Der Beweis ist tot - es lebe der Beweis
Die Mathematiker verschmähen den Computer nicht; aber der klassische, kraft eigenen Denkens nachvollziehbare Beweis gilt ihnen nach wie vor als höchstes Ziel.
Der Beweis der Fermatschen Vermutung steht wieder aus. Mehr als 350 Jahre lang hatten Fachwissenschaftler und Amateure vergeblich versucht, eine Randbemerkung des Toulouser Richters und Amateurmathematikers Pierre de Fermat (1601 bis 1665) zu verifizieren: Für positive ganze Zahlen x, y, z und n hat die Gleichung keine Lösung, wenn n größer als 2 ist. Als im Sommer vorigen Jahres Andrew Wiles von der Universität Princeton (New Jersey) glaubwürdig versicherte, die noch weitergehende Taniyamasche Vermutung bewiesen zu haben, löste das in der Zunft wie in der Öffentlichkeit einen – für dieses Fach – beispiellosen Wirbel aus (vergleiche Spektrum der Wissenschaft, August 1993, Seite 14). In dem letzten Plenarvortrag des Internationalen Mathematikerkongresses (ICM) in Zürich mußte Wiles nun das traurige Ende der Geschichte verkünden: Bei der Nachprüfung seiner Arbeit taten sich Lücken auf, die zumindest in absehbarer Zeit nicht zu schließen sind. Die von ihm gefundenen Ergebnisse reichen entgegen seiner damaligen Überzeugung nicht aus, die Taniyamasche Vermutung zu beweisen. Wenngleich dieser Versuch gescheitert ist, hat er doch Ergebnisse erbracht, die zu einem korrekten Beweis beitragen könnten. Prognosen, ob und wann das gelingen werde, sind jedoch schwierig. Wiles hatte, bevor er sich an sein großes Werk machte, zwei Probleme zur Wahl und entschied sich voller Ehrgeiz für das allem Anschein nach schwierigere. Mittlerweile ist zu konstatieren, daß er dieses Problem erfolgreich auf eben jenes zurückgeführt hat, das er damals als zu einfach verschmähte – und heute nicht lösen kann. Ein vollbesetzter Kongreßsaal kurz vor dem Ende der Tagung belegt nicht nur das Interesse der mathematischen Öffentlichkeit an der Person Wiles und dem Ergebnis seiner Bemühungen; es wurde auch – wie bei anderen Gelegenheiten – deutlich, daß die Wertschätzung für den klassischen Beweis, den John Horgan (Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1993, Seite 88) schon totgesagt hatte, ungebrochen ist. Bei aller Zustimmung zu Einzelheiten dieses Artikels ist dessen Gesamtaussage in der Fachwelt mit Kopfschütteln oder gar heftigen Protesten quittiert worden. Nach wie vor gilt die mit logischer Strenge konstruierte Gedankenkette vom Bekannten zur neuen Behauptung als das Ziel aller mathematischen Tätigkeit. Das gilt sogar für die Mathematiker, die Computerwissenschaft betreiben. Avi Wigderson, der auf derselben Tagung den Nevanlinna-Preis für besondere Leistungen in den mathematischen Grundlagen der Informatik erhielt, sagte in aller Deutlichkeit, er tue im wesentlichen nichts anderes als seine mit der Fields-Medaille ausgezeichneten Kollegen, nämlich Theoreme beweisen. Es sei auch ohne weiteres möglich, Computerwissenschaft ohne Computer zu betreiben. Die Frage nach der rechnerischen Komplexität gewisser Probleme (Spektrum der Wissenschaft, April 1994, Seite 64) ist zwar erst dadurch interessant, daß ein Werkzeug zur Verfügung steht, das eine Lösung dieser Probleme in erträglicher Zeit liefert; aber dieses Werkzeug ist nicht unbedingt geeignet, Aussagen über seine eigenen Grenzen zu gewinnen. Nur in einem Punkt müssen sich die Informatiker eine Aufweichung des Beweisbegriffs ankreiden lassen. Der sogenannte zero-knowledge proof ist eben kein Beweis (proof) im klassischen Sinne, sondern ein Verfahren, die Irrtumswahrscheinlichkeit beliebig klein (aber nicht null) zu machen. Wenn es die oft beschworene Rivalität zwischen Mathematikern und Computern je gegeben hat, so ist sie mittlerweile einer entspannteren Haltung gewichen. "Ob es den Computern paßt oder nicht, sie werden noch eine Weile mit den Mathematikern auskommen müssen", war die in Zürich heftig beklatschte Umkehrung eines vielgehörten Spruchs. Als mächtiges Erkenntnismittel wird der Computer inzwischen mit immer größerer Selbstverständlichkeit akzeptiert. Am deutlichsten wird das in neuen Aussagen zum Beweis des Vierfarbensatzes durch Kenneth Appel und Wolfgang Haken (Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1978, Seite 82). Es ist möglich, jede beliebige Landkarte mit vier Farben so zu färben, daß zwei Länder mit gemeinsamer Grenze stets verschiedene Farben tragen. Diese einfache Aussage ist nicht einfach zu beweisen; Appel und Haken hatten sie 1977 auf ungefähr 1500 Einzelaussagen zurückgeführt, deren Bestätigung sie an einen Computer delegierten. Viele Fachleute hatten den so gewonnenen Beweis als unbefriedigend empfunden, weil er beim besten Willen nicht mehr von einem Menschen nachvollziehbar ist und deswegen auch die Erkenntnis "Ach, deshalb ist das so!" ausbleiben muß. Paul Seymour vom Kommunikationsforschungszentrum der Firma Bell in Morristown (New Jersey) machte nun darauf aufmerksam, daß dem mißtrauisch beäugten computergestützten Teil des Beweises von Appel und Haken eine konventionelle Argumentation vorausgeht, die erheblich problematischer sei. Er, Seymour, habe jedenfalls einen Sommer lang vergeblich versucht, sie nachzuvollziehen, und bezweifele, daß jemand anders – außer den Autoren – eine solche Ausdauer aufgebracht habe. Für ihn stellte es sich am Ende als einfacher heraus, diesen Teil des Beweises durch eine eigene Argumentation zu ersetzen (Bild). Befürchtungen, der Beweis des Vierfarbensatzes sei fehlerhaft, haben sich damit erledigt.
Die Mathematiker und die Gesellschaft
Ein Weltkongreß wie der ICM ist nicht nur Gelegenheit, das Neueste aus den Nachbargebieten zu erfahren, geniale Leistungen zu feiern (Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1994, Seite 22) und alte Kollegen wiederzutreffen; er dient stets auch der Vergewisserung über das Selbstverständnis des Faches. In diesem Zusammenhang gibt es eine gute und eine schlechte Nachricht.
Die schweizerische Bundesrätin Ruth Dreifuss, die kraft Amtes den Kongreß zu eröffnen hatte (zu ihrem Kompetenzbereich gehören auch die Aufgaben eines Wissenschaftsministers), hatte diesen Akt auf ungewöhnliche Weise vorbereitet, indem sie mehr als einem Dutzend prominenter Mathematiker drei Fragen stellte: "Wie rechtfertigt die reine Mathematik ihre Finanzierung durch den Staat? Hat die Mathematik die Diskussion über die ethischen Folgen ihres Tuns versäumt? Wenn ich zehn neue Lehrstühle einrichten könnte, wie viele sollte ich mit Mathematikern besetzen, und warum?" Sie zitierte ausgiebig und in ungewöhnlich hohem Maße zustimmend aus den Antworten.
Die Bedeutung mathematischer Entdeckungen stelle sich häufig erst nach sehr langer Zeit heraus, hatte Jürgen Moser von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich geantwortet. "Leider denken die Politiker häufig zu kurzfristig." Das bestätigte die Politikerin Dreifuss und stufte es ausdrücklich als ernsthafte Gefahr ein. Nur durch Anerkennung und Unterstützung der Grundlagenforschung könne die Gesellschaft die fortdauernde und volle Entwicklung des wissenschaftlichen Fortschritts sicherstellen. Und: Es sei mehr als legitim, wenn die Wissenschaft, von der die Gesellschaft zunehmend die Lösung aller möglichen Probleme erwarte, von dieser Gesellschaft die dazu notwendigen Mittel fordere. Man müsse sie, die Ministerin, nicht davon überzeugen, daß Wissenschaft von entscheidender Bedeutung sei, sondern man müsse gemeinsam diese Überzeugungsarbeit gegenüber dem Steuerzahler leisten.
Der nächste Internationale Mathematiker-Kongreß findet im August 1998 in Berlin statt. (Damit hat sich diese Stadt gegen die Konkurrenz von Sydney und Peking durchgesetzt.) Ich wage zu bezweifeln, daß ein deutscher Forschungsminister bei dieser Gelegenheit so klare Worte zugunsten einer Wissenschaft finden wird, die nicht sofort etwas einbringt.
Die schlechte Nachricht: Eine publikumsorientierte mathematische Ausstellung aus Anlaß des Kongresses war zwar geplant, ist aber nicht zustande gekommen. Offensichtlich glaubte man, der Allgemeinheit nach der Forschungsausstellung "Heureka" vor immerhin drei Jahren (Spektrum der Wissenschaft, September 1991, Seite 48) und einer speziellen Veranstaltung im Technorama – einem Techik-Museum im benachbarten Winterthur – nicht schon wieder Mathematik zumuten zu können. Welch ein Kleinmut!
Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 1994, Seite 126
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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