Der Rebell der Familie. Geschwisterrivalität, kreatives Denken und Geschichte.
Aus dem Amerikanischen von Klaus Binder und Bernd Leineweber. Siedler, Berlin 1997. 592 Seiten, DM 59,80.
Wenn Publikumszeitschriften wie „Brigitte“ und „Der Spiegel“ sich einer Neuerscheinung ebenso annehmen wie das naturwissenschaftliche Königsblatt „Nature“, darf man wohl Außergewöhnliches erwarten. In der Tat liest man auf Seite 159 Unerwartetes: „Außer im Lichte der Evolution ergibt nichts in der Biographie einen Sinn.“
Worum geht es? Frank Sulloway, Wissenschaftshistoriker am renommierten Massachusetts Institute of Technology in Cambridge und vor allem mit einer vielbeachteten Freud-Biographie bekannt geworden, hat in 20jähriger Arbeit an mehreren tausend computerisierten Biographien aus 5 Jahrhunderten familiendynamische Einflüsse auf die Persönlichkeitsentwicklung untersucht. In knappster Form läßt sich das Ergebnis wie folgt zusammenfassen: Erstgeborene neigen zu konservativer Lebensführung mit entsprechend autoritärem, dogmatischem Persönlichkeitsprofil. Spätergeborene einer Familie hingegen bringen jenes Quantum an kreativer Aufmüpfigkeit in die Welt, das Veränderung bringt und letztlich die Kulturgeschichte vorantreibt.
Kraft, Motivation und Fähigkeiten zur Querdenkerei sind demnach systematisch ungleich verteilt, wobei der Geburtsrang als innerfamiliäre Startnummer für den Parcours des Lebens die Wahrscheinlichkeit, zum Rebellen zu werden, entscheidend beeinflußt. So war Charles Darwin (1809 bis 1882) als fünftes von sechs Geschwistern in weitaus höherem Maße zum wissenschaftlichen Revolutionär prädestiniert als die meisten seiner – erstgeborenen – konservativen Widersacher. Auch der Philosoph Immanuel Kant (1724 bis 1804) oder Bill Gates, Gründer und Inhaber des Software-Monopolisten Microsoft, hätten keine Erstgeborenen sein können, wie überhaupt die großen Umbrüche in Kultur und Geschichte ohne die Psychodynamik der Kinderstube nicht hinreichend zu verstehen sind.
Die besondere Attraktivität von
Sulloways Untersuchung liegt nicht primär in den empirischen Fakten (die inzwischen teilweise bestritten werden), sondern vielmehr in ihrer Interpretation. Danach ist die innerfamiliäre Ungleichverteilung rebellischer Inklinationen Ausfluß von genetischen Programmen der Persönlichkeitsentwicklung, die sehr präzise auf die Strukturen in der unmittelbaren Umwelt ihres Trägers reagieren und sich wegen des Selektionsvorteils, den sie dadurch bieten, im Laufe der Generationen durchgesetzt haben.
Erstgeborene und Einzelkinder haben weniger Grund, mit dem Status quo unzufrieden zu sein. Auf ihnen ruhen in besonderem Maße die reproduktiven Erwartungen ihrer Eltern, und sie haben
als deren vorrangige Hoffnungsträger im darwinischen Fitnessrennen viel materielle und immaterielle Unterstützung zu erwarten. Deshalb neigen sie dazu, sich mit den Eltern, ihren Lebensstrategien und Weltsichten zu identifizieren. Für Spätergeborene hingegen bleibt einfach weniger übrig vom immer irgendwie begrenzten Investmentkuchen ihrer Eltern – ein Grund ihrer latenten Unzufriedenheit und zugleich Anlaß, unkonventionell-kreativ zu reagieren, sich nämlich andersartige Nischen einzurichten und alternative Lebenswege einzuschlagen.
Weil dies häufig in erbittertem Wettbewerb mit den Erstgeborenen geschieht, bleibt deren Verteidigungsreaktion nicht aus. Ihren Altersvorsprung nutzend setzen sie auf eine autoritär-dominante Abwehr dieser Besitzstandsbedrohung. Die Persönlichkeitsentwicklung nimmt also ihren Anfang in einer profunden Geschwisterrivalität, wobei deren Einfluß ausgeprägter ist als der von Geschlecht, Rasse, Temperament und sozialer Schichtzugehörigkeit. Nicht Klassenkampf, wie ein Zeitgenosse Darwins irrtümlich behauptete, sondern Geschwisterkampf steht am Anfang von Veränderungen.
Diese Arbeit mischt die Persönlichkeitsforschung auf, die zwar mit viel Phantasie und großem Arbeitseinsatz immer wieder neue Instrumente entwickelt und zur Klärung einer unüberschaubaren Fülle von Detailfragen eingesetzt hat, aber letztlich über gute und fleißige Deskription kaum hinausgekommen ist. Persönlichkeitsdifferenzierung muß indes Gründe haben, über deren biologische Funktionalität bisher zu wenig nachgedacht wurde. Sulloway unterbreitet hier ein äußerst attraktives Angebot.
Nachdem Cecile Ernst und Jules Angst 1983 in einem Überblick („Birth Order: Its Influence on Personality“, Springer) zu dem Schluß gekommen waren, der Geburtsrang spiele dabei kaum eine nennenswerte Rolle, galt das Thema eigentlich als abgehakt. Kaum jemand erwartete noch robuste Ergebnisse oder gar weitgespannte Generalisierungen. Dies scheint nun anders geworden zu sein, und ein Grund dafür liegt in Sulloways konsequenter Theorieorientiertheit. Evolutionsbiologische Modelle – allen voran die Theorie des Eltern-Kind-Konflikts von Robert Trivers – lieferten konturenscharfe Suchbilder, die es überhaupt erst erlaubten, in klassisch deduktiver Manier empirische Effekte herauszuarbeiten,
die man sonst nicht ohne weiteres vermutet hätte.
Sulloways empirisch wie theoretisch gewaltiges Buch ist zweifellos eine potente Speerspitze in jener Phalanx aus Soziobiologie, Verhaltensökologie und darwinischer Psychologie, die zunehmend die Reviere konventioneller Forschungsansätze erobert. Sulloways Beitrag zu diesem Unternehmen wird von außerordentlich nachhaltigem Einfluß sein. Und selbst wenn jene Kritiker, die wegen der vielen subjektiven Elemente in der Datenanalyse Sulloways mutige Generalisierungen in Frage stellen, letztlich Recht behalten sollten, bleibt das kreative Werk eines Spätergeborenen mit mächtigem Anschubpotential für vielfältige Projekte.
Bei der eingangs zitierten Mutante der berühmten Formel „Außer im Lichte der Evolution ergibt nichts in der Biologie einen Sinn“ von Theodosius Dobzhansky handelt es sich übrigens nur um einen Druck- oder Übersetzungsfehler – schade eigentlich bei so viel unterschwelliger Weisheit.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1999, Seite 121
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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