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Der Mensch in der Schwerelosigkeit

Manche Anpassungen des Körpers unter Schwerelosigkeit ähneln Symptomen im Alter. Gleiches gilt für Unpäßlichkeiten im All und nach der Rückkehr zur Erde. Grundsätzlich scheint langen Weltraumreisen medizinisch dennoch nichts im Wege zu stehen.


Als Waleri Poljakow am 22. März 1995 wohlbehalten aus der Sojus-Kapsel stieg, die ihn von der russischen Raumstation Mir zurückgebracht hatte, war er 438 Tage im Weltraum gewesen – ein neuer Rekord. Er hatte damit gezeigt, daß ein Mensch viele Monate lang unter Schwerelosigkeit leben und arbeiten kann. Das war keineswegs sicher gewesen.

Im Januar 1951, also mehr als zehn Jahre vor Jurij Gagarins erster Erdumkreisung am 12. April 1961 – sie dauerte gerade 108 Minuten – war im "Scientific American", dem späteren Mutterblatt von "Spektrum der Wissenschaft", ein Artikel von Heinz Haber (1913 bis 1990) erschienen. Der deutsche Physiker, der damals an der Anstalt für Flugmedizin der US-Luftwaffe tätig war, überlegte darin, welche medizinischen Auswirkungen beim Raumflug und insbesondere bei Schwerelosigkeit zu erwarten seien. Manches bestätigte sich später, wie die in den Symptomen der Reisekrankheit ähnelnde Raumkrankheit in den ersten Flugtagen. Anderes bewahrheitete sich nicht – so die Befürchtung, die Astronauten würden sich hin- und hergestoßen fühlen oder in einer normalen Bewe-gung plötzlich zu trudeln oder zu rotieren anfangen.

Ärzte wissen, wie schwer sich die Reaktionen des Körpers auf eine völlig neue Anforderung oder Beanspruchung vorhersagen lassen. Nicht zuletzt die Raumfahrt hat wiederholt seine erstaunliche, mitunter fast unmerkliche Anpassungsfähigkeit offenbart. Doch erst seit ein paar Jahren, nachdem immer mehr und bessere Daten vorlagen, beginnt man zu verstehen, was mit ihm in der Schwerelosigkeit geschieht. Die gesammelten Erfahrungen von mittlerweile fast 700 Menschen, die zusammengerechnet 58 Personenjahre im Weltraum zugebracht haben, kommen nicht nur zukünftigen Astro- und Kosmonauten zugute, sondern auch uns Bodenständigeren. Unerwarteterweise hat die Raumfahrtmedizin nämlich das Verständnis ganz normaler Körperfunktionen erweitert.

Von den vielen Einflüssen auf die menschliche Gesundheit während eines Raumfluges ist die Schwerelosigkeit der dominierende und mit Abstand wichtigste. Ihre direkten und indirekten Auswirkungen bedingen eine Kaskade wechselseitiger körperlicher Antworten. Als erstes reagieren die Schwererezeptoren, die Körperflüssigkeiten und die stützenden, das Gewicht tragenden Teile, am Ende aber der gesamte Organismus, von den Knochen bis zum Gehirn (siehe Kasten auf Seite 43).

Hält der Astronaut sich irgendwo fest und zieht sich dann vor und zurück, hat er das Gefühl, als würde nicht er sich hin und her bewegen, sondern das Raumschiff. Dies kommt daher, daß die Wahrnehmung solcher Informationen physiologisch an die Schwerkraft gekoppelt ist.



Gravitation stets einkalkuliert



Der beständige Zug der Gravitation auf den Körper ist für uns so allgegenwärtig, daß man ihn höchstens dann wahrnimmt, wenn man zum Beispiel von Krampfadern oder von Schwindel beim raschen Aufstehen geplagt wird. Unser Körper vergißt ihn allerdings niemals. Im Verlauf der Evolution hat sich eine Unzahl unmerklicher automatischer Reaktionen herausgebildet, mit denen er den Dauerstress abfängt, immerzu nach unten gezogen zu werden. Doch bewußt registrieren wir die Schwerkraft gewöhnlich erst in Situationen, in denen sie durch andere Kräfte verstärkt oder kompensiert wird wie beispielsweise beim Abbremsen eines Aufzugs.

Unsere Sinne vermitteln uns normalerweise stets genau, wo unser Schwerpunkt ist und auch wo die Körperteile relativ zueinander sind. Dafür fließen Signale von Auge und Ohr ein, vom Gleichgewichtsorgan im Innenohr – dem eigentlichen Schweresinn –, von Muskeln und Gelenken sowie vom Tastsinn und von Druckrezeptoren. Viele dieser Informationen hängen nämlich von der effektiven Stärke und der Richtung der immer gleichen Erdanziehung ab.

Der Gleichgewichtsapparat im Innenohr hat zwei funktionelle Bereiche. Da sind zum einen die drei flüssigkeitsgefüllten, senkrecht zueinander ausgerichteten Bogengänge, deren Sinneszellen Drehungen des Kopfes im Verhältnis zur Umwelt signalisieren, also Dreh- oder Winkelbeschleunigungen, zum anderen zwei mit Calciumcarbonat-Kristallen gefüllte Säckchen mit Sinnesepithelien, die sogenannten Makulaorgane, die für Bewegungen in der Horizontalen und Vertikalen zuständig sind, mithin für Linearbeschleunigungen, wie im Auto oder Fahrstuhl. Die Makulaorgane sind als Schwerkraftrezeptoren in die Literatur eingegangen, weil ihre Funktion die Verrechnung mit der Erdanziehung erfordert. Sie sind als Gravitationsmesser aber nicht allein, denn Mechanorezeptoren in den Muskeln, Sehnen und Gelenken sowie Druckrezeptoren in der Haut – vor allem in der Fußsohle – sind für Gewicht, also schwerkraftbedingte Belastungen, sensibel.

In der Schwerelosigkeit verändern sich diese sensorischen Eindrücke. Dem Innenohr fehlt nun das gewohnte Referenzsignal. Weil die Gliedmaßen kein Gewicht mehr haben, sind die gewohnten Muster des An- und Entspannens bestimmter Muskelpartien nicht länger erforderlich, um den Körper gerade zu halten oder zu bewegen. Aus den Füßen und Fußgelenken kommen keine Mitteilungen mehr darüber, wo unten ist. Statt dessen treten Täuschungen in der visuellen Orientierung auf, etwa das Gefühl, man würde plötzlich auf dem Kopf stehen, oder das Raumschiff würde unvermittelt seine Position verändern. German Titow, der 1961 als zweiter Russe die Erde umkreiste, hatte auf den ersten der 17 Runden lebhaft den Eindruck, sein Kopf sei unten und die Füße oben. Der Nutzlast-Experte mehrerer Shuttle-Missionen Byron K. Lichtenberg erzählt von seinen ersten Flügen: "Als die Haupttriebwerke abgeschaltet wurden, war mir im selben Augenblick, als wären wir auf den Kopf gekippt." Dergleichen kann auch während eines längeren Aufenthalts im All immer wieder vorkommen.

Auch für das Gehirn sind die fehlenden Sinneswahrnehmungen irritierend. Auf der Erdumlaufbahn befindet man sich eigentlich im freien Fall wie nach einem Sprung aus dem Flugzeug – mit dem einzigen Unterschied, daß man im Orbit nicht auf die Erde zu, sondern in einer Kreisbahn um sie herum fällt. Doch Raumfahrer empfinden das nicht so. Vermutlich sind für das Gefühl zu fallen visuelle und Strömungsreize nötig wie Signale aus den direkten Schwererezeptoren. Haber und sein Mitarbeiter Otto H. Gauer hatten 1950 anderes vorausgesagt: "Ohne Schwerkraft müßte sich zwangsläufig ein Gefühl des Fallens im freien Raum einstellen. Es ist zu vermuten, daß man sich allmählich an diesen Zustand gewöhnt."

Die vielen veränderten Reizeingänge lösen mindestens bei jedem zweiten Astronauten eine Raumkrankheit aus, deren Symptome – Kopfschmerzen, Konzentrationsschwäche, Appetitlosigkeit, Übelkeit, Erbrechen – in vielem der See- oder Reisekrankheit ähneln. Gewöhnlich gibt sich das nach etwa drei Tagen, doch haben Kosmonauten, die lange im All waren, ähnliches nach der Rückkehr zur Erde erlebt.

Ursprünglich hat man dem irregeleiteten Gleichgewichtssinn die Schuld an der Raumkrankheit gegeben; schließlich sendet es jetzt ans Gehirn dort nicht erwartete, ungewohnte Signale. Heute weiß man aber, daß diese Erklärung zu einfach war, denn es spielt vieles mehr zusammen, unter anderem die völlig andere Beanspruchung der Muskulatur für Position und Bewegungen des Kopfes. Ähnliches kann einem widerfahren, wenn man sich auf der Erde in eine computergenerierte virtuelle Welt versetzen läßt, in der man nur scheinbar navigiert, während man wirklichen Kräften und Sinneseindrücken enthoben ist.

Mit der Zeit gewöhnt sich das Gehirn aber an die Weltraumverhältnisse, und für manche Astronauten ist "unten" dann einfach da, wo die Füße sind. Unter anderem mag die Umstellung darauf beruhen, daß die entsprechenden Rezeptoren und Nervenzellmuster sich physiologisch an die neue Situation anpassen. Das müssen sie auch im gewöhnlichen Leben immer wieder: wenn man als Kind wächst, in der Pubertät, auch bei stärkeren Gewichtsveränderungen.

Erstaunlich schlecht versteht man bisher, wie der Mensch die Balance hält und Stürze vermeidet. Ansonsten gesunde Weltraumpiloten haben nach der Rückkehr auf die Erde anfangs Schwierigkeiten damit, beherrschen das aber rasch wieder. Erkenntnisse hieraus könnten Patienten mit Gleichgewichtsstörungen zugute kommen. Eine entsprechende Studie haben Bernhard Cohen von der Mount Sinai School of Medicine und Gilles Clément vom Nationalen Forschungszentrum in Paris nach der am 3. Mai 1998 beendeten Neurolab-Mission auf dem amerikanischen Space Shuttle durchgeführt. Zusammen mit einem Wissenschaftlerteam entwickelt nun Barry W. Peterson von der Northwestern University in Evanston (Illinois) das erste Ganzkörper-Computermodell für die Körperhaltung und Gleichgewichtskontrolle des Menschen.



Weltraumschnupfen


Des weiteren wirkt sich die Schwerelosigkeit auf die Verteilung der Körperflüssigkeiten aus. Schon in den ersten Minuten im All beginnen die Halsvenen anzuschwellen und das Gesicht aufzuquellen. Zugleich mit dem Blut- und Flüssigkeitsdrang in Brust und Kopf gehen Nase und Nebenhöhlen zu wie bei einem Schnupfen. Das hält den ganzen Flug über an; allenfalls schwere körperliche Anstrengung bringt vorübergehend Erleichterung wegen der verlagerten Druckverhältnisse. Sogar die Geruchs- und Geschmackswahrnehmung ändert sich, noch am wenigsten die von Gewürzen. In der Frühzeit der Raumfahrt fürchteten Ärzte Lungenödeme durch den Andrang im Brustraum wie bei Herzkranken. Glücklicherweise bewahrheitete sich dies nicht.

Diese Phänomene erklären sich dadurch, daß Flüssigkeiten nun kein Gewicht mehr haben. Im Durchschnitt entfallen 60 Prozent des Körpergewichts auf Wasser. Außer auf das Blutplasma in den Adern verteilt es sich auf die Lymphe in den Zellzwischenräumen und Lymphgefäßen und auf die Zellen selbst. In der Schwerkraft wirkt dieses Gewicht sich auf die Druckverteilung in den Gefäßen aus, die ja miteinander verbundene Flüssigkeitssäulen sind. Solange jemand flach liegt, ist der hydrostatische Druck praktisch von Kopf bis Fuß gleich; wenn man dann aufsteht, steigt er zu den Füßen hin stark an und nimmt zum Kopf hin ab (Bild 2). Gerade bei ruhigem Stehen kann der Unterschied beträchtlich sein: In den Füßen ist er, entsprechend der Höhe der Flüssigkeitssäule, weit höher als der Atmosphärendruck, im Kopf geringer.

Auf den Blutfluß durch die Gewebe hat dies nur geringe Auswirkung, denn der arterielle und der venöse Druck steigen – oder sinken – im gleichen Verhältnis. Auf die Flüssigkeitsverteilung insgesamt wirkt der hydrostatische Effekt sich jedoch aus: Bei größerem Gefäßdruck sickert mehr Blutplasma durch die Kapillarwände in die Zellzwischenräume. So kommt es, daß nach dem Wechsel vom Liegen zum Stehen mehr Flüssigkeit in die Beine sackt und dem Herzen deswegen weniger Blut zufließt. Manchmal werden Menschen, die lange stillstehen müssen, sogar ohnmächtig, wie es bei Wachsoldaten immer wieder vorkommt. Aber auch Krampfadern entstehen wegen des hydrostatischen Drucks bei häufig überdehnten Venenwänden, und die geschwollenen Füße nach langem Sitzen etwa im Flugzeug beruhen ebenfalls auf dem physikalischen Effekt.

Im Weltraum, wo der hydrostatische Druck fehlt, verteilen sich die Körperflüssigkeiten gleichmäßig, also auch mehr zum Kopf hin. Man hat gemessen, daß die Beine schon am ersten Tag je ungefähr einen Liter Wasser verlieren, das ist rund zehn Prozent ihres Volumens, und sie bleiben während des gesamten Aufenthalts im All dünn. (Genaugenommen beginnt der Flüssigkeitsandrang zum Kopf bereits, wenn die Astronauten auf der Startrampe stundenlang mit hochgelagerten Beinen auf dem Rücken liegend warten.) Der Organismus paßt sich an, indem er die überschüssige Flüssigkeit wiederum umverteilt. Das Plasmavolumen wird schnell um etwa 20 Prozent weniger, bis es sich auf einem geringen Level einpegelt.

Die Flüssigkeitsverschiebungen bedingen ihrerseits eine Kaskade wechselwirkender hormoneller und mechanischer Prozesse, die den Wasser- und Elektrolythaushalt regulieren. So steigt die normalerweise konstante Filtrationsrate der Nieren um fast 20 Prozent, und dieses erhöhte Niveau hält eine Woche lang an.

Schon nach wenigen Tagen im All haben Rückkehrer eine spezielle Form von Anämie. Wie Clarence Alfrey vom Baylor College für Medizin in den letzten Jahren gezeigt hat, gibt es wegen des Plasmaverlusts und der damit verbundenen Schrumpfung des Blutvolumens ein Übermaß an roten Blutkörperchen. Darauf reagiert der Körper, indem er die Neubildung roter Blutzellen stoppt und frisch produzierte zerstört. Vor Alfreys Astronautenstudie war der dem Vorgang zugrundeliegende Mechanismus nur bedingt anerkannt.

Ein dritter Symptomkomplex betrifft den Schwund von Muskeln und Knochen, der bei jedem Raumflug – unabhängig von seiner Dauer – auftritt. Ist das ein Anlaß zur Besorgnis?

Unter Schwerelosigkeit verteilen sich die Kräfte völlig anders über Skelett und Muskulatur. Beispielsweise wird man mehrere Zentimeter größer, weil auf der Wirbelsäule kein Druck mehr lastet. Auch der Brustkorb weitet und seine Muskulatur entspannt sich, denn die Organe, die er umschließt, haben wie alle übrigen auch nun kein Gewicht. F. Andrew Gaffney gestand nach seinem Weltraumflug 1991: "Du fühlst dein Gedärm nach oben driften. Ich ertappte mich dabei, daß ich krampfhaft versuchte, den Bauch einzuziehen."

Der Halte- und Stützapparat wird nicht länger in gewohnter Weise beansprucht. Auf der Erde sorgt die Skelettmuskulatur, das umfangreichste Gewebe im Körper, für die aufrechte Haltung und die Bewegung der Körperteile trotz der Schwerkraft. Im Weltraum ist die Stützfunktion überflüssig; dort kann man nicht gehen und stehen, und auch sonst muß man seinen Muskelapparat anders gebrauchen. Einige Partien schrumpfen folglich sehr bald. Gleichzeitig wandelt sich aber auch ihre Gewebestruktur: An die Stelle sogenannter langsamer, ausdauernder Fasern im Muskel, die günstig sind, um der Schwerkraft standzuhalten, treten vermehrt schnell kontrahierbare, die rasche Bewegungen erlauben, jedoch eher ermüden. Solange von den Astronauten nur leichter körperlicher Einsatz gefordert ist, bereitet ihnen das alles keine Probleme. Doch sie müssen insbesondere bei Tätigkeiten außerhalb des Raumschiffs auch Schwerstarbeit leisten, und schließlich brauchen sie die Muskeln wieder für die sichere Rückkehr zur Erde. Dem Erhalt der Muskulatur gelten deshalb viele Weltraumstudien (Bild 4).

Auch der Stoffwechsel der Knochen ändert sich erheblich. Sie zählen zu den stärksten bekannten Biomaterialien, sind aber ein dynamisches Gewebe. Bestimmte Zellen – die Osteoblasten – sorgen für den Aufbau, und andere – die Osteoklasten – für den Abbau, wobei beide Sorten normalerweise ausgewogen agieren und lebenslang etwa gleich viel Substanz nachschieben, wie sie entziehen. Auf die Prozesse haben verschie- dene im Blut transportierte Hormone und Vitamine Einfluß wie auch die mechanische Belastung der Knochen.

Ein Knochen enthält zum einen organisches Material, das ihm Stärke und Stabilität verleiht, zum anderen anorganisches, welches die Steifigkeit bedingt und gleichzeitig als Mineralreservoir im Körper dient. Beispielsweise lagern 99 Prozent des gesamten Calciums im Skelett. Sämtliche Zelltypen sind für eine normale Funktion auf gleichmäßige Calcium-Spiegel in den Körperflüssigkeiten angewiesen.

Nach russisch-amerikanischen Gemeinschaftsuntersuchungen gehen einem Kosmonauten den ganzen Flug über jeden Monat vom unteren Teil der Wirbelsäule, den Hüft- und dem oberen Part der Oberschenkelknochen rund ein Prozent an Masse verloren. Stellenweise, etwa an den Fersenknochen, wird Calcium schneller abgebaut als andernorts. Untersuchungen an Tieren lassen vermuten, daß auch die Neubildung von Knochensubstanz abnimmt.

Man muß wohl nicht betonen, daß dies tatsächlich genug Anlaß zur Besorgnis ist. Während des Weltraumaufenthalts steigt wegen des Knochenabbaus der Calcium-Spiegel im übrigen Körper. Dadurch könnten sich Nierensteine bilden, und weiche Gewebe könnten kalzifizieren. Nach der Rückkehr zur Erde hört der Calcium-Abbau binnen eines Monats auf. Ob die Knochen jemals wieder vollständig regenerieren, läßt sich aber bisher nicht sagen. Die Zahl der Langzeitaufenthalte im All ist dafür noch viel zu klein. Denkbar ist durchaus, daß ein gewisser Verlust bleibt; dann wären ehemalige Astronauten immer etwas anfälliger für Knochenbrüche. Eine Space-lab-Mission von 1996 galt unter anderem solchen Fragen. Wissenschaftler aus Italien, Schweden, der Schweiz und den USA führten dabei acht Untersuchungen zur Veränderung von Muskulatur und Skelett durch.

Die Wissenslücken spiegeln Defizite im Verständnis des menschlichen Körpers unter irdischen Bedingungen. Nehmen wir die Osteoporose. Für Frauen nach den Wechseljahren besteht ein gewisses Risiko, Knochenmasse zu verlieren. Man weiß zwar, daß zahlreiche Faktoren, wie körperliche Aktivität, Ernährung, Vitamine und Hormone darauf Einfluß nehmen können, aber bis heute nicht, wie sie einzeln und im Zusammenspiel wirken. Diese Komplexität macht es schwierig, brauchbare Gegenmaßnahmen zu entwickeln. Gleiches gilt für Weltraumaufenthalte. Auch hier ist eine wirkliche Prophylaxe gegen Knochenschwund noch nicht möglich. Die Astronauten haben bereits vielerlei Trainingsprogramme durchprobiert (siehe auch "Sechs Monate an Bord der Mir", von Shannon W. Lucid in: Spektrum der Wissenschaft, Juli 1998, Seite 32), doch der Erfolg ist mäßig.

Von den übrigen Systemen, die von Schwerelosigkeit direkt oder indirekt betroffen sind, sei noch die Lunge genannt. Hiermit haben sich John B. West und seine Mitarbeiter an der Universität von Kalifornien in San Diego zusammen mit Manuel Paiva von der Universität Brüssel befaßt. Auf der Erde sind die Durchströmungsmuster von Luft und Blut im oberen und unteren Part der Lunge verschieden. Die Frage war, ob das allein an der Schwerkraft liegt oder auch an Eigenschaften des Organs selbst. Erst kürzlich brachten Weltraumstudien deutliche Hinweise auf letzteres: Auch im schwerelosen Zustand sind Ventilation und Blutdurchfluß in den einzelnen Bezirken unterschiedlich hoch.

Jedoch gehen nicht alle körperlichen Beeinträchtigungen während eines Aufenthalts im All rein auf die fehlende Schwerkraft zurück. Zum Beispiel mag die beobachtete Schwächung des Immunsystems auch mit dem körperlichen und psychischen Stress zusammenhängen. Ein sich anhäufendes Schlafdefizit infolge Störungen in den diversen Regelkreisen für Schlafdauer und -tiefe liegt zum Teil wohl auch an anderen Einflüssen. Allzuleicht lassen die natürlichen Rhythmen sich durch zeitverschobene Hellphasen und Arbeitsschichten durcheinanderbringen. Schon das helle Licht beim – nur allzu verlockenden – Blick aus dem Fenster direkt vor dem Schlafengehen kann genügen.

Eine lange Weltraummission bedeutet auch Leben auf engstem Raum. Man ist gleichsam gefangen, fern vom normalen Leben auf der Erde, dafür mit nicht auswechselbaren Mitreisenden zusammengepfercht, die oftmals auch noch unterschiedlichen Kulturen entstammen. Mögliche Folgen sind Angstzustände, Schlaflosigkeit, Depressionen, soziale Spannungen und ähnliches mehr, was den Teilnehmern vielleicht mehr zu schaffen machen kann als die Schwerelosigkeit. Auch dies wirkt sich auf Körperfunktionen aus, gleichzeitig mit den physiologischen Anpassungen an die Schwerelosigkeit und die anderen fremden Umstände. Die Hauptursachen für bestimmte körperliche Veränderungen sind deswegen manchmal schwierig zu ermitteln. Der Forschung bleibt noch vieles zu tun.

Nicht zuletzt ist der Körper im All einer höheren Belastung durch kosmische Strahlung ausgesetzt. Bereits in einer erdnahen Umlaufbahn ist die Dosis zehnmal so hoch wie im Mittel auf dem Boden. Bei einem Aufenthalt auf dem Mond wäre sie noch siebenmal höher, und noch beträchtlicher bei einem Flug zum Mars. Eruptionen auf der Sonne wie die im August 1972 können in nicht einmal einem Tag mehr als das Tausendfache der für die Erde normalen Jahresdosis freisetzen. Dergleichen geschieht glücklicherweise selten, und für lange Flüge zum Mond oder zu anderen Planeten ließen sich speziell abgeschirmte Räume vorsehen, wohin die Raumfahrer sich zurückziehen können.

Die hohe Strahlung – und das damit verbundene erhöhte Krebsrisiko – ist ein ernstes Problem für lange Reisen im All. Es läßt sich zudem nur schwer erforschen, denn es ist nahezu unmöglich, auf der Erde die Situation im Weltraum mit dem zwar geringen, aber stetigen Fluß an hochenergetischer kosmischer Strahlung zu simulieren. Dennoch sind sich die meisten Experten einig, daß das Risiko sich mit der richtigen Abschirmung und geeigneten Medikamenten in annehmbaren Grenzen halten läßt.



Erdenschwere


Sofern die Auswirkungen der Schwerelosigkeit vollständig umkehrbar sind, sollte sich einige Zeit nach der Rückkehr auf die Erde in allem wieder der Normalzustand einstellen. Wir wissen heute, daß die meisten körperlichen Systeme tatsächlich reversibel arbeiten, zumindest innerhalb der bisher beobachteten Zeitintervalle. Ob das auch allgemein gilt, ist noch offen.

Während der Landung und direkt danach spürt man die Schwerkraft als große Last. Ein Astronaut kommentierte nach neun Tagen im All: "Das ist richtig ein Schock! Als ich mich das erste Mal aufrichtete, war das, als müßte ich mein dreifaches Gewicht hochwuchten." Es gibt auch alle möglichen Sinnestäuschungen, etwa daß bei Drehungen des Kopfes scheinbar die Umgebung in Bewegung gerät. Man kann nicht einmal stillstehen ohne zu schwanken; dabei ist es egal, ob man die Augen schließt oder offenhält.

Die meisten Vorgänge normalisieren sich in wenigen Tagen oder Wochen, vielleicht ausgenommen die Regeneration von Muskulatur und Skelett. Bislang sieht es nicht so aus, als könnten Menschen sich nicht längere Zeit im Weltraum aufhalten und später wieder normal auf der Erde leben.

Das ist für die Insassen der geplanten Internationalen Raumstation sicherlich eine gute Botschaft und ebenso für die Teilnehmer von künftigen interplanetaren Missionen. Der Bau der Raumstation beginnt in diesen Monaten. Das gibt Gelegenheit für neuerliche Forschungen über die Auswirkungen von Allreisen auf den Menschen. Die fertige Station wird 1300 Kubikmeter Arbeitsraum haben – fast fünfmal mehr als Mir oder Skylab. Vorgesehen ist eine hochmoderne Laborausrüstung für weitergehende medizinische Untersuchungen. Es gilt, sämtliche potentiellen biologischen Gefahren langer Raumflüge abzuwehren; um sie zu erkennen und Gegenmaßnahmen zu entwickeln, hat die NASA eine neue Forschungsinstitution eingerichtet, das National Space Biomedical Research Institute.

Viele der im Weltraum und nach der Rückkehr auftretenden körperlichen Veränderungen ähneln äußerlich denen von Kranken oder hinfälligen alten Menschen. Die meisten Astronauten fühlen sich gleich nach der Landung so schwach, daß sie kaum zehn Minuten stehen können. Ähnlich geht es einem nach langer Bettlägrigkeit oder manchmal im Alter. Auch auf dem Krankenlager verliert man Muskel- und Knochenmasse. Wegen der Ähnlichkeit mit solchen Atrophien unter Schwerelosigkeit simuliert man diesen Effekt mit gesunden Freiwilligen, denen absolute Bettruhe verordnet wird (Bild 3).

An Altersgebrechlichkeit erinnert beispielsweise, daß Weltraumrückkehrer anfangs wackelig auf den Beinen sind. Greise Menschen stürzen leicht, die Knochen werden poröser, das Immunsystem schwächer, sie schlafen oft schlecht und beherrschen ihren Bewegungsapparat nicht mehr so gut. In einer Weise widerfährt das alles auch Astronauten. Dies muß nicht heißen, daß die Ursachen die gleichen sind, doch die Befunde sind immerhin so verblüffend, daß die NASA und das amerikanische Nationale Institut für Altern in Bethesda (Maryland) seit 1989 hierüber zusammenarbeiten. Ende Oktober wurde der 77jährige John Glenn als bisher ältester Mensch in den Weltraum geschickt (Bild 5). Er hatte bereits 1962 als erster Amerikaner die Erde umrundet. Die Mission verhalf auch diesem Forschungsprojekt zu größerer Bekanntheit.

Literaturhinweise

Proceedings of a Conference on Correlations of Aging and Space Effects on Biosystems. Herausgegeben von R. L. Sprott und C. A. Combs in: Experimental Gerontology, Band 26, Hefte 2 und 3, Seiten 121 bis 309, 1991.

Orientation and Movement in Unusual Force Environments. Von James R. Lackner in: Psychological Science, Band 4, Heft 3, Seiten 134 bis 142, Mai 1993.

Space Physiology and Medicine. Von A. E. Nicogossian und anderen. Lea und Febiger, dritte Auflage 1993.

Applied Physiology in Space. Sonderausgabe von: Journal of Applied Physiology, Band 81, Heft 1, Seiten 3 bis 207, Juli 1996.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1998, Seite 38
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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