Der Schatten des Mondes bringt es an den Tag
Historische Sonnenfinsternisse beweisen, daß die Länge des Tages zunimmt.
Am 15. April im Jahre 136 vor Christus, morgens um viertel vor neun, fiel ein Schatten auf Babylon: Die Menschen der bedeutenden Metropole am Euphrat erlebten, wie sich der Mond vor die Sonne schob. Ein Astrologe hielt das Ereignis minutiös fest, indem er mit Keilschrift folgende Beobachtungen in eine Tontafel ritzte: "24 Grad nach Sonnenaufgang – eine Sonnenfinsternis. Als sie auf der Südwestseite einsetzte, waren Venus und Merkur sowie die normalen Sterne sichtbar. Jupiter und Mars, die zu der Zeit am Nachthimmel fehlten, konnten nun gesehen werden. Die Sonne warf den Schatten von Südwest nach Nordost."
Am Wahrheitsgehalt dieser antiken Aufzeichnung einer totalen Sonnenfinsternis kann kein Zweifel bestehen. Doch wenn die heutigen Astronomen – aufgrund der wohlbekannten Himmelsbewegungen von Sonne und Mond sowie aufgrund der Rotationsperiode der Erde – im Computer rekonstruieren, was damals geschah, kommen sie zu einem abweichenden Ergebnis: Die Sonnenfinsternis vom 15. April 136 vor Christus hätte sich überhaupt nicht in Babylon ereignen dürfen. Der Kernschatten der Sonne hätte eigentlich 48,8 Grad westlich von Babylon die Erde treffen sollen, zum Beispiel auf Mallorca. Die Diskrepanz entspricht einem Achtel der Umdrehung der Erde, also 3,25 Stunden.
Allerdings ist eine achtel Umdrehung auch nicht besonders viel, wenn man bedenkt, daß die Erde seit der Beobachtung des Astrologen über 2000 Jahre lang jedes Jahr im Durchschnitt 365,256 Umdrehungen vollführte. Wäre der zugrunde gelegte Wert der Rotationsperiode unseres Planeten, also die exakte Tageslänge, nur um eine knappe zehntausendstel Sekunde kürzer, so wäre die Diskrepanz bereits einleuchtend.
Als einzige plausible Erklärung bleibt also, daß die Rotation der Erde früher schneller verlief, sich im Laufe der Geschichte also verlangsamt hat. Entsprechend einer Verschiebung der Erddrehung um über drei Stunden seit 136 vor Christus müßte die Tageslänge demnach pro Jahrhundert durchschnittlich um ein paar Millisekunden zugenommen haben.
Da es sich um zeitlich sehr exakt definierte Ereignisse handelt, sind historische Sonnen- und Mondfinsternisse von einzigartigem Nutzen zur Untersuchung der Erdrotation. Die britischen Forscher Richard Stephenson von der Universität Durham und Leslie Morrison, früher am Royal Greenwich Observatory in Cambridge, verwenden die historischen Beobachtungen in einem Langzeitprojekt. "Diese Aufzeichnungen sind das einzig verfügbare Datenmaterial, um feinste Veränderungen in der Erddrehung während der letzten Jahrtausende zu ermitteln", sagt Stephenson.
Ein Grund für die enorme Genauigkeit dieser Daten liegt darin, daß die Menschheit zufällig gerade in der Epoche des Sonnensystems lebt, in der Sonne und Mond nahezu denselben Winkeldurchmesser am irdischen Himmel haben. Im Laufe der Jahrmillionen vergrößert sich nämlich der Abstand zwischen Mond und Erde, so daß die Scheibe des Mondes relativ zur Sonne immer kleiner wird. Derzeit sind totale Sonnenfinsternisse nur innerhalb eines recht schmalen Streifens von maximal 250 Kilometer Breite wahrnehmbar. Das macht sie zu einem seltenen Phänomen, das sich auch bei etwas ungenauen Datumsangaben in den historischen Quellen eindeutig identifizieren läßt. Die Orte der historischen Beobachtung lassen somit eine recht genaue Bestimmung des Rotationswinkels der Erde zu.
Wenn Stephenson und Morrison mit dem Computer die Bewegungen von Sonne und Mond in die Vergangenheit zurückverfolgen, um eine Sonnenfinsternis zu datieren, dann gelingt ihnen dies bis auf eine Sekunde genau. Die Forscher können auch bestimmen, wo der Schatten aufgetreten wäre, hätte sich die Länge des Erdtags nicht verändert. Daraus läßt sich die durchschnittliche Zunahme der Tageslänge seit der historischen Beobachtung ermitteln. Die Eleganz dieser Methode besteht darin, daß in die Berechnung nur der Ort der Beobachtung und die Tatsache, daß überhaupt eine Sonnenfinsternis stattgefunden hat, eingehen. "Wir brauchen nicht einmal eine besonders genaue Datierung", sagt Stephenson. "Solange der Fehler nicht mehr als zwanzig Jahre beträgt, läßt sich eine Sonnenfinsternis in der Regel eindeutig identifizieren."
Bisher haben die beiden Forscher schon etwa 300 Aufzeichnungen ausgewertet, darunter auch solche über verschiedene Mondfinsternisse. Die Daten reichen bis 700 Jahre vor Christus zurück. Die meisten kommen aus Babylon, China, Europa und Arabien. Die babylonischen Daten stammen wahrscheinlich von Astrologen, die damit Himmelsphänomene vorausberechnen wollten – vielleicht um Horoskope zu erstellen. Die Aufzeichnungen decken den Zeitraum zwischen 700 vor und 75 nach Christus ab; sie betreffen auch Mondfinsternisse, alle mit einem Fehler von höchstens vier Minuten.
Aus ihrem reichen Datenmaterial schlossen die Babylonier, daß sich Sonnenfinsternisse alle achtzehn Jahre und elfeinhalb Tage mit ähnlichen Eigenschaften wiederholten. Diesen Zyklus nennen wir heute die Saros-Periode. Die Daten finden sich meistens auf Tontafeln, die Bauern im 19. Jahrhundert auf der Suche nach Ziegeln ausgruben und dann an Antiquitätenhändler in Bagdad weiter verkauften. Von dort gelangten sie ins Britische Museum.
Die chinesischen Daten stammen von Beamten, die dafür bezahlt wurden, nach himmlischen Vorzeichen, wie neuen Sternen, Kometen oder Meteorschauern, Ausschau zu halten. Viele der Beobachtungen stimmen bis auf etwa 15 Minuten mit den modernen Berechnungen überein. Verläßliche chinesische Daten dieser Art erstrecken sich über die gesamte Zeit vom achten vorchristlichen Jahrhundert bis heute. Allein 36 Sonnenfinsternisse registrierten die Chinesen zwischen den Jahren 720 und 480 vor Christus, darunter sogar drei totale. Das ist die früheste kontinuierliche Sequenz, die überliefert ist.
Aufzeichnungen aus Europa sind dagegen nur verstreut erhalten. Bekannt sind sporadische Beobachtungen der antiken Griechen und Römer, so von Herodot und Plutarch. Der griechische Lyriker Archilochus erwähnt eine Sonnenfinsternis in einem Gedicht von 650 vor Christus. Von Ptolemäus ist in seinem Lehrbuch Almagest eine Reihe von Mondfinsternissen überliefert, die bis 720 vor Christus zurückreichen und wahrscheinlich auf babylonischen Daten beruhen.
Spätere europäische Berichte über Finsternisse finden sich in mittelalterlichen Chroniken, der gebräuchlichsten Literaturform zwischen den Jahren 800 und 1400. "Aufgezeichnet wurden sie im Tagebuchstil von Laien, häufig in Klöstern. Teilweise finden sich darin kunstvolle Beschreibungen mit präzisen Datierungen", sagt Stephenson. So beobachtete zum Beispiel der Chronist Leo am 22. Dezember 968 in Konstantinopel eine totale Sonnenfinsternis: "Während der Wintersonnenwende verdunkelte sich die Sonne, wie es auf Erden nicht mehr geschah, seit die Juden unserem Herrn sein Leid zufügten. ... Dunkelheit fiel auf die Erde, und alle helleren Sterne zeigten sich. Jeder konnte die Sonnenscheibe sehen, ohne Glanz, ihrer Helligkeit beraubt, und ein gewisser matter, schwacher Schimmer umgab sie wie ein schmales Kopfband."
Stephenson hält dieses "Kopfband" für die erste datierbare Erwähnung der Sonnenkorona, also der äußeren, sehr heißen Sonnenatmosphäre. Möglicherweise ist Leos Beschreibung der Korona als "schmal" sogar ein Hinweis darauf, daß die Sonne sich damals nahe dem Minimum ihrer magnetischen Aktivität befand.
Die Araber hinterließen im Mittelalter ebenfalls eine reiche Chronik. So beobachtete zum Beispiel am 11. April 1176 der 16jährige Ibn al-Athir in der heutigen türkischen Stadt Cizre, nahe der syrischen Grenze gelegen, eine totale Sonnenfinsternis. Jahre später schrieb er über dieses Ereignis: "In jenem Jahr verdunkelte sich die Sonne vollständig, und auf der Erde herrschte Finsternis. Die Sterne erschienen, als wäre es tiefe Nacht. Es geschah an einem Freitag Vormittag, dem 29. Tag des Monats Ramadan, in Jazirat Ibn ´Umar, als ich noch jung und in Begleitung meines Rechenlehrers war. Als ich es sah, war ich sehr ängstlich. Ich hielt mich an ihm fest, und so faßte ich wieder Mut."
Aber in der arabischen Welt hielten nicht nur Chronisten Finsternisse fest. Zwischen 800 und 1000 nach Christus notierten Astronomen in Bagdad und Kairo die Zeitpunkte der Ereignisse auf fünf Minuten genau.
Aus allen Daten schlossen Stephenson und Morrison, daß um 500 vor Christus die Tage um etwa 50 Millisekunden kürzer waren als heute. In dem Diagramm, das den gesamten Zeitraum bis heute zeigt (Seite 50), erkennt man zunächst einen beständigen Zuwachs der Tageslänge, der durchschnittlich 1,7 Millisekunden pro Jahrhundert ausmacht, aber auch deutliche Abweichungen von einem linearen Verlauf aufweist. Ein exakt linearer Zuwachs läßt sich durch die Gezeitenwirkung zwischen Erde und Mond (und in geringerem Maße zwischen Erde und Sonne) erklären: Die Unterschiede der Mondanziehung zwischen der zu- und abgewandten Erdseite strecken die Erde in die Länge; dies bringt in den Ozeanen die Flutberge hervor, die der Mond wegen der Erddrehung mit sich schleppt. Dieser Effekt bremst die Erddrehung und vergrößert den Abstand zwischen Erde und Mond um 3,7 Zentimeter pro Jahr. Denn die Erde verliert aufgrund der Abbremsung Drehimpuls, den der Mond durch Ausweitung seiner Bahn aufnimmt.
Genaue Berechnungen ergeben, daß dem Abstandszuwachs des Mondes ein linearer Zuwachs der Tageslänge von 2,3 Millisekunden pro Jahrhundert entspricht. Das sind etwa 0,6 Millisekunden mehr als die gemessenen 1,7 Millisekunden pro Jahrhundert über die letzten 2500 Jahre. Es muß demnach noch einen gegenläufigen Effekt geben: "Es hängt mit dem Abschmelzen der Polkappen und Gletscher innerhalb der vergangenen 10000 Jahre zusammen", sagt Stephenson.
Während der letzten Eiszeit haben sich oberhalb des Meeresspiegels gewaltige Mengen Wasser in Form von Eis abgelagert. Dieses konnte daher mehr Drehimpuls aufnehmen, was die Rotation der Erde verlangsamte. Danach setzte der umgekehrte Prozeß ein. Das Schmelzen der Eismengen wirkt wie bei einem Eiskunstläufer, der die Arme anzieht: Es verkürzt die Tageslänge zwischen 0,5 und 0,6 Millisekunden pro Jahrhundert. Beide Effekte zusammen ergeben gerade das aus den historischen Aufzeichnungen ermittelte Anwachsen der Tageslänge. "Das könnte auch Zufall sein", meint Stephenson, "aber ich glaube es nicht." Morrison merkt außerdem an, daß ihre Kurve signifikante Abweichungen von dem Mittelwert von 1,7 Millisekunden pro Jahrhundert zeigt: "Manchmal sackt der Wert auf 1,4 Millisekunden ab, dann steigt er bis auf 2,0 Millisekunden an", sagt Morrison. "Tatsächlich oszillieren die Schwankungen mit einem Zyklus von etwa 1000 Jahren."
Eine periodische Schwankung der Tageslänge ist den modernen Astronomen schon seit längerem bekannt – allerdings auf einer Skala von nur wenigen Dekaden. Diese ermittelten Astronomen aus historischen Sternbedeckungen durch den Mond und die Planeten. Entsprechende Beobachtungen führen die Himmelsforscher seit etwa 1650 durch, nachdem Teleskope zum gebräuchlichen Werkzeug wurden.
Diese Art von Bedeckungen liefern noch genauere Zeitangaben. Sogenannten Dekaden-Fluktuationen der Tageslänge zeigen etwa dieselbe Amplitude wie der Jahrtausendzyklus. "Dieser scheint lediglich die Hülle der Dekaden-Fluktuationen zu bilden", kommentiert Morrison. "So sieht das eben aus, wenn die zeitliche Auflösung zu gering ist."
Die Ursache des Jahrtausendzyklus bleibt vorläufig ein Geheimnis, obwohl Stephenson glaubt, daß der Meeresspiegel eine Rolle spielt: Schwankungen des Meeresspiegels würden die Erdform verändern. Aber auch Klimaveränderungen oder Variationen des Magnetfeldes unseres Planeten könnten zu Umschichtungen im Erdmantel führen. Doch bisher hat noch niemand entsprechende geophysikalische Modelle berechnet. Das wollen Stephenson und Morrison auch den Theoretikern überlassen: "Unsere Aufgabe ist, durch die Auswertung historischer Sonnenfinsternisse auf neue und unerwartete Mechanismen zu stoßen, die die Erddrehung beeinflussen", sagt Stephenson.
Daher begeben sie sich auf die Suche nach weiteren historischen Quellen. Am liebsten hätten sie mehr Daten aus der Zeit vor 700 vor Christus. Die ägyptische Hochkultur bestand schon Jahrtausende davor, in denen die Menschen zahlreiche Sonnenfinsternisse registriert haben müßten. "Unser Problem ist, die richtigen Quellen zu finden und richtig zu interpretieren", merkt Morrison an. "Beispielsweise könnten die Ägypter eine dramatische Himmelserscheinung mit einer politischen Katastrophe auf der Erde beschrieben haben, etwa dem Tod eines Pharao." Stephenson und Morrison fehlen noch Daten zwischen 100 vor Christus und 500 nach Christus, außerdem zwischen 1300 und 1600. Für die erste Lücke hoffen sie dabei auf chinesische Quellen, die bisher übersehen wurden.
Den zweiten Zeitraum sollten Aufzeichnungen europäischer Astronomen füllen. Die Astronomen glauben zwar, in Europa schon alle wichtigen Beobachtungen gefunden zu haben, doch sei es keinesfalls immer einfach, an diese auch heranzukommen: "Die Vatikanische Bibliothek erlaubt zum Beispiel pro Tag nur insgesamt drei Manuskripte zu sichten – das ist viel zu wenig, wenn wir nach einer sehr seltenen Quelle suchen", sagt Stephenson.
Arabische Quellen sind noch schwerer zu erschließen. Stephenson glaubt, daß Unmengen davon noch gar nicht katalogisiert in bislang unzugänglichen Bibliotheken aufbewahrt werden. Von den babylonischen Aufzeichnungen sind vermutlich überhaupt erst zehn Prozent aufgespürt worden. "Die anderen 90 Prozent könnten zerstört sein", sagt Stephenson. "Vielleicht aber liegen sie auch noch im Boden begraben. Wir sind jedenfalls voller Hoffnung, daß wir sie eines Tages finden.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1999, Seite 50
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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