Der Fund in der Glocke - Überraschende Zeugnisse von der Varusschlacht
Fast 2000 Jahre alte Reste von Acker- und Wildpflanzen, gefunden auf dem vermutlichen Schlachtfeld, geben Archäologen und Geobotanikern ein Rätsel auf, an dem Sherlock Holmes seine Freude gehabt hätte.
Dieses Bild zeichnete der römische Geschichtsschreiber Cornelius Tacitus (55 – 120 nach Christus) in seinem Werk "De origine et situ Germanorum", kurz "Germania" genannt, vom freien, also nicht unter der Herrschaft der Römer stehenden Germanien (Übersetzung durch Manfred Fuhrmann, erschienen im Reclam-Verlag). In solch angeblich unzugänglicher Landschaft erlitt die sonst so sieggewohnte Armee des Imperiums im Jahre 9 nach Christus eine ihrer größten Niederlagen. Etwa 15000 Mann, bestehend aus drei römischen Legionen, Hilfstruppen und Versorgungseinheiten, wurden – der Überlieferung zufolge auf dem Marsch von der Weser zum Rhein – von germanischen Stammensverbänden in einer dreitägigen Schlacht aufgerieben. Dieser Sieg unter der Führung des damals 25jährigen Cheruskers Arminius über den 55jährigen Publius Quinctilius Varus, Oberbefehlshaber der germanischen Provinz, war der Höhepunkt eines koordinierten Aufstandes mehrerer Stämme. Die historisch bedeutsame politische Folge: Rom verzichtete auf eine Eroberung des rechtsrheinischen Germaniens.
So sehr die Erinnerung an jene Varusschlacht im Gedächtnis der Völker blieb, der Ort selbst geriet doch in Vergessenheit. Fälschlich suchte man ihn seit dem 16. Jahrhundert im später deshalb Teutoburger Wald genannten Gebiet (Tacitus bezeichnete den Ort der Schlacht als teutoburgiensis saltus und meinte "Waldgebirge"). Erst der Althistoriker Theodor Mommsen (1817–1903) schloß aufgrund von Münzenfunden auf die Kalkrieser-Niederwedder-Senke unweit von Osnabrück. Prospektionen des Geländes durch die Archäologische Denkmalpflege für die Stadt und den Landkreis Osnabrück Ende 1987 motivierten weitere Erkundungen. Überreste römischer Waffen, Münzen und Reste einer aus Grassoden gebauten Mauer lassen heute kaum noch einen Zweifel daran, daß dort die verheerende Schlacht stattgefunden hatte (Spektrum der Wissenschaft, 2/1992, S. 40).
Doch was ist dran an der Vorstellung, die römischen Soldaten hätten sich durch dichte Wälder gequält und seien dabei Opfer germanischer Partisanen geworden? Vieles spricht dafür, daß schon zu jener Zeit auch im freien wie im besetzten Germanien offene Kulturlandschaften zu finden waren. Insbesondere die Analyse von Pollen in Moor- und Seesedimenten der Kalkrieser Region belegt, daß dort schon seit der Jungsteinzeit Äcker und Weideflächen vorkamen; eindeutiges Indiz für die fragliche Zeit: Eichen- und Buchenpollen nehmen bis zur römischen Kaiserzeit ab, während Getreidefunde und für Weiden typische Pflanzen wie die Brennessel auf rege Besiedelung schließen lassen.
Daher können wir wohl davon ausgehen, daß sich das römische Heer durch eine zumindest abwechslungsreiche, teilweise landwirtschaftlich geprägte Szenerie bewegt hat. In der Kalkrieser Senke dürften die Verhältnisse allerdings etwas anders gewesen sein: Moor und Auenwälder auf der einen, den Berg auf der anderen Seite suchten die Invasoren ihren Weg auf einem schmalen Pfad, durch die Grassodenmauer noch zusätzlich behindert (siehe Karte oben). Es gab keine Ausweichmöglichkeiten, und vermutlich starb mancher Legionär nicht im Kampf, sondern im Chaos von Menschen, Tieren und Wagen.
Vor diesem Hintergrund erregte der Fund guterhaltener Pflanzenreste in einem römischen Artefakt Aufsehen, das Susanne Wilbers-Rost vom Landschaftsverband Osnabrück auf dem Feld der Varusschlacht 1992 ausgegraben hat. Lassen sich auch daraus Rückschlüsse auf die einstige Landschaft am Fundort ziehen? Nun, jeder Wissenschaftler, der sich mit Fragen der Archäologie beschäftigt, benötigt etwas von jener Kombinationsgabe, die der englische Schriftsteller Sir Arthur Conan Doyle seiner berühmten Romanfigur "Sherlock Holmes" angedichtet hatte. Leider reicht das allerdings noch nicht aus, wie wir im folgenden zeigen werden.
Zunächst die Fakten. Nahe dem ehemaligen Standort der germanischen Mauer aus Grassoden fand die Archäologin Wilbers-Rost Überreste eines römischen Zuggespannes: Knochen eines Maultieres, eine Eisenkette und eine bronzene Hülse, knapp 17 Zentimeter hoch und bis zu 10 Zentimeter im Durchmesser. Das Besondere: In der Hülse befanden sich erstaunlich gut erhaltene Pflanzenreste. Organische Substanzen vergehen sonst im regenreichen Klima Mitteleuropas recht schnell. Was sich hierzulande noch erhalten hat, ist meist verkohlt; nur aus den Mittelmeerländern sind derart gut trocken-konservierte Funde bekannt. Also eine kleine Sensation! Wie läßt sich dieser ungewöhnliche Fund erklären? Des Rätsels Lösung: Schwermetall-Ionen haben alle Mikroorganismen beharrlich über 2000 Jahre hinweg vergiftet und so die Pflanzen konserviert.
Wie aber gelangte das Pflanzenmaterial in die Metallhülse, und wozu diente diese überhaupt. Offensichtlich war es eine Glocke, wie sie römische Landwirte Pferden und Rindern umbanden, bevor diese auf die Weide durften (ein vergleichbarer Brauch hat sich bis heute im Alpenraum erhalten). Ein Gipsabdruck des Hohlraums im "Stroh" erinnerte aber auch mit seiner konisch zulaufenden Form an die Spitze einer Wagendeichsel. Die Archäologen vermuteten deshalb, daß die Hülse zwar als Glocke hergestellt, dann aber als provisorische Deichselkappe genutzt wurde: Lederriemen, die durch eine Öse liefen, haben möglicherweise die Geschirre zweier Zugtiere miteinander verbunden und diese dazu gezwungen, nebeneinander zu laufen. An der Oberfläche der Glocke sind sogar Reste solcher Lederriemen erhalten geblieben, ein weiteres Indiz für diese These. Die hölzerne Deichsel selbst und andere Teile des Fuhrwerks sind aber völlig vergangen.
Mit den Pflanzen hatte ein Legionär die Deichsel offenbar umwickelt, damit die provisorische Kappe besser darauf hielte. Vor jener Mauer aus Grassoden geriet er vielleicht in einen Hinterhalt und verlor sein Leben. Sicher ist nur: Der Wagen kippte um, die Zugtiere rissen sich vermutlich voller Panik los, und eines wurde teilweise von dem zusammenbrechenden Wall begraben.
Die Detektivarbeit geht weiter: Welche Pflanzen hat der Römer verwendet, und woher hat er sie genommen?
Vor allem Samen, Halme und Blätter von Saathafer (Avena sativa) sowie Hülsenreste, Samen, Stengel und Nebenblätter der Erbse (Pisum sativum) haben wir gefunden. An Halmbruchstücken des Hafers befanden sich zum Teil noch Reste seiner Wurzeln und Blattranken der Erbse – Indizien dafür, daß beide einst auf einem Acker wuchsen und gemeinsam herausgerissen worden waren. Auch verschiedene Wildkräuter, deren Reste wir fanden, könnten dort als Unkraut gewachsen sein: Windenknöterich (Polygonum convolvulus), Vogelknöterich (P. aviculare), Klettenlabkraut (Galium aparine), Weißer Gänsefuß (Chenopodium album) und Einjähriger Knäuel (Scleranthus annuus).
Hatte der namenlose Legionär diese Pflanzen bereits in die Bronzeglocke gestopft, als er noch in Römisch-Germanien weilte? Dort dienten eiweißreiche Hülsenfrüchte nämlich in Verbindung mit Sommergetreide als hochwertiges Vieh-futter, wie beispielsweise der römische Schriftsteller und vermutliche Großgrundbesitzer Moderatus Columella 50 nach Christus in seinem mehrbändigen Werk De re rustica beschrieben hat. Allerdings nutzten die Römer dazu meist die Ackerbohne (Vicia faba).
Es liegt nahe anzunehmen, daß ein solches Kraftfutter nicht täglich, sondern zusätzlich vor anstrengenden Feldzügen gegeben wurde – Zulieferungen aus dem landwirtschaftlich geprägten Umland der militärischen Stützpunkte vorausgesetzt. Wo also war unser Legionär stationiert?
Für jene angeblich dunklen Waldgebiete auf der rechten Seite des Rheins gibt es bislang keinen Hinweis auf einen planmäßigen gemeinsamen Anbau von Getreide und Hülsenfrüchten, wohl aber auf den von Hafer beziehungsweise Erbsen in separaten Kulturen. So berichtet beispielsweise Plinius (23–79 nach Christus), daß "die germanischen Völker den Hafer säen und keinen anderen Brei als Haferbrei" verzehrten. Für den Römer sicherlich eine merkwürdige Schilderung, die das Barbarentum der Beschriebenen deutlich machte, denn im Mittelmeerraum wurde nur in Notzeiten Hafer zu Brot verarbeitet, ansonsten das Getreide dem Vieh gefüttert. Wuchsen die genannten Pflanzen in Römisch-Germanien auf dem Acker eines Gutshofes, einer villa rustica (siehe Kasten vorige Seite)? Bislang ergibt sich noch keine schlüssige Indizienkette.
Doch halt, es fand sich noch mehr in der Bronzeglocke: Blütenstände des Froschlöffels (Alisma plantago-aquatica) und von Wedeln des Frauenfarns (Athyrium filix-femina) geben uns eine weitere Information, denn beide benötigen einen feuchten Standort, wie ihn nicht Äcker, sondern beispielsweise Auenwälder bieten. Davon sind in der Ebene nördlich des Kalkrieser Berges genug gewachsen wie auch entlang verschiedener Bachläufe und der Flüßchen Hase und Hunte.
Metallteilchen an einigen dieser letztgenannten Pflanzenreste brachten uns auf den Gedanken, daß zwei Wicklungen die Glocke auf der Deichsel fixieren sollten: Die erste aus Hafer und Erbsen, darüber, also in Kontakt mit dem Metall, eine aus Frauenfarn und Froschlöffel. Hatte sich die improvisierte Deichselkappe aufgrund von Trocknung der Futterpflanzen wieder gelockert?
Das Rätsel ist nicht gelöst, sondern um die Frage nach dem Wann? erweitert worden. Denn das Nebeneinander der Blütenreste von Froschlöffel, Ackerknäuelkraut und Saathafer mit den Samen der Erbse und der anderen Ackerkräuter schränkt die Monate, in denen unser Legionär die Pflanzen abriß, stark ein.
Hat er sie gleichzeitig genommen, also eine Wicklung unmittelbar nach der anderen auf die Deichsel aufgelegt, so zeigt ein Blick auf die Blüh- und Fruchtzeiten der gefundenen Pflanzen, daß nur die Monate Juli und August dafür in Frage kamen (Tabelle und Bilder oben). Pflückte er aber zunächst Hafer und Erbsen, kann er das schon früher, nämlich im Juni des Jahres Neun getan haben; Froschlöffel und Frauenfarn folgten dann spätestens im September – irgendwann in diesem Monat begannen aber auch vermutlich die Kampfhandlungen.
Die nicht minder interessante Frage, ob denn auch auf germanischen Äckern Getreide und Hülsenfrüchte gemeinsam wuchsen, können wir anhand der bislang vorliegenden Indizien nicht klären. Doch der gute Erhaltungszustand der Funde sollte es möglich machen, diese 2000 Jahre alten Zeitzeugen einer der wichtigsten Schlachten europäischer Geschichte mit den modernsten Methoden der Archäometrie zu untersuchen. Molekularbiologen versuchen derzeit für uns, die Erbsubstanz der Pflanzen zu extrahieren und zu analysieren. Ein Vergleich mit den Genen römischer Pflanzenreste aus dem Mittelmeerraum und heutigem Material wird dann – vielleicht – den letzten Stein hinzufügen und das archäologische Puzzle lösen
Literaturhinweise
Paläobotanische Untersuchungen zu den Pflanzenfunden aus den archäologischen Ausgrabungen zur „Varus-Schlacht“ bei Kalkriese (Wiehengebirge). Von M. Speier, U. Dickmann und R. Pott in: Berichte der Reinhold-Tüxen-Gesellschaft, Bd. 10, S. 73–94 (1998).
Rom, Germanien und die Ausgrabungen von Kalkriese. Von Wolfgang Schlüter und Rainer Wiegels (Hg.). Landschaftsverband Osnabrücker Land e.V., 1996.
Kalkriese – Römer im Osnabrücker Land. Von Wolfgang Schlüter (Hg.). Rasch Verlag, Bramsche 1993.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 2000, Seite 76
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