Der lange Atem des Nautilus. Warum lebende Fossilien leben
Als der damals 23jährige Doktorand Peter Ward in den Steilhängen am kanadischen Trent River auf Fossiliensuche ging, wußte er bereits, daß er sein Leben dem Studium der Ammoniten widmen würde. Inzwischen ist er Professor für Geowissenschaften an der Universität von Washington in Seattle. In seinem Buch ist er dem Thema Ammoniten treu geblieben, hat es aber um einige jener Organismen erweitert, die schon Charles Darwin (1809 bis 1882) als "lebende Fossilien" bezeichnet hatte.
Auf einer Zeitreise durch Paläo-, Me-so- und Känozoikum stellt Ward diese Kronzeugen der Evolution und ihrer Kri-sen – der Aussterbe-Szenarien der Perm- und Kreidezeit etwa – detailliert vor: Lingula, den Armfüßer, Limulus, den Pfeilschwanzkrebs, oder bodenbewohnende Mollusken wie die Pilgermuschel.
In Tagebuchform läßt er die Leser seine Tauchgänge vor den Fidschi- und Palau-Inseln miterleben, während derer er über mehrere Tage und Nächte ununterbrochen Nautilus, das Perlboot, mit elektronischen Methoden beobachtete. Es geht darum, welche Folgen Unterschiede im Bau des gekammerten Gehäuses dieses Mollusken im Vergleich mit den ausgestorbenen Ammonoideen für den Lebenszyklus und die Fortpflanzung haben (siehe "Der schwebende Nautilus" von Peter Ward, Lewis Greenwald und Olive E. Greenwald, Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1980, Seite 110). Warum konnten die Ammoniten auf zwei große Aussterbe-Wellen in der Erdgeschichte jeweils mit noch größerer Artenvielfalt reagieren, und weshalb wurden sie am Ende der Kreidezeit nach langer Existenz doch dahingerafft – während Nautilus noch heute lebt?
Ward führt einen Aufschluß an der spanischen Atlantikküste bei Zumaya als geologisches Dokument dieser Epoche an, woraus zunächst hervorzugehen schien, daß die Ammoniten schon kurz vor jener magischen Zeitenwende vor rund 65 Millionen Jahren immer seltener geworden seien. Kann man daraus den Schluß ziehen, daß sie nicht wie die Dinosaurier an den Folgen eines Meteoriteneinschlags starben?
Ward glaubt nicht an ungesicherte Lösungen. An einer weiteren Fundstelle in der Biscaya, die nur bei Ebbe untersucht werden kann, fand sich dann nach einem weiteren Jahrzehnt wissenschaftlicher Arbeit der Beweis, daß die Ammoniten sehr wohl formenreich bis an die kritische Kreide-Tertiär-Grenze lebten.
Der Leser erlebt die Verknüpfung paläontologischer Feldarbeit mit Labortätigkeit. Ward erzählt, wie er in Canyons umherkroch, sich Blessuren holte, mißtrauisch beäugt wurde – kurz: Er gibt Einblicke hinter die Tür des wissenschaftlichen Elfenbeinturms. Auch sieht er sich als Glied einer Kette, die von dem großen französischen Ammoniten-Spezialisten Alcide Charles d'Orbigny (1802 bis 1857) bis in die Gegenwart reicht; man spürt geradezu das Erhebende des Augenblicks, als Ward das Arbeitszimmer des Altmeisters im Naturhistorischen Museum in Paris betreten durfte.
Er straft auch die Behauptung Lügen, daß fossile wirbellose Tiere weniger attraktiv als Mammut, Flugechsen oder Dinosaurier seien. Dazu greift er gelegentlich zu theatralischen Mitteln, wenn er beispielsweise einen gewaltigen Urskorpion vor 400 Millionen Jahren spektakulär zwischen den Kiefern eines Fisches verenden läßt.
An zwei Stellen betritt der Invertebraten-Spezialist Ward fremdes Terrain. So beleuchtet er die Rolle der Dinosaurier bei der Entstehung der Blütenpflanzen; daß er dabei taxonomisch nicht ganz aktuell den Apatosaurus als "Brontosaurus" bezeichnet sowie dem bereits 1877 von Edward Drinker Cope (1840 bis 1897) benannten Amphicoelias das Prädikat "neuentdeckter Riesensauropode" verleiht, sind verzeihbare Unschärfen im Kontext eines gelungenen Kapitels. Und mit der spannenden Beschreibung der "Wiederentdeckung" des Quastenflossers Latimeria, von dessen fossilen Verwandten er selbst als 23jähriger die bisher geologisch jüngsten Schuppen am Trent River gefunden hatte, schließt Ward den Kreis der Langzeit-Überlebenden.
Zweifellos ist es ihm gelungen, die oft komplizierte paläontologische Wahrheitssuche am Beispiel der "lebenden Fossilien" adäquat darzustellen. Es lohnt sich, ihn auf seiner Zeitreise zu begleiten. Den Leser erwarten Wissenszuwachs und Lesevergnügen zugleich.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 1995, Seite 120
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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