Gastkommentar: Der Mythos vom sauberen Krieg
Das Thema Waffentechnik in einer wissenschaftlichen Zeitschrift mag erschrecken – aber Fragen über Krieg und Frieden, die einen technisch-wissenschaftlichen Hintergrund haben, sollten auch von der scientific community diskutiert werden, denn Technologien werden genutzt, um Kriege wieder führbar zu machen. Die These von der »Revolution in Military Affairs«, nach der es aufgrund überlegener Waffentechnik möglich ist, jeden Krieg zu gewinnen, wird in Fachkreisen diskutiert. Die Ergebnisse dieser Debatte beeinflussen die Rüstungshaushalte, die Abrüstung und die Kriege der Zukunft. Gegen die Debatte selbst ist nichts einzuwenden. Doch wird sie auch fair und rational geführt? Im vorliegenden Artikel preist Michael Puttré stolz die »Familie« der GPS-gelenkten Geschosse an, die heute in großer Zahl produziert werden. Diese Präzisionsbomben mögen durchaus über die ihnen attestierten Qualitäten verfügen. Dennoch zeichnet Puttré nur ein höchst eigenwilliges und verfälschendes Bild vom heutigen Krieg. Artikel wie dieser verstärken Mythen und tragen nicht zum Verständnis moderner Kriege bei.
Mythos Nr. 1: Präzisionsgelenkte Waffen zerstören Punktziele
Puttrés Tabelle listet auch Waffen auf, die zur Flächenbombardierung dienen, zum Beispiel die »Wind Corrected Munition Dispensers« CBU-103 bis 105. Die Streubombe CBU-87 besteht aus 202 »Bomblets«, die jeweils 300 Splitter in einem Umkreis von 150 Meter gegen »soft targets«, also Menschen, verteilen. Ein einziger Behälter deckt eine Fläche von bis zu zwanzig Fußballfeldern ab. Interessant wäre es zu erfahren, wann, in welcher Menge und gegen wen diese Munition eingesetzt wurde. Da Militärs sich am Boden besser schützen können, dürften die meisten Opfer Zivilisten sein. In der Regel detonieren fünf bis zehn Prozent der Bomblets nicht und bleiben als Blindgänger noch lange Zeit nach Beendigung des Kampfes eine große Gefahr.
Mythos Nr. 2: Punktgenaue Munition richtet sich gegen militärische Ziele
»Intelligente« Präzisionswaffen können ebenso effizient zivile Ziele zerstören. Zwei präzisionsgelenkte Cruise Missiles trafen in Bagdad den Al-Ameriya-Bunker, in dem 400 Menschen Schutz gesucht hatten. Im Kosovo-Krieg wurden Busse, Züge und Wohnquartiere »punktgenau« bombardiert, in Afghanistan eine Hochzeitsgesellschaft ausgelöscht. Intelligent oder auch nicht sind nicht die Bomben, sondern diejenigen, die sie einsetzen – oder auch nicht.
Mythos Nr. 3: High-Tech-Waffen schonen die Zivilbevölkerung
Im Kosovo war die Präzisionsmunition zu ungenau für mobile Ziele, lediglich einige dutzend gepanzerte Ziele wurden getroffen. Als man militärische Ziele nicht fand, wurde zivile Infrastruktur in Jugoslawien bombardiert. Präzisionsbomben auf Raffinerien setzten in erheblichem Maße verschiedene Gifte frei (Spektrum der Wissenschaft 1/2000, S. 90). Die Folgen, kurz- wie langfristig, treffen hier die Zivilbevölkerung, die sich im Gegensatz zum Militär meist nicht schützen kann und an den Kampfzonen leben muss.
Mythos Nr. 4: High-Tech-Kriege sind »saubere« Kriege
Richtig ist, dass sich der Anteil der Präzisionsmunition in den vergangenen von den USA geführten Kriegen gesteigert hat. In allen Kriegen wurden aber auch völkerrechtswidrige oder humanitär zweifelhafte Mittel eingesetzt: Flächenbombardements, konventionelle Bomben im Tonnen-Bereich (Daisy-Cutter), Cluster-Bomben, vakuumerzeugende Bomben, Geschosse aus abgereichertem Uran mit radioaktiven und toxischen Wirkungen. Über die Folgen dieser High-Tech-Waffen wird nicht berichtet. Die Anwendung von Hochtechnologie schont zuweilen auch Zivilisten, in erster Linie jedoch die eigenen Truppen.
Mythos Nr. 5: Krieg ist ein technisch lösbares Problem
Der moderne Krieg wird aus westlicher Sicht durch die meist in Kampfflugzeugen eingebauten Kameras vermittelt und erweckt den Anschein eines Computerspiels: Zielen, abdrücken, treffen und vernichten. Eine objektive Berichterstattung wird nicht zugelassen oder gar gesucht. Gegenstand der Berichte sind auch nicht die Kriegsopfer, sondern die Kriegs- instrumente. Noch nie wurde das moderne Schlachtfeld von so vielen Sensoren beobachtet, noch nie sah die Öffentlichkeit so wenig vom Ausmaß eines Krieges aus der Sicht der Betroffenen, und wenn die Waffen schweigen, schalten die TV-Kameras ab. Die heutige »technokratische« und mediale Vermittlung von Kriegen verdeckt, dass unschuldige Menschen sterben müssen. Krieg bleibt mörderisch, dreckig und unheilvoll, die »Geißel« der Menschheit, wie die UN-Charta es ausdrückt.
Die um sich greifende Argumentation vom »chirurgischen« modernen Krieg verdeckt zudem Konsequenzen und Alternativen. Auch moderne Waffen haben ihre Grenzen. Vor allem: Ein militärischer Sieg bedeutet noch nicht, dass man den Frieden gewonnen hat – siehe Afghanistan, Kosovo und Irak. Flüchtlinge, zerstörte Infrastruktur und fehlende Entwicklungsperspektiven sind die Folge.
Der subtilste Effekt dieser Argumentation ist wohl, dass Kriege dieser Tage wieder wahrscheinlicher und führbar werden. Die Beschränkung auf technische Fragen leistet dem Glauben an den »sauberen Krieg« Vorschub und erklärt damit klammheimlich Kriege zur Normalität. Die Fragen nach der Legalität, nach Konfliktzusammenhängen und politischen Folgen von Kriegen werden unterdrückt. Kriegsverhütung, oberstes Ziel verantwortlicher Friedenspolitik, gerät durch nebenstehenden Artikel vollends in den Hintergrund.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 2003, Seite 68
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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