Der große Kometen-Crash
Nachdem Shoemaker-Levy 9 vom Schwerefeld des Jupiter eingefangen worden und bei seiner letzten Annäherung zerbrochen war, stürzten die Fragmente nun nacheinander in die Atmosphäre des Riesenplaneten. Die wissenschaftliche Auswertung der spektakulären Explosionen beim Einschlag hat freilich gerade erst begonnen.
Für viele war es das bedeutendste astronomische Ereignis des Jahrhunderts. Im Abstand von jeweils wenigen Stunden wurde der größte Planet des Sonnensystems von insgesamt 21 riesigen Brocken (A, B, C, D, E, F, G, H, K, L, M, N, P2, Q2, Q1, R, S, X U, V, W) aus Eis und Staub mit Durchmessern bis zu vier Kilometern getroffen. Ähnliches mag dem Gasriesen in der Vergangenheit schon mehrfach widerfahren sein; erstmals jedoch konnten Menschen ein solches Ereignis sozusagen live beobachten. Astronomen in aller Welt hatten ihre Teleskope und Meßgeräte auf Jupiter ausgerichtet, um das seltene kosmische Schauspiel zu verfolgen. Ihre Erwartungen wurden nicht enttäuscht.
Im Vorfeld des Ereignisses vermochte man die Einschlagzeit der einzelnen Kometentrümmer bis auf wenige Minuten genau zu berechnen. Es war allerdings schwierig, die Wirkung vorherzusagen zu wenig wußte man über Größe, Aufbau und Zusammensetzung der kosmischen Geschosse (Spektrum der Wissenschaft, Juli 1994, Seite 18). Auf Photographien erschienen sie unterschiedlich hell, und man vermutete, daß die Helligkeit eng mit der Größe und damit auch mit den zu erwartenden Effekten korreliert sei. Unsicherheiten blieben jedoch; denn genaugenommen war die Intensität des reflektierten Sonnenlichts lediglich ein Maß für die Menge an Staub um ein Fragment herum, während dieses selbst sich auch mit den größten Teleskopen nicht direkt beobachten ließ. Darum war nicht auszuschließen, daß manche der eher unscheinbaren Trümmerstücke größer und kompakter sein und mithin dramatischere Erscheinungen hervorrufen würden als einige der hellen mit ausgeprägter Staubhülle.
Am 16. Juli schließlich tauchte gegen 22 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit (MESZ) als erstes Fragment A mit einer Geschwindigkeit von 60 Kilometern pro Sekunde auf der erdabgewandten Seite des Jupiter in dessen Atmosphäre ein. Zwanzig Minuten später, als die Einschlagstelle am Horizont des Planeten erschien, registrierten zahlreiche Observatorien – vom spanischen Calar Alto, wo das Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg seine Teleskope betreibt, über die Station der Europäischen Südsternwarte ESO auf La Silla (Chile) bis zu einem 60-Zentimeter-Teleskop in der Antarktis, das die Universität von Chicago dort aufgestellt hatte – im infraroten Wellenlängenbereich einen riesigen Feuerball, der heller als der innerste Jupitermond Io leuchtete. Das Hubble-Weltraumteleskop entdeckte wenig später im sichtbaren Spektralbereich an der Einschlagstelle einen dunklen, kreisförmigen Fleck, der von einer ringartigen Struktur umgeben war.
Hatten die Astronomen vorher noch Zweifel gehegt, ob die Einschläge überhaupt bemerkenswerte Spuren hinterlassen würden, so hofften sie jetzt auf eine Steigerung. Um so größer war die Überraschung, als das zweite Trümmerstück B, in die Jupiteratmosphäre eintauchte; es war auf Photographien stets heller erschienen als A, so daß es eigentlich auch größer sein sollte. Doch ersten Meldungen zufolge gelang es nur zwei Großteleskopen auf dem Mauna Kea (Hawaii), einen schwachen Feuerball zu entdecken. D. Rabinowitz und Harold Butner meinen am Las-Campanas-Observatorium (Chile) zu diesem Zeitpunkt eine sieben Minuten andauernde Rotverfärbung des Jupitermondes Io wahrgenommen zu haben. Sollte dies auf reflektiertes Licht vom Einschlag zurückzuführen sein, wäre anzunehmen, daß B vor dem Eintauchen in die Atmosphäre in eine diffuse Wolke aus kleineren Brocken zerfallen war, die in einem gewaltigen Metvorschauer auf den Planeten regneten.
Mit wenigen Ausnahmen erzeugten alle nachfolgenden Einschläge wieder im Infrarot-Spektralbereich deutlich wahrnehmbare Feuerbälle, die bis zu eine halbe Stunde lang hell aufleuchteten. Als G, das zweithellste Kometenstück, am 18. Juli gegen 9 Uhr 30 MESZ auf Jupiter stürzte, entstand ein langanhaltender Lichtblitz, der manche der elektronischen Detektoren bis an die Sättigungsgrenze aussteuerte. Die Einschlagstelle übertraf mit 20000 bis 30000 Kilometern – dem Zwei- bis Dreifachen des Erddurchmessers – den Großen Roten Fleck deutlich an Größe; ein wellenartiger Ring breitete sich um sie aus (Bild 3). Selbst Tage nach der Kollision war sie sogar mit kleinen Amateurfernrohren noch als dunkle Stelle erkennbar. Auf Bildern des Weltraumteleskops zeigten sich zwei dunkle Ringe (Bild 2)
Eine ähnlich große Störungszone hinterließ Fragment H, das zwölf Stunden nach G einschlug, in der Jupiteratmosphäre. Wie Messungen mit dem 3,60Meter-Teleskop der ESO auf La Silla bei 10 Mikrometern Wellenlänge zeigten, erreichte die Helligkeit des Feuerballs in diesem Spektralbereich nahezu die des Planeten selbst. Auch die nachfolgenden Fragmente K (Bild 1 ) und L riefen ähnlich dramatische Effekte hervor. (Fragment 1 konnte letztmals im Dezember 1993 auf Photographien des Kometen Shoemaker-Levy 9 gesehen werden; vermutlich ist es, wie einige andere auch, in kleinere Stücke zerfallen.)
Mit photometrischen Messungen gelang es, die zeitliche Entwicklung des H-Feuerballs zu beobachten. Dabei erlebten die Astronomen eine weitere Überraschung: Die Lichtkurven, die bei der EiSO in La Silla, bei der südafrikanischen Sternwarte in Sutherland und bei dem Observatorium auf dem Pic du Midi in den französischen Pyrenäen aufgenommen wurden, wiesen bereits wenige Minuten vor Beginn des eigentlichen Helligkeitsanstiegs – der beim Sichtbarwerden der Einschlagstelle am Jupiterrand einsetzte – ein schwaches Maximum auf. Dieser Blitz stammte vermutlich vom Einschlag selbst, als der Aufschlagort noch nicht direkt von der Erde aus zu sehen war. Offensichtlich hatten Wolken einen Teil des Lichts gleichsam um die Krümmung des Riesenplaneten herumgestreut. Die Wissenschaftler erhoffen sich von diesen Beobachtungen nun wichtige Erkenntnisse über Aufbau und Zusammensetzung dieser Wolkenschichten.
Völlig unerwartet blieben die Einschlagstellen lange Zeit erkennbar nicht nur im infraroten Spektralbereich, Nqro sie sich infolge höherer Temperatur von ihrer Umgebung abhoben, sondern auch im sichtbaren Licht. Je mehr Fragmente nach und nach wie die Salve eines überdimensionalen Maschinengewehrs mit 216000 Kilometern pro Stunde in die Jupiteratmosphäre stürzten, desto mehr ähnelte der Gasriese einer zerschossenen Zielscheibe: Viele dunkle Flecken durchzogen den Streifen zwischen dem 45. und 50. südlichen Breitengrad des Planeten.
Einige der Einschlagstellen, die fast wie Löcher in der überwiegend aus Wasserstoff und Helium bestehenden Gashülle aussahen, vergrößerten sich noch, als nachfolgende Kometentrümmer hineinstürzten. So fielen die Fragmente E und F im Abstand von 9,5 Stunden fast auf dieselbe Stelle des Planeten, der sich in 9,8 Stunden einmal um seine Achse dreht; noch einmal neun Umläufe später traf Fragment T diese Region. Ebenso gingen die Fragmente G, R und S nach zwei, sieben beziehungsweise acht weiteren Umdrehungen des Planeten in der Nähe der Stelle nieder, wo zuvor das Bruchstück D eingedrungen war. Dementsprechend schwierig war es mitunter für die Astronomen, neu hinzugekommene Einschlagstellen von älteren zu unterscheiden.
Wie eindrucksvoll der Anblick dieser riesigen Flecken ist, von denen Ende Juli noch niemand wußte, wie lange sie sichtbar sein oder wie sie sich in der turbulenten Jupiteratmosphäre verändern würden, geht aus einer Mitteilung des am Kitt-Peak-Observatorium in Arizona beobachtenden Astronomen Clark R. Chapman hervor, die von der Pressestelle der ESO ebenso verbreitet wurde wie die sonstigen weltweit dort eingehenden Beobachtungsberichte: "Ich möchte dies in den historischen Kontext der Jupiter-Beobachtungen stellen. Es ist jetzt 5 Uhr 30 Weltzeit (7 Uhr 30 MESZ) am 19. Juli. Die Vorderseite der Einschlagstelle von Fragment G befindet sich nun ungefähr auf dem Zentralmeridian. Aufgrund meiner eigenen langjährigen Erfahrung mit Jupiter-Beobachtungen und meiner Kenntnis der historischen Aufzeichnungen seit den frühen Skizzen von Hooke und Cassini" – gemeint sind der englische Naturforscher Robert Hooke (1635 bis 1703), der 1664 als erster den Großen Roten Fleck sah, sowie der Astronom Giovanni Domenico Cassini (1625 bis 1712), der zunächst in Bologna tätig und ab 1669 Direktor des Pariser Observatoriums war, wo er die Rotationsperiode des Jupiter bestimmte "möchte ich behaupten: Das ist der auffälligste visuell wahrnehmbare Fleck, der jemals auf Jupiter beobachtet wurde."
Nach den gewaltigen Eruptionen, die G, H, K und L ausgelöst hatten, rechnete man beim hellsten aller Fragmente Q1, mit einem noch größeren Schauspiel. Doch obwohl der Absturz deutlich registriert wurde, blieben seine Auswirkungen weit hinter den Erwartungen zurück. Der Grund dafür ist noch nicht bekannt, könnte aber darin liegen, daß sich die Trilmmerstücke, die sich nach dem Auseinanderbrechen von Shoemaker-Levy 9 wie Perlen auf einer imaginären Schnur aufgereiht hatten, in Aufbau und Zusammensetzung unterschieden.
So war auffällig, daß alle Fragmente, die aus dieser gedachten Verbindungslinie in Richtung des schwach ausgeprägten Staubschweifs versetzt waren, entweder auseinanderbrachen, scheinbar verschwanden oder ohne begleitende Explosion in die Jupiteratmosphäre eintauchten: Vielleicht bestanden sie aus leichterem Material und wurden so, stärker vom Druck des Sonnenwindes beeinflußt. Demnach wäre der ursprüngliche Kometenkern ein heterogenes Konglomerat gewesen. Weil vermutlich alle seine unterschiedlichen Bestandteile aus der Frühzeit des Sonnensystems stammten, als sich unser Zentralgestirn und die Planeten zu bilden begannen, wird eine genaue Analyse der Fragmenteigenschaften auch Aussagen über die Beschaffenheit der damals – vor 4,6 Milliarden Jahren vorhandenen Materie in der protostellaren Wolke erlauben.
Nachdem mit Fragment W am 22. Juli gegen 8 Uhr MESZ das letzte Bruchstück des Kometen Shoemaker-Levy 9 in der Gashülle Jupiters verschwunden war, begann die genaue Auswertung der umfangreichen Beobachtungsdaten einschließlich der Messungen verschiedener Raumsonden. Die Arbeiten werden sicherlich Monate dauern.
Ein erstes Ergebnis lag immerhin schon eine Woche später vor. Wissenschaftler des Internationalen Instituts für Radioastronomie im Millimeterwellenbereich (IRAM) und des französischen Observatoriums Meudon konnten mit dem 30-Meter-Radioteleskop auf dem 2850 Meter hohen Pico Veleta in der spanischen Sierra Nevada sowie mit dem James-Clerk-Maxwell-Teleskop auf Hawaii an den Einschlagstellen verschiedener Fragmente Kohlenmonoxid, Schwefelkohlenstoff und Blausäure nachweisen. Da diese Gase in der Jupiter-Atmosphäre praktisch nicht vorkommen, müssen sie aus den Kometentrümmern stammen oder bei den hohen Einschlagtemperaturen durch chemische Reaktion zwischen Kometenmaterial und der Gashülle Jupiters entstanden sein.
Auch weiterhin werden viele Teleskope auf den Riesenplaneten gerichtet bleiben: Die Ende Juli noch immer sichtbaren Flecken weisen in verschiedenen Spektralbereichen ein unterschiedliches Erscheinungsbild auf, und nachfolgende Beobachtungen ihrer Struktur und ihrer Veränderungen werden wohl wichtige Informationen über den Aufbau und die Dynamik der Jupiteratmosphäre liefern. Den Berufsastronomen kommen dabei nun die zahlreichen Amateure zu Hilfe, deren Instrumentarium sich zwar nicht mit den Teleskopen der großen Observatorien messen kann, die aber gleichwohl durch ihren engagierten Einsatz und in bewährter Tradition durch zeichnerisches Festhalten von Oberflächendetails eine nahezu lückenlose Dokumentation der Vorgänge auf Jupiter erlauben.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1994, Seite 18
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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