Direkt zum Inhalt

Der Grenzbereich zwischen Erdkern und Erdmantel

Zwischen dem Gestein des untersten Mantels und dem flüssigen Eisen des äußeren Kerns findet unter gewaltigem Druck und hoher Temperaturen offenbar eine ungewöhnliche chemische Reaktion statt, deren Produkte eine besondere Schicht bilden. Die dynamischen Vorgänge in dieser Übergangszone wirken sich bis an die Oberfläche aus: Sie beeinflussen die Rotation und das Magnetfeld der Erde.


Nur etwa 2900 Kilometer entfernt – weniger als drei Tagereisen mit dem Auto, falls das möglich wäre – liegt einer der interessantesten Bereiche des Erdinneren. Von der Forschung in der Vergangenheit weitgehend vernachlässigt, erweist sich die unzugängliche Region zwischen dem festen unteren Erdmantel und dem aus flüssigem Eisen bestehenden äußeren Erdkern zunehmend als wesentlich für das Verständnis der chemischen und thermischen Entwicklung unseres Planeten.

Was bisher einfach als Grenze zwischen zwei Schichten angesehen wurde, könnte in Wirklichkeit die aktivste Region der Erde sein. Ihre Beschaffenheit scheint sich im Verlauf der Erdgeschichte drastisch verändert zu haben, und ihre physikalischen Eigenschaften, soweit heute feststellbar, variieren horizontal in großem Maßstab. Die Unterschiede im Übergangsbereich zwischen Kern und Mantel sind markanter als an der Erdoberfläche zwischen Atmosphäre und Kruste.

Man nimmt an, daß die Kern-Mantel-Grenze durch ihre starke Heterogenität viele globale geologische Vorgänge mitbestimmt (Spektrum der Wissenschaft, November 1983, Seite 48). Zum Beispiel beeinflußt ihre Dynamik das leichteRaumeln der Erdrotationsachse ebenso wie gewisse Eigenschaften des geomagnetischen Feldes. Veränderungen in der Kern-Mantel-Region wirken sich auch auf die Konvektion im Erdmantel aus also auf das System jener gigantischen walzenartigen Gesteinsströmungen, die für die Wanderung der Kontinente und allgemein die Drift der großen tektonischen Platten verantwortlich sind.

Mitte der dreißiger Jahre gab es den ersten Hinweis darauf, daß in der Tiefe, wo Kern und Mantel aufeinandertreffen Ungewöhnliches passiert. Den Schlüssel lieferten Schwingungen, die bei Erdbeben erzeugt werden. Im größten Teil des Mantels nimmt die Geschwindigkeit seismischer Wellen mit der Tiefe zu; andererseits gibt es bei einer bestimmten Tiefe jeweils nur geringfügige laterale Abweichungen. Dies kann man so interpretieren, daß die Erde nach innen hin gleichsam einfacher, also einheitlicher in Zusammensetzung und Struktur wird. Im Vergleich dazu ist die Erdoberfläche mit ihrer großen Vielfalt an geologischen Formen und Gesteinen eine besonders kompliziert aufgebaute Region.

Doch dieser Verlauf der seismischen Geschwindigkeit setzt sich nur bis zu einer bestimmten Tiefe fort. Im untersten Bereich des Mantels, einige hundert Kilometer oberhalb des Kerns, werden die Erdbebenwellen auf einmal nicht mehr nennenswert schneller. Statt dessen treten jetzt Geschwindigkeitsdifferenzen zwischen den Regionen auf (Bild 2). Diese Abweichungen sind mit wenigen Prozent zwar gering, doch nach geologischen Maßstäben deuten sie auf enorme Unterschiede in der Struktur oder Temperatur hin. Schon bei der Entdeckung war den Forschern die Bedeutung dieses Sprungs in den seismischen Eigenschaften klar. Daher gaben sie der etwa 200 bis 400 Kilometer mächtigen untersten Mantelregion eine eigene Bezeichnung: D"-Schicht.

Dieser etwas absonderliche Name (ausgesprochen "D-Zweistrich") ist ein historisches Relikt. Ursprünglich bezeichneten die Geologen die Schichten im Erdinneren mit den Buchstaben des Alphabets anstatt mit anschaulichen Begriffen wie Kruste, Mantel und Kern. Bei dieser Art der Kennzeichnung mußte man jeder später entdeckten Zwischenlage jedoch einen Strich als Unterscheidungsmerkmal hinzufügen. Während die anderen Schichten inzwischen umbenannt wurden, hat sich die Bezeichnung D" erhalten.

Ein milchig trüber Bodensatz

Zahlreiche Deutungen für die seismischen Eigenschaften der D"-Schicht wurden vorgeschlagen. Doch leider gab es bis zu den achtziger Jahren zu viele Erklärungsmöglichkeiten und zu wenig handfeste Informationen für eine eindeutige Charakterisierung. Erst methodische Fortschritte im letzten Jahrzehnt erlaubten eine genauere Beschreibung. Mit einem Netz von Meßinstrumenten rund um die Welt konnten die Seismologen erstmals genügend Daten sammeln und verarbeiten, um dreidimensionale Bilder vom Erdinneren zu gewinnen (Bild 1; siehe auch "Seismische Tomographie" von Don L. Anderson und Adam M. Dziewonski, Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1984, Seite 62).

Die seismische Tomographie wird häufig mit der Computertomographie in der Medizin verglichen. Doch da sie mit akustischen Wellen statt mit Röntgenstrahlen arbeitet, ist sie eher mit der Ultraschalldiagnostik verwandt. Die benutzten Seismometer arbeiten allerdings vorwiegend in dem extrem niederfrequenten Bereich zwischen etwa 1 und 0,0003 Hertz (der Hörbereich des Menschen erstreckt sich dagegen von rund 20 bis 20000 Hertz ). Leider bedingt diese geringe Frequenz, der eine sehr große Wellenlänge entspricht, eine unbefriedigende Auflösung: Strukturen 2 mit Abmessungen unter 2000 Kilometern werden kaum erfaßt.

Dennoch hat die seismische Tomographie dazu beigetragen, die Eigenschaften der D"-Schicht zu quantifizieren. Insbesondere hat sie gezeigt, daß die Region sich stark von dem Mantelbereich darüber unterscheidet. Da die Geschwindigkeit seismischer Wellen über Gebiete von Kontinentgröße hinweg variiert, weist die D"-Schicht offenbar Strukturen von gewaltigen Ausmaßen auf. Allerdings ließen sich die Gründe für die Variabilität der physikalischen Eigenschaften mit der seismischen Tomographie nicht aufdecken. Existieren am unteren Rand des Mantels chemisch unterschiedlich aufgebaute Strukturen ähnlich den Kontinenten, die ja die seismische Heterogenität der Erdoberfläche verursachen? Oder herrschen nur einfach großräumige Temperaturunterschiede?

Um Antworten darauf zu finden, begann einer von uns (Lay) Anfang der achtziger Jahre die Kern-Mantel-Grenze mit einer neuen Methode zu erforschen. Die Grundidee war, per Computer alle Merkmale seismischer Wellenfronten zu analysieren anstatt – wie bei der Tomographie – lediglich ihre Geschwindigkeit. Die Analyse der Wellenform hat den Vorteil, daß sich damit noch Strukturen auflösen lassen, deren Ausdehnung nicht mehr als einige Dutzend Kilometer beträgt (gegenüber rund 2000 Kilometern bei der Tomographie). Von Nachteil ist allerdings, daß man lediglich beschränkte Teile der Kern-Mantel-Grenze damit untersuchen kann: Es gibt einfach nicht genügend Erdbeben oder andere Quellen seismischer Erschütterungen, um bei einem so hohen Auflösungsgrad ein umfassendes Bild des Erdinneren zu gewinnen.

Nach den Ergebnissen von Wellenformanalysen können auch eng benachbarte Regionen innerhalb der D"-Schicht sehr unterschiedlich sein. Wie mehrere Forschergruppen feststellten, variieren beispielsweise an der KernMantelGrenze unter Nordsibirien die seismischen Geschwindigkeiten über kurze Distanzen so stark, daß in geringem Abstand voneinander aufgestellte Seismometer systematisch unterschiedliche Wellenformen aufzeichneten. Demnach sind die seismischen Geschwindigkeiten offenbar sehr verschieden und ändern sich bereits über Entfernungen, die unter dem Auflösungsgrad der Methode von einigen Dutzend Kilometern liegen.

Durch Analyse der Wellenform kann man auch Unterschiede in der Mächtigkeit der D"-Schicht erkennen. An vielen Stellen nimmt die Wellengeschwindigkeit an der Obergrenze dieser Schicht nämlich abrupt zu, wodurch die Wellen teilweise reflektiert werden. Wie die Reflexionen erkennen lassen, schwankt die D"-Schicht stark in der Mächtigkeit (Bild 3). An manchen Stellen ist sie so dünn, daß sie nicht aufzuspüren ist; dann wieder erreicht sie eine Dicke von 300 Kilometern.

Stanley M. Flatte und seine Mitarbeiter an der Universität von Kalifornien in Santa Cruz fanden die große Variabilität der D"-Schicht bestätigt, als sie Mitte bis Ende der achtziger Jahre die Form seismischer Wellen, die im unteren Mantel reflektiert worden waren, mit einer neuen Methode zu untersuchen begannen. Grundlage ihrer Analyse bildete eine statistische Beschreibung der Ausbreitung von Wellen in einem stark streuenden Medium – vergleichbar mit Nebel oder Wolken.

Auch Flatte beobachtete die veränderte Form seismischer Wellenfronten nach Passieren der D"-Region. Ein Erdbeben sendet ursprünglich eine glatte Welle aus, die sich konzentrisch ausdehnt. Wird sie jedoch durch Veränderungen der seismischen Eigenschaften des durchquerten Mediums (zum Beispiel starke Unregelmäßigkeiten in der Nähe der Kern-Mantel-Grenze) gebeugt und gestreut, bleibt ihre Front nicht glatt, sondern kräuselt oder runzelt sich (Bild 4).

Um den Verzerrungsgrad der Wellenfront messen zu können, braucht man ein dicht gestaffeltes Netz von Seismometern. Anhand von Aufzeichnungen mit einem solchen Netz in Norwegen konnte Flatte zeigen, daß die D"-Region auf seismische Wellen wie ein milchig trübes Medium auf Licht wirkt. Demnach muß sie noch auf Distanzen von nur etwa zehn Kilometern heterogen sein.

Im Gegensatz zur seismisch trüben D"-Schicht ist die Kern-Mantel-Grenze darunter glatt und scharf. Dies wiesen John E. Vidale und Harley Benz vom Geologischen Dienst der USA im vorigen Jahr eindrucksvoll nach. Sie benutzten das umfangreiche Netz seismischer Meßstationen im Westen der Vereinigten Staaten, das normalerweise regionale Erdbeben aufzeichnet, zum Aufspüren seismischer Wellen, die an der KernMantel-Grenze zurückgeworfen worden waren. Erstaunlicherweise wurden die Wellen an mehr als 900 Meßstationen des Netzes kohärent empfangen – ein klares Zeichen für die Schärfe der KernMantel-Grenze zumindest im untersuchten Gebiet. Diese Grenze reflektiert die Hälfte der ankommenden seismischen Wellen und variiert, wie Analysen der zurückgeworfenen und der hindurchgelassenen Wellen ergeben haben, nur um wenige Kilometer in der Tiefe.

Experimente mit der Diamantstempelzelle

Das Studium seismischer Wellen hat aufschlußreiche Informationen über die D"-Schicht und die Grenze zwischen Kern und Mantel geliefert. Doch können solche Untersuchungen die Entfernung ins Erdinnere nicht gänzlich überbrükken, so daß sich die Entstehung der komplizierten Strukturen an der Kern-Mantel-Grenze damit bisher nicht vollständig aufklären ließ.

Wenn tiefe Erdregionen direkten Untersuchungen nicht zugänglich sind, warum sie nicht einfach an die Erdoberfläche holen? Diesen Ansatz verfolgen viele Wissenschaftler darunter auch einer von uns (Jeanloz). Genauer gesagt, haben wir versucht, die hohen Drücke und Temperaturen, die im unteren Mantel und im Kern herrschen, im Labor zu reproduzieren. Möglich wurde dies durch eine technische Meisterleistung: ein seit 1959 kontinuierlich verbessertes Gerät, mit dem sich winzige Gesteinsproben in einem flüssigen Medium zwischen den Spitzen zweier Diamanten zusammenpressen und mit einem hochenergetischen Laserstrahl erhitzen lassen (Spektrum der Wissenschaft, Juni 1984, Seite 102). Bereits 1986 vermochte man mit einer solchen Diamantstempelzelle größere Drücke zu erzeugen, als im Erdmittelpunkt herrschen.

Außer der Härte von Diamanten ist es vor allem ihre Transparenz, die sie zum Stempelmaterial prädestiniert. Ein Laserstrahl kann durch den Kristall auf die Probe fokussiert werden, um sie auf mehrere tausend Grad Celsius zu erhitzen. Zudem kann man die Probe beobachten, während sie höchsten Drücken und Temperaturen ausgesetzt ist. Die Temperatur läßt sich anhand der Wärmestrahlung ermitteln, die das Untersuchungsmaterial durch den Diamanten abgibt. Auf diese Art kann man quantifizieren, wie "rot-" oder "weißglühend" es ist; Astronomen leiten auf gleiche Weise die Oberflächentemperaturen von Sternen aus der Farbe ab.

Bei unseren Versuchen mit der lasergeheizten Diamantstempelzelle wollten wir feststellen, was geschehen würde, wenn wir Material, aus dem der äußere Kern besteht, bei den Temperaturen und Drücken an der Kern-Mantel-Grenze in Kontakt mit Mineralen des untersten Mantels brächten. Dazu mußten wir freilich möglichst genau wissen, aus welchen Materialien Mantel und Kern aufgebaut sind.

Beim Ermitteln der Bestandteile des Mantels stützte sich Elise Knittle aus der Gruppe von Jeanloz unter anderem auf Ergebnisse von Forschern der Australischen National-Universität in Canberra und der Carnegie-Institution in der US-Bundeshauptstadt Washington. Grundlage unserer Überlegungen waren außer früheren experimentellen Arbeiten aber auch theoretische Modelle sowie vor allem die Tatsache, daß der Druck an der Grenze zum Kern deutlich über 20 Gigapascal (200000 Atmosphären) liegt.

Aus diesen Informationen leiteten wir ab, daß im untersten Mantel ein einziges Hochdruck-Mineral vorherrschen muß. Dabei handelt es sich um eine dichte Form von Eisen-Magnesium-Silicat der Zusammensetzung (Mg,Fe)SiO3: eine stabile, chemisch einfache Verbindung, die sich nur bei Drücken über 20 Gigapascal bildet. Da sie die gleiche Kristallstruktur wie Perowskit (CaTiO) hat, bezeichnet man sie auch als Magnesiumsilicat-Perowskit. Begleitet wird sie wahrscheinlich von geringen Mengen an Magnesiumwüstit, einer Mischverbindung aus Magnesiumoxid (MgO) und Wüstit (FeO).

Mit dieser Zusammensetzung unterscheidet sich das Gestein des unteren Mantels deutlich von dem an der Erdoberfläche, das aus vielen verschiedenen, kompliziert aufgebauten Mineralen besteht, die bei mäßigen Änderungen von Druck oder Temperatur bereits chemisch miteinander reagieren und sich in andere Minerale umwandeln. Die einfache chemische Zusammensetzung des unteren Mantels paßt aber gut zu den seismologischen Ergebnissen, wonach diese Region (mit Ausnahme der D"-Schicht) ziemlich strukturlos ist. Diese Stimmigkeit machte uns zuversichtlich, daß wir in unseren Laborsimulationen die richtigen Minerale untersuchen.

Uber die Zusammensetzung des Kerns weiß man genauer Bescheid. Schon vor mehr als 50 Jahren konnte aus seismologischen Untersuchungen seine Struktur erschlossen werden. Danach besteht er aus einer geschmolzenen Substanz, die ein festes Zentrum umgibt. Von der Flüssigkeit nimmt man allgemein an, daß es sich um ein Metall handelt – genauer, um eine Eisenlegierung. Durch ihre Strömung erzeugt sie das Magnetfeld der Erde.

Entsprechend den vorab angestellten Uberlegungen brachte Elise Knittle in einer Serie von Experimenten somit = flüssiges Eisen mit kristallinem SilicatD Perowskit unter hohem Druck zusammen (siehe Kasten auf Seite 53). Dabei zeigte sich überraschenderweise, daß Perowskit lebhaft mit dem Eisen reagiert, selbst wenn die Substanzen nur für wenige Sekunden Kontakt haben. Die Art der chemischen Reaktion ist höchst interessant: Es entsteht eine Mischung aus elektrisch nichtleitenden Oxidmineralen – MagnesiumsilicatPerowskit und Stishovit (SiO2) – sowie den MetallLegierungen Eisensilicid (FeSi) und Wüstit.

Von dem normalerweise gleichfalls nichtleitenden Oxidmineral Wüstit war nicht bekannt gewesen, daß es überhaupt bei irgendwelchen Temperaturen oder Drücken den Charakter einer MetallLegierung annehmen kann. Vereinfacht gesagt, ist das möglich, weil sein Sauerstoffatom bei hohem Druck die chemischen Eigenschaften seines Nachbarn im Periodensystem der Elemente, des Schwefels, annimmt. Metallische Sulfide wie das Eisendisulfid (Pyrit oder Schwefelkies) sind gut bekannt.

Die Experimente ergaben auch, daß flüssiges Eisen bereits bei Drücken von 20 bis 30 Gigapascal mit Substanzen des Mantels zu reagieren beginnt. Da der Druck an der Kern-Mantel-Grenze viel höher ist (136 Gigapascal), dürften entsprechende Reaktionen seit der Frühzeit der Erde ablaufen, als sich der Kern im Inneren des Planeten als eigene Schicht absonderte. Wahrscheinlich haben diese chemischen Reaktionen das Kern-Mantel-System seither stark verändert. So wurde über geologische Zeiträume hinweg wohl eine beträchtliche Menge Sauerstoff in das Metall des Kerns hineingezogen, das heißt ihm zulegiert. Das Gestein des unteren Mantels löste sich also und löst sich noch heute langsam im flüssigen Metall des äußeren Kerns auf. Diese Folgerung stützt eine Vermutung,

die Berni J. Alder vom LawrenceLivermore-Nationallaboratorium der USA in Kalifornien vor mehr als 25 Jahren bereits geäußert hatte.

Außerdem liefert diese Hypothese eine einfache Erklärung dafür, warum die Eigenschaften des Kerns beinahe, aber nicht ganz denjenigen von Eisen bei vergleichbaren Drücken und Temperaturen entsprechen. Insbesondere ist die Dichte des äußeren Kerns ungefähr 10 Prozent geringer als die von reinem Eisen (Spektrum der Wissenschaft, November 1983, Seite 36). Zulegieren des leichteren Sauerstoffs, wie es Alders Hypothese und unsere Experimente mit Diamantstempelzellen nahelegen, könnte diese niedrigere Dichte verständlich machen.

Vermutlich bestand der Kern ohnehin nie aus reinem Eisen, sondern enthielt schon immer auch etwas Nickel, Schwefel und andere seltenere Bestandteile. Dafur spricht jedenfalls, daß eisenreiche Meteoriten, die als partielle Überreste des Ausgangsmaterials der Erde angesehen werden, viele ähnliche Verunreinigungen aufweisen. Gleich reinem Eisen können diese Meteoriten unter hohen Drücken und Temperaturen mit Gesteinskomponenten chemisch zu einer Sauerstoff-Legierung reagieren.

Wie sich aus unseren Experimenten ergibt, dringt geschmolzenes Metall des äußeren Kerns unter dem Einfluß von Kapillarkräften zwischen den Mineralkörnern in das Mantelgestein ein. Die Kapillarkräfte dürften stark genug sein, daß die Kernflüssigkeit einige dutzend bis hundert Meter über die KernMantelGrenze hinauf angesaugt wird. Wegen des innigen Kontakts reagiert sie wahrscheinlich jeweils in weniger als einer Million Jahren vollständig mit dem Mantelgestein – geologisch ist das nur ein Augenblick.

Im übrigen muß die Flüssigkeit nicht immer gegen die Schwerkraft nach oben steigen. So weiß man aus geodätischen und seismologischen Messungen, daß die Grenzfläche zwischen Mantel und Kern nicht völlig eben ist, sondern um einige hundert Meter bis wenige Kilometer von der idealen Kugelform abweicht. Metallische Schmelze könnte also aus Regionen, wo die Kern-MantelGrenze höher liegt, auch seitlich abwärts in das Mantelgestein sickern.

Nach alldem ist die Zone der Durchdringung und direkten chemischen Reaktion zwischen Kernflüssigkeit und Mantelgestein nicht mehr als einige hundert oder allenfalls wenige tausend Meter dick. Dies erklärt, warum mit seismologischen Methoden an der KernMantel-Grenze keine Anzeichen einer Reaktion zu finden sind: Die Mächtigkeit der Reaktionszone liegt unterhalb der typischen seismischen Wellenlängen. Außerdem ist jeweils nur ein so geringer Teil der Reaktionszone flüssig, daß sich die Geschwindigkeit seismischer Wellen dadurch nicht meßbar verändert.


Die Verfrachtung von Reaktionsschutt

Lassen sich mit diesen chemischen Reaktionen an der Kern-Mantel-Grenze die Eigenschaften der D"-Schicht erklären? Wir glauben ja. Den Schlüssel liefert ein komplizierter indirekter Vorgang, den letztlich die Wärmeenergie des Kerns in Gang setzt. Weil sie nämlich das Gestein an der Mantelbasis aufheizt, steigen Massen, deren Dichte sich dadurch verringert, in Zeiträumen von einigen hundert Millionen Jahren aufwärts – das ist viel langsamer, als die Reaktion zwischen Kern- und Mantelmaterial dauert, die nicht einmal eine Jahrmillion benötigt. Diese Konvektionsströmung reißt die Reaktionszone auf und schleppt die Reaktionprodukte mit nach oben, während nachdringendes frisches Mantelgestein der aggressiven Metallschmelze ausgesetzt wird. Damit bildet sie sozusagen den unteren Ansatz des Systems von Strömungswalzen, die am Ubergang vom oberen Mantel zur Erdkruste die tektonischen Platten verschieben.

Flüssigkeiten werden von der Konvektionsströmung nicht sehr weit mitgeführt; was der unterste Mantel an Metallschmelze aufgesogen hat, fließt wegen des höheren spezifischen Gewichts aus dem porösen Gestein wie aus einem Schwamm wieder heraus, wenn dieses nach oben steigt. Dagegen werden die eisenreichen kristallinen Produkte der Reaktionszone – wie Wüstit – zunächst in den Mantelstrom einbezogen und ein ganzes Stück nach oben mitgeschleppt, bevor ihre höhere Dichte auch sie nach unten zurücksinken läßt. Diese Feststoffe ähneln dem teilweise hochwallenden Bodensatz aus Gewürzen in einem Glühweintopf.

Nach Modellrechnungen, die Louise Kellogg von der Universität von Kalifornien in Davis, Norman H. Sleep von der Stanford-Universität in Kalifornien und andere durchgeführt haben, können die metallischen Legierungen in begrenzten Abschnitten der Reaktionszone einige hundert Kilometer weit nach oben mitgeschleppt werden – ein Vorgang, der zehn bis hundert Millionen Jahre dauert. Schließlich aber sollten sich die legierungsreichen Substanzen an der Basis des Mantels ansammeln, und zwar bevorzugt in den Aufstromgebieten.

Der Verwirbelungseffekt der Konvektionsströmung begünstigt also das Eindringen von Material aus dem Kern in den Mantel und erzeugt lokal eine relativ dicke Vermischungszone: ein seismisch äußerst heterogenes Konglomerat aus Reaktionsprodukten und unverändertem Mantelgestein. Wo sich der Mantelstrom dagegen abwärts bewegt, sollte er den Bodensatz verteilen, also die D"-Schicht ausdünnen und die KernMantel-Grenze nach unten eindellen (Bild 5).

Dieses nun schon Jahrmilliarden dauernde Umverteilen des legierungsreichen Bodensatzes an der Basis des Mantels bietet eine plausible Erklärung für die seismologisch feststellbaren Mächtigkeitsunterschiede der D"-Schicht. Tatsächlich ist die berechnete Höhe der Haufen aus aufgeschüttetem Bodensatz vergleichbar mit der beobachteten maximalen Mächtigkeit dieser Schicht.

Im übrigen könnte der Konvektionsstrom auch anderes dichtes Material oder Reaktionsprodukte aus dem Kern in Bewegung gesetzt haben. Möglicherweise sammelt sich unterhalb der Kern-Mantel-Grenze gleichfalls eine allerdings dünnere – Schlackeschicht an und bildet so ein Gegenstück zur D"Schicht an der Oberseite der Grenze.

Auswirkungen an der Erdoberfläehe

Angesichts solch heftiger Dynamik in 2900 Kilometer Tiefe kann es nicht überraschen, daß die im Kern-Mantel-System wirksamen Kräfte sich auf der ganzen Erde spürbar auswirken. Nachweislich beeinflussen sie mindestens zwei Phänomene, die an der Erdoberfläche wahrnehmbar sind: das als Nutation bekannte leichte Taumeln der Erdachse und das Erdmagnetfeld.

Wie das geomagnetische Hauptfeld entsteht, ist – zumindest in groben Zügen – gut bekannt (Spektrum der Wissenschaft, Februar 1990, Seite 52). Es beruht nicht auf dem gewöhnlichen Magnetismus von Eisen (das sich bei den Drücken und Temperaturen im Kern nicht mehr magnetisch verhält), sondern auf einem Dynamoeffekt: Die Zirkulation des aus flüssigem Metall bestehenden äußeren Kerns wirkt wie ein elektrischer Strom, der durch ein Kabel fließt, und erzeugt wie dieser ein Magnetfeld um sich herum.

Auch die Zirkulation des äußeren Kerns beruht auf Konvektionsströmungen: Heiße Schmelze aus größeren Tiefen steigt in die kühleren oberen Bereiche auf, während kühlere Flüssigkeit aus der Nähe der Kern-Mantel-Grenze absinkt. Eine weitere Triebkraft könnte die Trennung von Feststoffen und Flüssigkeiten sein.

Die Umwandlung mechanischer Strömungsenergie in magnetische Energie ist Gegenstand der Magnetohydrodynamik – einer Kombination von Hydrodynamik (Physik der Strömung von Flüssigkeiten) und Elektromagnetismus. Die mathematischen Gleichungen dafür sind jedoch so kompliziert, daß noch niemand sie allgemeingültig lösen konnte. Die erzielten Lösungen basieren durchweg auf physikalisch plausiblen, doch stark vereinfachenden Annahmen. Deswegen waren solche Feinheiten des Erdmagnetfeldes wie die nachweisbaren leichten Schwankungen der Feldstärke damit bisher nicht zu erfassen.

Eine der üblichen Vereinfachungen ist die Annahme, daß der metallische Kern von einer elektrisch isolierenden Region umgeben sei, nämlich dem Mantel. Nach unseren Ergebnissen ist der unterste Teil des Mantels aber nicht vollständig nichtleitend, sondern besteht aus einer heterogenen Mischung von leitenden Metalllegierungen und isolierenden Silizaten. Dies in Rechnung stellend, hat Friedrich H. Busse von der Universität Bayreuth kürzlich die magnetohydrodynamischen Gleichungen neuerlich ausgewertet. Dabei entdeckte er eine neue Klasse mathematischer Lösungen des Dynamoproblems, die direkt aus den Schwankungen der elektrischen Leitfahigkeit im untersten Mantel resultieren.

Vor allem zwei Faktoren erwiesen sich als maßgeblich. Zum einen sind die geomagnetischen Feldlinien im flüssigen Metall des äußeren Kerns regelrecht eingefroren, so daß sie sich mit dessen Konvektionsströmungen bewegen. Zum zweiten stören in die D"-Schicht eingebettete metallische Bereiche die horizontale Verschiebung dieser wandernden Magnetfeldlinien, so daß sie abgelenkt oder zusammengedrängt werden. In beiden Fällen würden nach Busses Berechnungen lokale Magnetfelder an der Basis des Mantels erzeugt, die Ungleichmäßigkeiten des geomagnetischen Feldes wie die an der Erdoberfläche beobachteten Schwankungen der Feldstärke erklären könnten.

Das Taumeln der Erdachse wird vermutlich auf ähnliche Weise von der D"-Schicht beeinflußt. Nach herkömmlicher Vorstellung rührt es von Gezeitenkräften her, die einerseits die Reibung zwischen der festen Erdoberfläche und der Atmosphäre sowie den Ozeanen und andererseits die Gravitations-Wechselwirkung der Erde mit Sonne und Mond umfassen.

Bruce A. Buffett aus der Arbeitsgruppe von Irwin I. Shapiro an der Harvard-Universität in Cambridge (Massachusetts) hat die Nutation kürzlich mittels Interferometrie mit sehr großen Basislängen vermessen – eine Methode, mit der Radioastronomen hochpräzise Positionsbestimmungen von Himmelskörpern vornehmen. Dabei entdeckte er eine Komponente, die nicht durch Gezeitenkräfte erklärbar war. Angeregt durch die Resultate unserer Experimente mit Diamantstempelzellen, erwog er die Möglichkeit, daß eine dünne Reaktionszone an der Kern-MantelGrenze dafür verantwortlich sein könnte.

Wie er herausfand, ist dies tatsächlich möglich, sofern die Schicht elektrisch leitendes Material enthält und einige hundert Meter dick ist. Die vom Kern ausgehenden wandernden Magnetfeldlinien induzieren dann in dem leitenden Gemisch schwache elektrische Ströme mit eigenen Magnetfeldern, die mit den Feldlinien des geomagnetischen Hauptfeldes in Wechselwirkung treten. Dadurch verhalten sich Kern und Mantel gleichsam wie zwei Magnete – ein starker und ein schwacher –, die einander abstoßen. Diese Wechselwirkung aber beeinflußt die Nutation. Schon wenn die D"-Schicht nur 15 bis 20 Prozent der von uns postulierten elektrisch leitenden Verbindungen Eisensilizid und Wüstit enthielte, ließe sich das nicht von Gezeitenkräften verursachte Taumeln der Erdachse erklären.

Vielleicht beeinflussen die elektromagnetischen Eigenschaften der KernMantel-Grenze auch die Umkehrungen des Erdmagnetfeldes, die in Abständen von einigen 100 000 Jahren auftreten (Spektrum der Wissenschaft, Juli 1988, Seite 84). Wenn das Feld sich dabei um 180 Grad dreht, scheinen diexmagnetischen Pole bevorzugt einer bestimmten Bahn zu folgen; besonders deutlich ist dies bei den erdgeschichtlich jüngsten Umkehrungen zu erkennen. S. Keith Runcorn, der am Imperial College in London und an der Universität von Alaska in Fairbanks tätig ist, hat verschiedene Möglichkeiten gefunden, wie die Leitfähigkeitsunterschiede innerhalb der D"-Schicht den Weg der Pole lenken könnten.

Über das geomagnetische Feld wirkt die Dynamik der Kern-Mantel-Grenze gewissermaßen bis in den Weltraum hinein. Nachdem die Bedeutung dieser so nahen und doch unerreichbaren Region für unseren Planeten erkannt ist, werden technische Fortschritte sicherlich helfen, sie noch besser zu charakterisieren und aufzuklären, wie sie die Entwicklung der Erde geprägt hat und weiter prägt.

Literaturhinweise

Structure of the Core-Mantle Transition Zone: A Chemical and Thermal Boundary Layer. Von Thorne Lay in: EOS, Band 70, Heft 4, Seiten 49 bis 59; 24. Januar 1989.

The Nature of the Earth’s Core. Von Raymond Jeanloz in: Annual Review of Earth and Planetary Sciences, Band 18, Seiten 357 bis 386 (1990).

Earth’s Core-Mantle Boundary: Results of Experiments at High Pressures und Temperatures. Von Elise Knittle und Raymond Jeanloz in: Science, Band 251, Seiten 1438 bis 1443; 22. März 1991.

Deep Interior of the Earth. Von John A. Jacobs. Chapman & Hall, 1992.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 1993, Seite 48
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

Kennen Sie schon …

Spektrum - Die Woche – Die Scham ums Haar

Vor etwa 100 Jahren begann der Kampf gegen weibliches Körperhaar. Sogar ein medizinischer Begriff wurde für Behaarung, die nicht den Schönheitsidealen entsprach, eingeführt. Die Kulturgeschichte der Körperbehaarung ist Thema der aktuellen »Woche«. Außerdem: neue Erkenntnisse aus der Schlafforschung.

Spektrum - Die Woche – Später Kinderwunsch

Die biologische Uhr tickt, aber geht sie auch richtig? Forschung zu spätem Kinderwunsch kommt zu ganz anderen Ergebnissen, als der simple Blick aufs Alter vermuten lässt. Außerdem reisen wir in die Zeit der Hethiter und einer außerordentlich mächtigen Frau.

Spektrum - Die Woche – Eine Waage für das Vakuum

Nirgends ist der Unterschied zwischen Theorie und Praxis so groß wie bei der Energiedichte des Vakuums. Nun soll das Nichts seine Geheimnisse preisgeben. Außerdem ist letzte Woche die Weltklimakonferenz zu Ende gegangen. Das Ergebnis war mager – was bedeutet das für die Zukunft der Konferenzen?

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.