Der Gesang des Dodo. Eine Reise durch die Evolution der Inselwelten.
Aus dem Englischen von Ulrich Enderwitz. Claassen, München 1998. 974 Seiten, DM 78,–.
Vor gut 400 Jahren, 1598, erreichten holländische Seefahrer auf dem Weg nach Ostindien die kleine Insel Mauritius im Indischen Ozean. Zurückgekehrt berichteten sie von einem dort lebenden "widerlichen Vogel": schwanengroß, flugunfähig, rund und unansehnlich mit seinen kurzen Beinen und dem dicken Rumpf, unbeholfen und lächerlich mit den winzigen Flügelstümpfen und seinem riesigen Hakenschnabel im nackten Gesicht und überdies mit einem Fleisch, das "immer ungenießbarer wird, je länger man es kocht": Das war der Dodo Raphus cucullatus.
Seine mangelnde Eignung für die Küche hat ihn nicht gerettet. Die Seefahrer und die von ihnen eingeschleppten Schweine, Katzen und Ratten stellten ihm so nach, daß er kaum 100 Jahre später ausgestorben war. Und das Interesse der Zeitgenossen und Nachfahren hielt sich in engen Grenzen: Ein Fuß im Britischen Museum, ein Schädel in Kopenhagen, ein Fuß und ein Kopf in Oxford, ein später aus den Knochen verschiedener Exemplare zusammengesetztes Skelett im Museum in Durban (Südafrika), wenige Zeichnungen und Augenzeugenberichte – das ist alles, was uns vom Dodo blieb. Sein Gesang, wenn es denn einen gab, ist für immer verloren.
Der Drontenvogel, von dem man bis heute nicht weiß, ob er näher mit den Rallen oder den Tauben verwandt war, wurde zum Sinnbild für den rücksichtslosen Umgang des Menschen mit der Natur, für den mittlerweile allgegenwärtigen Artenschwund und insbesondere für das Verschwinden von Inselformen. "As dead as a dodo", sagen Angelsachsen, wenn etwas unwiderruflich vorbei ist.
Im vorliegenden Buch, dessen Original die "New York Times" 1996 als bestes Sachbuch auszeichnete, macht der amerikanische Wissenschaftsautor und preisgekrönte Essayist David Quammen deutlich, daß Raphus cucullatus kein Einzelfall ist: Nicht besser erging es anderen Vögeln wie dem Einsiedler auf der nahe Mauritius gelegenen Insel Rodriguez, den Moas und Huias auf Neuseeland, den Elefantenvögeln auf Madagaskar, der Wandertaube, dem Riesenalk sowie dem Tasmanischen Beutelwolf (Spektrum der Wissenschaft, August 1999, S. 70) und dem balinesischen Tiger.
Wie vieles andere in der Biologie zeigt sich das Muster des Artenabgangs am besten auf Inseln, jenen Mikrokosmen, in denen sich das Wirken der Evolution wie im Zeitraffer beobachten läßt, weil sich in kleinen isolierten Populationen genetische Veränderungen schneller durchsetzen. So entstehen Lebensformen, die nirgendwo sonst vorkommen. Wieso treibt die Evolution auf Inseln besonders kapriziöse Blüten, die ihrerseits in erhöhtem Maße vom Untergang bedroht sind?
Um diesen Fragen nachzugehen, ist David Quammen in die Fußstapfen großer Naturforscher getreten, von Alfred Russel Wallace (1823–1913) bis zu Robert MacArthur, Edward O. Wilson, Michael Soulé und Michael Gilpin. Wie sie hat er sich auf eine abenteuerliche Reise rund um den Globus begeben, zu den Komodowaranen in Indonesien, den Halbaffen auf Madagaskar, den Paradiesvögeln auf Aru und in die Regenwälder am Amazonas, um an den Feldforschungen einer Wissenschaft teilzunehmen, die sich Inselbiogeographie nennt, aber weitaus mehr im Blick hat als nur Inseln.
Quammen ist dabei eine intelligente und gleichwohl unterhaltsame Verknüpfung aus Wissenschaftsgeschichte (insbesondere zu Wallace), Reisereportage (wenngleich einige Episoden entbehrlich wären) und Forschungsbericht gelungen. Sein Buch ist ebenso facettenreich wie die insulären Lebensräume, die es zum Thema hat, und hat mir Lesevergnügen bereitet wie schon lange kein naturkundliches Sachbuch mehr.
Ohne den Zeigefinger eines berufsmäßigen Umweltaktivisten zu heben, macht Quammen zugleich deutlich, daß Inseln mit ihren überschaubaren Lebensgemeinschaften nur Nebenschauplatz einer ungleich größeren Tragödie sind: der weltweiten Zerstörung von Ökosystemen. Indem er das Ausmaß des drohenden Verlustes eindrücklich vor Augen führt, gibt er über seine gelungene Geschichte hinaus ein eloquentes Plädoyer für den Erhalt der biologischen Vielfalt. Es bleibt die Hoffnung, daß zukünftig nicht noch mehr Arten ähnlich stumm wie der Dodo verschwinden werden.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 2000, Seite 100
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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