kommt vor, dass zu viel Zuwendung und Interesse an der Schilderung von Symptomen eine Abwärtsspirale in Gang setzt. Man fragt nach, wie es der Partnerin oder dem Partner geht, setzt sich ans Bett und hört zu. Empathie ist angebracht und wichtig. Doch das Mitgefühl darf nicht dazu führen, dass die erkrankte Person immer mehr klagt und immer länger im Bett bleibt. Angehörige schonen Depressive zudem, indem sie deren Aufgaben und bestimmte Tätigkeiten übernehmen. Beides ist problematisch und verstärkt die Depression – ­selektive Aufmerksamkeit auf die Symptomatik ebenso wie Schonung und Entlastung.

Man übernimmt für Depressive also Dinge wie Einkäufe und Kinderbetreuung?

Genau. Wer an einer Depression leidet, sollte soweit möglich trotzdem in Verantwortung eingebunden bleiben, etwas zu tun haben und soziale Kontakte pflegen. Bezugspersonen machen oft zu viel und erfinden mitunter sogar Ausreden für ihre Partner und Partnerinnen, damit diese etwa nicht zu Treffen mit Freunden oder bei der Arbeit erscheinen müssen. Man trägt also auf zwei Wegen zur Chronifizierung einer Depression bei: indem man Verhaltensexzesse wie ausgiebiges Klagen oder langes Schlafen unterstützt und Verhaltens­defizite wie reduziertes Interesse an Aktivitäten zulässt.

Wie findet man die Balance zwischen Verständnis und Motivierung?

Mit wohlwollender Beharrlichkeit. Ganz konkret bedeutet das, dass man die erkrankte Person in einem ersten Schritt abholt und Verständnis dafür zeigt, dass sie wenig Energie hat, sich schlecht fühlt und nicht aufstehen möchte. Im zweiten Schritt kann man der Partnerin oder dem Partner erklären, wie wichtig es ist, dass sie oder er aufsteht, weil die Depression sonst schlimmer wird. Anschließend kann man verschiedene Vorschläge machen, zum Beispiel einen Spaziergang zu machen, Freunde zum Essen einzuladen, die Eltern zu besuchen, Sport zu machen oder Musik zu hören.

Wer depressiv ist, lehnt wahrscheinlich alle Vorschläge ab.

Deshalb kommt jetzt die wohlwollende Hartnäckigkeit ins Spiel: Man bleibt dran und erklärt, dass eine Sache gemacht werden muss, überlässt seinem Partner oder seiner Partnerin aber die Auswahl und erklärt, dass auch eigene Vorschläge willkommen sind. So bevormundet man nicht, sondern sorgt dafür, dass die depressive Person in ihrer Entscheidungskraft bleibt. Die Botschaft muss lauten: »Du bist mir wichtig, und ich möchte, dass es dir besser geht.« Man kann auch Unterstützung anbieten, sollte Dinge jedoch nicht für Depressive übernehmen.

Werden die vertrauten Bezugspersonen von Depressiven manchmal selbst depressiv, da sie sich von der schlechten Stimmung herunterziehen lassen?

Eine Depression ist für eine Beziehung sehr belastend, und es ist bekannt, dass sich eine negative Stimmung auf andere überträgt. Man spricht von Gefühlsansteckung, im Englischen »emotional contagion« genannt ...

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