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Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaft: Der Homo oeconomicus auf dem Prüfstand

Die diesjährigen Preisträger haben ihre Disziplin um ein neues, ungewohntes Forschungsmittel bereichert: das Experiment.


Der Rang der Wirtschaftswissenschaft unter den exakten Wissenschaften ist nicht ganz unangefochten. Sie ist so jung, dass Alfred Nobel noch keinen Anlass hatte, auch ihr einen Preis zu stiften – das hat erst 1968 die schwedische Reichsbank in seinem Namen nachgeholt. Zudem sind die Gesetze, deren Folgen sie studiert, die des menschlichen Verhaltens und damit weit weniger universell als die der Natur. Obendrein scheint sie mit der Meteorologie und der Astronomie das traurige Schicksal zu teilen, ihren Gegenstand nicht durch das Experiment gezielt befragen zu können: Es bleibt ihr nichts übrig, als ihre Theorien mit Hilfe sorgfältiger Beobachtung zu bilden und zu überprüfen.

Das war zumindest die hergebrachte Auffassung. Das Verdienst der diesjährigen Nobelpreisträger besteht darin, dieses Vorurteil widerlegt und in mehr als dreißigjähriger Arbeit das Experiment zum verlässlichen und aussagekräftigen Forschungswerkzeug auch in der Ökonomie gemacht zu haben.

Da es wesentlich um die Motive geht, die ein Wirtschaftssubjekt zu dieser oder jener Entscheidung veranlassen, nimmt es nicht wunder, dass einer der Preisträger Seelenforscher ist: Daniel Kahneman, 1934 in Tel Aviv geboren und zugleich israelischer wie amerikanischer Staatsbürger, lehrt Psychologie an der Universität Princeton (New Jersey). Gemeinsam mit seinem Landsmann und Fachkollegen Amos Tversky, der durch seinen Tod 1996 die gleichfalls verdiente Nobelpreiswürde verpasste, stellte er Versuchspersonen vor Alternativen der folgenden Art: "Würden Sie lieber 80 Dollar auf die Hand bekommen oder an einem Glücksspiel teilnehmen, bei dem Sie mit 85 Prozent Wahrscheinlichkeit 100 Dollar bekommen und mit 15 Prozent gar nichts?"

Die meisten Leute entscheiden sich für die 80 Dollar und lassen sich nicht auf die Lotterie ein. Das ist insofern bemerkenswert, als jeder vernünftig handelnde Mensch die Lotterie bevorzugen müsste.

Die Größe, auf die es ankommt, ist nämlich der so genannte Erwartungswert: Man nehme das, was ein gewisses Ereignis einbringt, mal der Wahrscheinlichkeit seines Eintretens und zähle diese Produkte für alle denkbaren Ereignisse zusammen. Der Erwartungswert der Auszahlung aus der genannten Lotterie beträgt demnach 85 Dollar und ist damit höher als die sichere Auszahlung von 80 Dollar.

Die klassische Wirtschaftstheorie betrachtet den Menschen als "rationalen Nutzenmaximierer": Erstens ist er auf seinen eigenen Vorteil bedacht und nichts sonst; zweitens verfügt er über genügend Informationen, um die Chancen, die das Glücksspiel Leben ihm bietet, realistisch einzuschätzen ("Das Risiko, dass das Auto in den nächsten zwei Jahren zusammenbricht, ist kleiner als 30 Prozent"); drittens berechnet er nach den Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung für jede Handlungsalternative ("TÜV oder Verschrotten") den Erwartungswert des Nutzens und entscheidet sich dann für diejenige mit dem höchsten Wert.

Dass die meisten Menschen in Wahrheit die Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung nicht beherrschen und ihre Einschätzungen zukünftiger Chancen sehr nebelhaft sind, tut der Theorie zunächst noch keinen Abbruch. Vielleicht wenden wir die Rechenregeln ja intuitiv richtig an, so wie wir auf dem Fahrrad das Gleichgewicht halten, ohne über Kräfteparallelogramme auch nur nachzudenken. Und wenn der eine die Lebenserwartung seines Autos maßlos über- und der andere sie ebenso maßlos unterschätzt, dann ärgern sich zwar hinterher beide Autobesitzer, aber nicht der Theoretiker; denn für den mitteln sich individuelle Schätzfehler einfach aus.

Kahneman und Tversky fanden bei ihren Experimenten jedoch nicht nur zufällige, sondern systematische Schätzfehler (siehe ihren Artikel "Risiko nach Maß – Psychologie der Entscheidungspräferenzen", Spektrum der Wissenschaft 3/1982, S. 89). So sind wir einerseits unangemessen risikoscheu – indem wir den 80-Dollar-Spatz in der Hand der 100-Dollar-Taube auf dem leicht erreichbaren Dach vorziehen –, andererseits aber irrational risikofreudig, wenn es dagegen darum geht, etwas zu verlieren statt zu gewinnen: Bevor wir einen sicheren Verlust hinnehmen, lassen wir uns lieber auf ein Glücksspiel mit weitaus schlechterem Erwartungswert ein. Generell kommt es darauf an, wo der Mensch den Bezugspunkt seiner Finanzen setzt, oberhalb dessen alles als Gewinn und unterhalb alles als Verlust zählt.

Ursachen der Unvernunft

Eigentlich ist es auch belanglos, ob ich von einer Lotterie, deren Ziehung in zwei Stufen abläuft, das Zwischenergebnis erfahre oder nicht. Gleichwohl bewerten Versuchspersonen die beiden äquivalenten, aber unterschiedlich präsentierten Lotterien deutlich verschieden. Das ist das so genannte Allais-Paradox.

Sind wir also in unseren wirtschaftlichen Entscheidungen hoffnungslos irrational? Keineswegs. Kahneman und Tversky haben aus den Ergebnissen ihrer Experimente eine Theorie entwickelt, die zumindest einige unserer systematischen Fehler erklärt. Im Gegensatz zum theoretischen Homo oeconomicus müssen wir unsere Entscheidungen in der Regel auf spärliche Informationen gründen. Darum neigen wir zwangsläufig dazu, Einzelereignisse für bedeutsamer zu nehmen, als sie sind – mit dem Effekt, dass wir geringe Wahrscheinlichkeiten systematisch über- und große unterschätzen. Mit den so verfälschten Werten sehen dann in der Tat äquivalente Lotterien verschieden aus, was das Allais-Paradox erklärt.

Unsere systematische Risikoscheu wird dagegen aus einer Alltagserfahrung verständlich: Das zweite Stück Kuchen zum Kaffee schmeckt nicht mehr ganz so gut wie das erste, zwei Autos machen weniger als doppelt so viel Vergnügen wie eines, und die zweite Million beglückt ihren Besitzer weitaus weniger als die erste. Wer diesem Prinzip folgt, bewertet konsequenterweise eine sichere Einnahme höher als eine Lotterie mit gleichem Erwartungswert.

Die Experimente des zweiten Preisträgers Vernon L. Smith beschäftigen sich ebenfalls damit, die Motive der Wirtschaftssubjekte zu ergründen, aber auf umgekehrtem Wege: Während Kahneman seine Versuchspersonen fragt, was sie am liebsten wollen, gibt Smith ihnen vor, was sie zu wollen haben, beobachtet dann, ob ihr Verhalten dem echter Marktteilnehmer entspricht, und schließt daraus zurück, ob er ihnen realistische Motive vorgeschrieben hat (siehe "Experimentelle Marktwirtschaft" von Vernon L. Smithund Arlington W. Williams, Spektrum der Wissenschaft 2/1993, S. 68).

Smith, heute Professor für Wirtschafts- und Rechtswissenschaften an der George-Mason-Universität in Arlington (Virginia), schickt seine Versuchspersonen auf einen fiktiven Markt, auf dem sie als Käufer oder Verkäufer eines ebenfalls fiktiven Gutes auftreten sollen – sagen wir Äpfel (im Deutschen hat sich der Name "Apfelmarkt" eingebürgert). Dabei gibt er ihnen jeweils ein persönliches Geheimnis mit: jedem Verkäufer einen reservation price, den man sich am besten als Selbstkostenpreis vorstellt, denn darunter darf er seinen Apfel nicht verkaufen, und die Differenz zwischen Verkaufs- und Selbstkostenpreis bleibt ihm als Gewinn. Entsprechend bekommt jeder Käufer vorgeschrieben, was ihm der Besitz eines Apfels wert ist. Die Differenz zwischen dieser Schmerzgrenze und dem Kaufpreis kann er als Gewinn einstreichen. Um die Versuchsteilnehmer zu realistischem Denken anzuhalten, sind diese Gewinne im Gegensatz zu den Äpfeln nicht fiktiv, sondern werden am Ende ausgezahlt.

Käufer wie Verkäufer tun – im Experiment wie in der Realität – gut daran, ihre persönlichen Geheimnisse für sich zu behalten. Sie müssten sonst befürchten, nur Angebote in unangenehmer Nähe ihrer jeweiligen Schmerzgrenze zu erhalten. Aus diesem Grund sind diese Grenzpreise in der Realität kaum beobachtbar, was den Ansatz von Smith, mit künstlich gesetzten Werten dafür zu arbeiten, so attraktiv macht.

Auf dem Markt handeln nun Käufer und Verkäufer den Preis jedes einzelnen Apfels aus, indem sie nach Belieben Kauf- und Verkaufsangebote in den Raum werfen, bis ein Käufer oder Verkäufer den zuletzt genannten Preis akzeptiert. In dieser double oral auction stellt sich regelmäßig nach wenigen "Markttagen" ein Gleichgewichtspreis ein, zu dem – mit geringen Abweichungen – praktisch alle Geschäfte abgeschlossen werden.

Simulation von Börsenkrächen

Im weiteren Verlauf seiner Forschungen ging Smith über seinen ursprünglichen Ansatz hinaus, durch seine Vorgaben die unbeobachtbaren Motive echter Marktakteure zu imitieren. Nun variierte er, bei ansonsten unverändertem Aufbau des Experiments, die Marktbedingungen. Welche Gleichgewichtspreise stellen sich ein, und wie schnell, wenn beispielsweise die Verkäufer gezwungen werden, sich an ihren erstgenannten Preis zu halten? Oder wenn die Käufer nicht selbst Preise nennen dürfen, sondern nur die Wahl haben, von den immer tiefer sinkenden Angeboten des (einzigen) Verkäufers das bisher letzte zu akzeptieren oder auch nicht, wobei der erste Käufer, der akzeptiert, zum Zuge kommt (die "holländische Auktion")? Oftmals erhielten Smith und seine Nachfolger Ergebnisse, die eine Revision gängiger Theorien erzwangen.

In weiteren Experimenten gelang es ihnen sogar, spekulative Überhitzung von Märkten und Börsenkräche zu provozieren – Phänomene, die unter rational denkenden Marktteilnehmern theoretisch nicht vorkommen können, in der Realität jedoch offensichtlich stattfinden.

Die offizielle Darstellung der Schwedischen Akademie der Wissenschaften nennt zu den Laureaten nur wenige Vorläufer. Immerhin führte Reinhard Selten, Wirtschafts-Nobelpreisträger von 1994, schon 1959 Experimente zur Preisbildung in oligopolistischen Märkten durch. Sein Mitpreisträger John Nash (der Held des Films "A Beautiful Mind") verglich 1954 gemeinsam mit Kollegen die Ergebnisse von Experimenten mit den Vorhersagen der von ihm maßgeblich geprägten Spieltheorie.

Nachfolger gibt es dafür umso mehr. In der heutigen Wirtschaftsforschung gehört der experimentelle Zweig, gemessen an Veröffentlichungen und Konferenzen, zu den aktivsten. Der Einfluss der Preisträger auf ihr Fachgebiet ist kaum zu überschätzen. Der 1979 in der renommierten Zeitschrift "Econometrica" publizierte Beitrag "Prospect theory: An analysis of decision under risk" ist der meistzitierte Artikel dieser Zeitschrift.

Zu den neueren Experimenten zählen das Ultimatumspiel und seine Verwandten, über die Karl Sigmund, Ernst Fehr und Martin A. Nowak in dieser Zeitschrift berichtet haben (3/2002, S. 52). Die Ergebnisse zeigen nicht nur, dass wir Menschen uns regelmäßig Vorteile entgehen lassen, die der Homo oeconomicus selbstverständlich annehmen würde; es stellt sich auch heraus, dass wir mit diesem Verhalten am Ende besser dastehen.

Damit ist die Fiktion vom rationalen Nutzenmaximierer weiter demontiert: Er ist nicht nur in der Natur eher selten, sondern auch noch ziemlich ungeschickt. Jedenfalls verfehlt er sein ureigenstes Ziel, nämlich sein persönliches Wohlergehen, gegenüber denen, die dieses Ziel hinter brotlosen Idealen wie Fairness – oder Vergeltung – zurückstehen lassen.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 2002, Seite 22
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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