Der Mann, der die Zahlen liebte. Die erstaunliche Geschichte des Paul Erdös und die Suche nach der Schönheit in der Mathematik.
Aus dem Amerikanischen von Regina Schneider. Ullstein, Berlin 1999. 357 Seiten, DM 39,90.
Paul Erdös, ungarischer Jude, geboren 1913 in Budapest, war ein bedeutender Mathematiker und ein bemerkenswerter Mensch. Schon früh galt er als mathematisches Wunderkind – und fühlte sich schon als Kind "sehr alt". Im Jahre 1938 entfloh er dem ungarischen Faschismus und dem Nationalsozialismus in die USA. Er fand einen elementaren Beweis des "Primzahlsatzes" (die Anzahl der Primzahlen zwischen 1 und n verhält sich für große n wie n/log n) – eine Meisterleistung, die kaum jemand überhaupt für möglich gehalten hatte; aber wohl im Disput über diese Leistung verlor er auch seine letzte feste Anstellung.
Seitdem reiste er aus eigenem Antrieb, ohne festen Wohnsitz und fast ohne Besitz, jahrzehntelang um die Welt, um Mathematik zu betreiben, immer als Gast, auf Konferenzen wie bei Freunden, "absolutely unterwegs". Nach letzter Zählung umfasst sein Lebenswerk 1486 mathematische Arbeiten, an denen mehr als 500 Koautoren beteiligt waren, ein absoluter Weltrekord. Er starb 1996 im Alter von 83 Jahren, auf einer mathematischen Konferenz über eines der Themen, die er selbst geprägt und wie kein anderer beeinflusst hat: die Theorie der zufälligen Graphen.
Zweifellos ein Leben, das eine Biografie verdient hat. Was uns jetzt vorliegt, sind allerdings zwei Anekdotensammlungen, die bestenfalls als Versuche einer Biografie gelten können und einander auch noch sehr ähnlich sind.
Bruce Schechter beschreibt in seiner Danksagung, wie er zu seinem Thema kam. Eigentlich hatte er 1982 für die Zeitschrift "Discover" einen Artikel über Ron Graham zu schreiben. Der erzählte ihm Geschichten über seinen langjährigen Freund und Fachkollegen Erdös. Erst nach dessen Tod erinnerte sich Schechter daran und beschloss, eine Biografie zu schreiben.
Aber dafür haben die Anekdoten als Material nicht ausgereicht. Schechter hat nicht einmal den Titel seines eigenen Buches verstanden. "My brain is open" hieß für Erdös: Ich habe mich auf dem Sofa niedergelassen und bin bereit, über Mathematik zu sprechen, neue Probleme vorzuschlagen, Lösungen zu hören oder gemeinsam nachzudenken. Das war nicht ein Satz, den er "aus dem Flugzeug steigend der begrüßenden Gruppe von Mathematikern" zuzurufen pflegte. Auch anderes hat Schechter ziemlich missverstanden. Aber das passiert, wenn man auf nacherzählte Anekdoten angewiesen ist!
Der langjährige "Discover"-Redakteur Paul Hoffman hat Erdös immerhin kennen gelernt, aber auch er schafft es nicht wirklich, ein Porträt zu entwerfen. Wie Schechter schreibt er den Namen seines Helden nicht mit den Strichen auf dem Umlaut, die im Ungarischen auf einen langen Vokal hinweisen. Und der Name ist sicher nicht "ärdisch" auszusprechen.
Beide Bücher bringen zum großen Teil dieselben Geschichten (nicht nur über Erdös), die an den unterschiedlichen Versionen, die man erzählt bekommt, als Anekdoten erkennbar sind. Beide Autoren schreiben viel zu viel über Ron Graham, den Mathematiker, der ihnen die meisten dieser Geschichten erzählt hat, und viel zu wenig über ihre Hauptperson. Dass Erdös gütig, vielseitig interessiert, witzig, aber auch menschenscheu war: Jeder dieser Aspekte wird durch eine oder auch zehn Anekdoten belegt. Mag sein, dass der amerikanische Psychiater (!) Oliver Sacks laut Klappentext das Ergebnis "wunderbar, lebendig und auf eine eigentümliche Art bewegend" findet. Aber ein Porträt ist es nicht.
Paul Erdös hat die Zahlentheorie, die Graphentheorie und die Kombinatorik (vor allem durch die "probabilistische Methode") wesentlich bereichert. Diesen Leistungen versuchen sich beide Bände ohnehin nicht zu nähern; aber es irritiert, dass sie sich mit sehr, sehr einfachen Splittern aus seinem Lebenswerk begnügen. Die schlichte Klassifizierung als "Genie" ist für eine Einordnung und Bewertung nicht sehr hilfreich.
Natürlich ist ein derartiges Lebenswerk eine respektable Herausforderung an den Biografen. Aber Andrew Hodges ist eine mustergültige Biografie von Alan Turing gelungen ("Alan Turing. The Enigma") – warum sollte das für Erdös nicht möglich sein?
Hoffman führt uns weit weg vom Thema, einmal quer durch die Geschichte der Zahlentheorie, und vergeudet viel Zeit, indem er erzählt, wie Andrew Wiles die Fermatsche Vermutung bewies – ein zweiter Aufguss von Simon Singhs Buch "Fermats letzter Satz", aber ohne dessen dramatische Spannung.
Dabei bietet auch das Leben von Paul Erdös ausreichend Stoff für ein Drama. Den oben genannten elementaren Beweis des Primzahlsatzes haben er und der Norweger Atle Selberg 1948 nicht gemeinsam, aber auch nicht unabhängig voneinander erstritten. Der Disput über Priorität, Zusammenarbeit und Täuschung ist interessant und wichtig; aber Hoffman übergeht ihn auf einer halben Seite, während Schechter eine etwas vage Darstellung abgibt und dann behauptet: "Erst nach Erdös’ Tod sind die Archive geöffnet worden, und sie enthüllen eine Geschichte ohne klare Helden und Bösewichter". Welche Archive? Wann sind die geöffnet worden? Was steht da drin? Fakten, Fakten, Fakten? Fehlanzeige!
Die Übersetzungen beider Bände sind – freundlich ausgedrückt – ungelenk. Immerhin sei, was die Titel angeht, anerkannt, dass das Erdös’sche "My brain is open" eigentlich nicht übersetzbar ist und aus dem Originaltitel "The man who loved only numbers" zumindest das unsinnige "only" weggelassen wurde.
Wenn ich die Bände vergleichen soll: Hoffmans Bild ist authentischer, aber Schechter hat die interessantere Mischung zu bieten, die krasseren Fehlübersetzungen – obwohl "Vögelmännchen zwitscherten ihren Weibchen zu" (Hoffman, S. 301) auch nicht schlecht ist – und einen absurd-komischen Stichwortindex.
Wenn Sie wirklich Erdös kennen lernen wollen, empfehle ich Ihnen den Film "N is a Number – a Portrait of Paul Erdös" von George Paul Csicsery, erschienen in der neuen Reihe VideoMath des Springer-Verlags.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 2000, Seite 108
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben