Brian Goodwin: Der Leopard, der seine Flecken verliert.Evolution und Komplexität.
Aus dem Englischen von Thorsten Schmidt.
Piper, München 1997. 384 Seiten, DM 46,-.
Piper, München 1997. 384 Seiten, DM 46,-.
Die Molekularbiologie feiert ihre Erfolge, und Brian Goodwin, Biologe mit theoretischer Ausrichtung an der Open University in Milton Keynes (England), sieht mit Sorge, daß der Organismus als Ganzer dabei in den Hintergrund gerät. Er bekämpft in seinem Buch den Reduktionismus, genauer: dessen Ausprägung namens "genetisches Programm". Darunter versteht er das
Bemühen, Gestalt und Funktion eines Organismus ausschließlich auf Aktivitäten seiner Gene zurückzuführen. Dagegen setzt er die These: Die physikalischen Gesetzmäßigkeiten lassen überhaupt nur wenige "generische" Formen zu, und die Gene bestimmen lediglich, welche von ihnen realisiert wird. Damit würden sie aus ihrer allmächtigen Rolle herausgedrängt und zu nachgeordneten Modifikatoren.
Goodwin bedient sich für diese Auseinandersetzung einer wohlbekannten Metapher aus seinem Arbeitsgebiet, der des gefleckten Leoparden (siehe "Wie der Leopard zu seinen Flecken kommt" von John D. Murray, Spektrum der Wissenschaft, Mai 1988, Seite 88). Dieser wird hier zum Symbol für das genetische Programm und soll seine Flecken verlieren in dem Maße, wie dessen Überzeugungskraft verblaßt.
Kaum jemand bestreitet, daß selbst die vollständige Kenntnis der genetischen Ausstattung eines Organismus bei weitem nicht dafür ausreichen würde, seine Eigenschaften vorauszusagen. Dazu müßte man zusätzlich die Umgebung der Gene von der Eizelle bis zu allen
Umwelteinflüssen kennen sowie Gestalt und Funktion nach den Gesetzen der Physik und Chemie berechnen können – ein nach heutiger Kenntnis utopisches Unterfangen. Goodwin aber baut diese Extremposition des molekularbiologischen Reduktionismus in verkürzter Form ("Die Gene allein bestimmen die Gestalt") als Strohmann auf, um dann auf ihn einzuschlagen.
Nachdem so der Gegner erledigt ist, soll uns Acetabularia davon überzeugen, daß es nur wenige generische Formen gibt. Die einzellige Schirmalge des Mittelmeers besteht aus Fuß, Stiel und Hut und bildet während ihrer Entwicklung sogenannte Wirtel, haarförmige Fortsätze, die vermutlich unnütz sind und derer sie sich später im Leben auch wieder entledigt. Warum bildet sie diese Strukturen dann überhaupt?
Die gängige Erklärung solcher Phänomene bemüht eine historische Perspektive, zusammen mit einer gewissen entwicklungsbiologischen Trägheit: Die Ahnen unserer Alge benötigten solche Wirtel; nun ist das Merkmal so tief in der Morphogenese verankert, daß es nur schwer wieder loszuwerden ist, zumal die Kosten der unnützen Struktur vermutlich zu gering sind, als daß ihre Ersparnis einen nennenswerten Selektionsvorteil einbrächte.
In der Physik, meint Goodwin, würde eine solche Argumentationsweise als unzureichend erachtet. Oder würden wir uns damit zufriedengeben, daß die Planetenbahnen elliptisch sind, weil das seit der Entstehung des Sonnensystems so war und seither nichts geschehen ist, was eine Änderung herbeigeführt hätte? Vermutlich nicht. Erst die Gravitationsgesetze gelten uns als Antwort.
Aber der Vergleich hinkt. In der Physik werden historische Erklärungen zwar dann nicht akzeptiert, wenn dieselben Dinge unabhängig voneinander immer wieder geschehen – wie bei den Planeten- oder Satellitenbahnen. Verwandte Spezies sind aber eben nicht unabhängig voneinander. Insofern lassen sich die Wirtel der Acetabularia eher mit den Ringen des Saturn vergleichen, mit einer Einzelerscheinung also, für die auch die Physik nur historische Erklärungen geben kann.
Goodwins Abneigung gegen die historische Sichtweise richtet sich gleichzeitig auch gegen die Theorie Charles Darwins (1809 bis 1882). Dessen Annahme, Evolution bestehe in der Akkumulation kleiner Änderungen, und dabei sei (fast) alles möglich, reduziere die Biologie auf eine historische Schilderung. Dagegen gibt es nach Goodwins Theorie der Gestaltbildung ein eher überschaubares Repertoire generischer Formen, und diese entsprechen den möglichen Zuständen des dynamischen Systems, das sich aus den physikalischen und biochemischen Gesetzmäßigkeiten ergibt, die in einem Organismus am Werke sind. Im Beispiel der Acetabularia sind die wesentlichen Größen Cytoplasma und Zellwand mit ihrer jeweiligen Mechanik sowie die Verteilung der Calcium-Ionen, die eben jene Mechanik regulieren. Den Genen kommt dabei die Rolle der biochemischen und physikalischen Parameter zu.
Entscheidend ist nun die Frage, wie viele Zustände einem solchen System zugänglich sind: einige wenige oder "fast alle" in einem geeignet zu definierenden Gestaltraum? Um dies zu ergründen, verwendet Goodwin ein Simulationsmodell der Acetabularia-Zelle mit 26 freien Parametern. Um obige Frage ernsthaft anzugehen, müßte man allerdings nicht nur eine Vielzahl von Parametern, sondern auch eine Vielzahl von Modellen studieren. Doch das ist schlechterdings unmöglich: Wollte man den Parameterraum auch nur eines Modells absuchen, wäre man mit dessen 26 Dimensionen weit über das eigene Leben hinaus beschäftigt. Doch so weit läßt Goodwin es gar nicht erst kommen. Er hat "Glück" und findet beim Herumspielen mit dem Modell auf Anhieb Parameterkombinationen, die Wirtel produzieren. Daraus schließt er allen Ernstes, dieses Muster sei generisch, gehöre also zu einem sehr großen Bereich des Parameterraumes!
Nach den Gestaltbildungsprozessen im Raum wendet sich der Autor Mustern in der Zeit zu. Er bedient sich dabei der sogenannten Komplexitätstheorie, die Stuart Kauffman am Santa-Fe-Institut maßgeblich mitgeprägt hat (siehe dessen Artikel "Leben am Rande des Chaos", Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1991, Seite 90). Lebende Systeme werden nun als abstrakte Netzwerke von
Genen (diesmal sind sie als Bestimmungsgrößen willkommen) mit zufälliger Wechselwirkung modelliert. Auch hier sucht Goodwin den Eindruck zu erwecken, das gefundene Verhalten sei universell, und seine Erforschung könne – weil sich viele Systeme der unbelebten und der belebten Natur als komplexe Systeme beschreiben lassen – zu einer Vereinheitlichung der Naturwissenschaften beitragen. Abgesehen davon, daß niemand Komplexität genau zu definieren vermag, läßt der Autor unerwähnt, daß die erhoffte Universalität mittlerweile stark an Boden verloren hat. Das Verhalten eines Systems hängt nämlich eben doch von Einzelheiten der Wechselwirkung ab; die Komplexitätstheorie kann also nicht die ersehnte Theorie für alles sein (vergleiche "Komplexität in der Krise" von John Horgan, Spektrum der Wissenschaft, September 1995, Seite 58). Vielleicht sollte sich Goodwin darüber freuen, denn andernfalls könnte es keine spezifischen Gesetze für Organismen geben, nach denen er sich doch auf die Suche gemacht hatte.
Im letzten Teil des Buches wagt sich der Autor über die Naturwissenschaften hinaus in Kultur, Gesundheit und Umwelt. Dieses Kapitel mutet wie ein Rundumschlag gegen alle Übel der Welt an, die sämtlich dem ungeliebten Reduktionismus anzulasten seien und die es mit ganzheitlichen Methoden zu kurieren gelte. Dazu kann man nur sagen, was man aus der Komplexitätstheorie eigentlich gelernt haben sollte: Wenn es denn so einfach wäre...
So absurd manche Argumente im Rückblick scheinen mögen – es ist schwer, während der Lektüre kritisch zu bleiben, vor allem im ersten Teil. Denn das Buch liest sich einfach gut. Es besticht mit schönen Beispielen und überzeugenden Formulierungen, die elegant die logischen Untiefen umschiffen. Und einige Kapitel sind auf jeden Fall lesenswert, so der Streifzug durch die Evolutionstheorie von Jean Baptiste de Lamarck (1744 bis 1829) über Darwin, Gregor Mendel (1822 bis 1884) und August Weismann (1834 bis 1914) bis hin zur Molekulargenetik. Gleiches gilt für die Beispiele erregbarer Medien, in denen einleuchtend dargestellt wird, wie völlig verschiedene Systeme – etwa ein chemisches Reaktionsgemisch, eine Ameisenkolonie und ein menschliches Herz – zu einem ähnlichen Repertoire von Verhaltensmustern kommen.
Aber überzeugt bin ich nicht. Bis Brian Goodwin ein besseres Buch schreibt, halte ich es mit einem afrikanischen Sprichwort: "Selbst im Regen verliert der Leopard seine Flecken nie."
Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1998, Seite 126
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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