Direkt zum Inhalt

Der Streit um die Neandertaler

Ob Neandertaler und frühmoderne Menschen sich in Europa einst genetisch vermischten, ist unter Wissenschaftlern umstritten. Auch die Kulturstufe der Neandertaler am Beginn der jüngeren Altsteinzeit ist Gegenstand heftiger Kontroversen.


In ihrer Einfachheit klingt die Geschichte einleuchtend: In Europa erschien ein neuer Menschenschlag, und so mussten die bisher konkurrenzlosen Neandertaler aussterben. Der höher entwickelten Kultur der Eindringlinge waren sie trotz ihres großen Gehirns nicht gewachsen. Die Frage ist nur, ob diese Geschichte stimmt.

Einig sind sich Anthropologen über die Neandertaler nur in zwei Punkten: – Die stämmigen Hominiden trotzten 200000 Jahre lang in Europa und Westasien allen Fährnissen, selbst den kältesten Phasen der Eiszeit; – und heute gibt es diese Menschen nicht mehr.

Doch ihre Lebensart, ihre geistigen Fähigkeiten und vor allem ihr Schicksal sind in Fachkreisen äußerst umstritten.

Diese Kontroverse ist Teil des Disputs über die Herkunft des anatomisch modernen Menschen. In dieser Frage stehen sich, grob gesagt, zwei Lager gegenüber. Nach Auffassung der einen Seite entstand der moderne Mensch vor ungefähr 200000 Jahren in Afrika. Von dort breitete er sich später auf andere Kontinente aus – wo schon andere Hominiden lebten –, und er verdrängte schließlich weltweit alle archaischen Populationen, so in Europa den Neandertaler vor rund 30000 Jahren. Nach Ansicht der anderen Seite ist die Herkunft des modernen Menschen nicht so eindeutig. Vor allem verschwanden die archaischen Populationen nicht spurlos, sondern sie leisteten einen Beitrag zum Genpool des frühen modernen Menschen.

In dieser Auseinandersetzung nehmen die Neandertaler, als die bekanntesten archaischen Menschen, eine Schlüsselstellung ein. Mit Erkenntnissen über sie stehen und fallen viele der Argumente für das "Verdrängungsmodell" oder das "Vermischungsmodell". Die Wissenschaftler berühren bei diesen Forschungen ständig auch die Grenzfrage nach dem Menschsein selbst und nach unserer Einzigartigkeit. Gerade manche neueren Entdeckungen führen zu spannenden Thesen darüber, wie ähnlich die Neandertaler uns wohl gewesen seien.

Die Spekulationen hierzu sind so alt wie die Funde der ersten Neandertalerskelette. Das erste solche Fossil – ein unvollständiges Skelett – kam 1856 in der Kleinen Feldhofer Grotte im Neandertal bei Düsseldorf zu Tage. Der schwere Schädel mit den ausgeprägten Knochenwülsten über den Augen und die grobschlächtigen Gliederknochen wirkten auf die Anatomen so fremd, dass sie dieses Wesen als eigene biologische Art klassifizierten: Sie nannten die Spezies Homo neanderthalensis. Hierüber kam schon damals Streit auf – einige deutsche Wissenschaftler hielten die Fossilien schlicht für Knochen eines verkrüppelten Kosaken.

Zu primitiven Urmenschen wurden die Neandertaler fünfzig Jahre später erklärt, als 1908 in Frankreich das Skelett des "Alten Mannes" von La Chapelle-aux-Saints auftauchte. Das Fossil eines offensichtlich Kranken war Vorbild für die lange populären Darstellungen von gebückten, plumpen affenähnlichen Kraftpaketen. Von diesen Bestien stach der grazilere Homo sapiens mit seiner aufrechten Haltung umso anmutiger ab. Der Neandertaler geriet zum Urbild des Tierisch-Brutalen, des ungeschlachten, tumben Ungeheuers vor der Schwelle zum Menschsein.

Erst Jahrzehnte später machte eine neue Untersuchung des Individuums von La Chapelle deutlich, dass die Forscher damals bestimmte anatomische Merkmale falsch interpretiert hatten. Nun erkannten sie, dass sich die Neandertaler in Haltung und Gang von uns nicht unterschieden. Stellten sie dann überhaupt eine eigene Art dar? Sicher besaßen sie charakteristische morphologische Besonderheiten: einen kräftigen Knochenbau, kurze Arme und Beine, einen tonnenförmigen Brustkorb, dazu die Überaugenwülste, die niedrige, fliehende Stirn, das schnauzenförmig zugespitzte Gesicht und den kinnlosen Kiefer. Trotzdem können sich die Wissenschaftler bis heute nicht darüber einigen, ob sich die Neandertaler mit den anatomisch modernen Menschen vermischten oder nicht.

Neandertalerspuren an frühmodernen Europäern?


Unstrittig ist, dass einige der körperlichen Charakteristika der Neandertaler Umweltanpassungen darstellten, vor allem an die Kälte. Ein kompakter Körper etwa kühlt nicht so schnell aus wie ein grazil gebauter. Die Funktion anderer Merkmale ist weniger klar, zum Beispiel die des Knochenwulstes über den Augen. Darin scheint sich vielmehr die für isolierte Bevölkerungen typische Gendrift widerzuspiegeln.

Nach Ansicht der einen Wissenschaftlerfraktion – den Vertretern der Verdrängungshypothese – entwickelten die Neandertaler einen anderen Körperbau, weil sie zu einer Seitenlinie gehörten, deren Evolution getrennt von der Linie des modernen Menschen verlief. Gegen diese Auffassung kämpft das gegnerische Lager seit Jahren. Es verficht die These, viele der für Neandertaler typischen Merkmale kämen auch bei den frühen modernen Europäern vor, die auf sie folgten. David W. Frayer, Paläoanthropologe an der Universität von Kansas in Lawrence, bringt dies auf den Punkt: "Ganz klar unterscheiden sich die Neandertaler im Ganzen in einer Reihe von Merkmalen von frühmodernen Menschen. Aber das betrifft nur Häufigkeiten und gilt nicht grundsätzlich. So gut wie alles, was wir bei Neandertalern finden, kann man auch anderswo entdecken."

Frayer verweist auf einen der frühesten modernen Europäer, der in der Vogelherdhöhle bei Stetten in Baden-Württemberg gefunden wurde. In der Form entspricht der Schädel dem eines modernen Menschen, doch weist er auch Neandertaler-Merkmale auf: etwa die retromolare Lücke, den Abstand zwischen dem letzten Backenzahn und dem aufsteigenden Unterkieferast; oder die Form des Foramen mandibulare, eines Nervenkanals im Unterkiefer. Nach Frayer und dem Paläontologen Milford H. Wolpoff von der Universität von Michigan in Ann Arbor sind in dieser Hinsicht auch die Fossilien der frühmodernen Menschen von Mladec¼ aufschlussreich, einem Ort in Mähren in Tschechien. Einige Schädelmerkmale dieser Mladec¼-Menschen hätten andere Wissenschaftler bisher als typisch neandertalid eingestuft.

Unter anderem auf Befunde dieser Art stützten sich Anthropologen früher, als die These von einer eigenständigen Evolution des Neandertalers zum modernen Europäer noch im Gespräch war. Heute sehen die Paläontologen dies nicht mehr so krass. "Es lässt sich nicht bestreiten, dass auch Menschen nach Europa einwanderten, mit der Folge, dass die spätere Bevölkerung auf die Vermischung von Neandertalern und Zuwanderern zurückging" umreißt Wolpoff diese Sicht. Er glaubt, dass sich beide Gruppen nicht mehr unterschieden als heute etwa Europäer und australische Ureinwohner. Anzeichen für eine Vermischung sieht der Paläoanthropologe Fred H. Smith von der Northern Illinois University in DeKalb bei den Fossilien sehr später Neandertaler aus der Vindija-Höhle im Nordwesten Kroatiens. An ihnen spiegele sich "die Assimilation einiger frühmoderner Merkmale", etwa an den moderner ausgeprägten Überaugenbögen und am schwach ausgebildeten Kinn.

Hingegen halten jene Wissenschaftler, welche die Neandertaler als eigene Spezies ansehen, die Vindija-Fossilien für zu fragmentarisch für endgültige Schlüsse. Die Ähnlichkeiten könnten genauso gut auf einer konvergenten (gleichgerichteten) Evolution beruhen. Diese Forscher erkennen auch an den modernen Menschen von Mladec¼ nicht Anzeichen einer Vermischung mit dem Neandertaler. "Wenn ich mir die Morphologie dieser Menschen anschaue, dann sehe ich wohl Stämmigkeit, aber Neandertaler sehe ich nicht," betont Christopher B. Stringer vom Naturhistorischen Museum in London.

Erbsequenzen als Indizien


Seit einigen Jahren berufen Wissenschaftler dieser Seite sich auch auf genetische Daten. Bisher gelang es zwei Forscherteams, aus Neandertalerknochen eine kurze DNA-Sequenz zu isolieren und weiter zu untersuchen. (Im Juli 1997 erreichte dies eine Gruppe um den Anthropologen Svante Pääbo, der damals an der Universität München arbeitete. Und gerade jetzt im März konnte auch ein Team aus schottischen, russischen und schwedischen Wissenschaftlern um Igor V. Owtschinnikow vom Institut für Alternsforschung in Moskau ein kurzes Stück Neandertaler-DNA isolieren. Beide Gruppen hatten die Erbsequenz nicht aus dem Zellkern gewonnen, sondern aus Mitochondrien, Zellorganellen.) Schon die erste untersuchte Sequenz zeigte auffallend wenig Ähnlichkeit mit entsprechenden genetischen Abschnitten von heutigen Menschen, weswegen damals die Fachzeitschrift "Cell", in der der Befund veröffentlicht wurde, titelte: "Neandertaler waren nicht unsere Vorfahren". Die Wissenschaftler selbst äußerten sich vorsichtiger. Doch zumindest fanden sie bei diesem kurzen Erbabschnitt größere Unterschiede in der Abfolge der Bausteine im Vergleich zu heutigen Menschen, als man sie zwischen allen heutigen Populationen misst. Gleiches berichtet nun die zweite Forschergruppe – obwohl das von ihnen untersuchte Fossil viel jünger ist und aus einer völlig anderen Region stammt.

Doch so rasch wird der Streit wohl nicht zu schlichten sein. Im Januar 1999 entdeckte ein Grabungsteam in Portugal das Skelett eines kleinen Kindes. Es wurde vor rund 24500 Jahren im Gravettien-Stil bestattet, einer von früh-modernen Europäern bekannten Kultur. Erik Trinkaus von der Washington University in Saint Louis (US-Bundesstaat Missouri) und Cidália Duarte vom Portugiesischen Institut für Archäologie in Lissabon sowie deren Kollegen halten es für ein Mischlingskind (siehe Kasten rechts).

Falls sich in künftigen Forschungen bestätigt, dass dieses Kind tatsächlich ein Mischling war, würde dies die These stärken, dass der Neandertaler keine eigene Art, sondern eine Variante der unseren war. Vereinzelte Fälle von Hybridisierung zwischen modernen Menschen und Neandertalern gestehen auch die Verfechter der These von zwei verschiedenen Arten zu. Doch das Kind von Portugal lebte zu einer Zeit, als die Neandertaler vermutlich längst verschwunden waren. Trinkaus und Duarte nehmen deswegen an, dass Populationen von Neandertalern und von modernen Menschen sich einst ausgiebig genetisch mischten.

Die beiden Wissenschaftler werden von manchen Kollegen scharf angegriffen. In einem begleitenden Kommentar zu der Publikation über das mutmaßliche Mischlingskind schrieben die Paläoanthropologen Ian Tattersall vom Amerikanischen Museum für Naturgeschichte in New York und Jeffrey H. Schwartz von der Universität Pittsburgh (US-Bundesstaat Pennsylvania), das Skelett stamme höchstwahrscheinlich einfach von ei-nem "stämmigen Gravettien-Kind". Die gedrungenen Körperproportionen könnten nach Stringers Ansicht eine Anpassung an ein kühles Klima darstellen. Diese Lesart hält wiederum Jean-Jacques Hublin vom französischen Nationalen Forschungszentrum (CNRS) in Paris für problematisch. Zwar besäßen manche kälteadaptierten modernen Menschen durchaus solche Proportionen. Doch aus jener Zeit seien von Europa keine derartigen Populationen bekannt. Doch wirklich stört Hublin an den neuen Daten, dass "wir gar nichts über die Variabilität von Kindern der einzelnen Altersstufen zu jener Zeit wissen.

Symbolisches Denken


Kontrovers diskutiert wird auch die Kultur der Neandertaler. Wie sie lebten und sich verhielten, haben Archäologen bis vor kurzem weitgehend unterschätzt. Angeblich verstanden die Neandertaler sich weder auf die Jagd noch vermochten sie vorausschauend zu planen. Der Archäologe John J. Shea von der Staats-Universität von New York in Stony Brook meint dazu: "So, wie die Neandertaler manchmal hingestellt wurden, hätten sie wohl keinen einzigen Winter überstanden, geschweige denn eine Viertel Million Jahre im härtesten Klima, in dem Urmenschen je lebten." In Wirklichkeit waren die Neandertaler versierte Jäger, die selbst großen Tieren wie Nashörnern nachstellten.

Offenbar benutzten manche Neandertaler ausgeklügelte, mit Steinspitzen bewehrte Speere. Letztes Jahr stießen Forscher in Syrien auf eine Steinspitze im Nacken eines Wildesels. Die Jagdmethoden der Neandertaler richteten sich flexibel nach den örtlichen Gegebenheiten wie auch nach der Jahreszeit.

All dies spricht eigentlich dagegen, dass die Neandertaler untergingen, weil sie nicht genügend anpassungsfähig waren. Nur – vielleicht war die Anpassungsfähigkeit der frühmodernen Menschen noch etwas besser! Im Gespräch ist die Theorie, dass die Neuankömmlinge den Neandertalern in irgendeiner Weise geistig überlegen war. Vielleicht, so spekulieren einige Fachleute, betraf dies das symbolische Denken und damit auch die Sprache. Diese Mutmaßung kam auf, weil es lange so aussah, als ob die Neandertalerkultur in etwa auf der gleichen Stufe verharrte, während die frühmodernen Europäer, angefangen 40000 Jahre vor heute, sehr viel Neues schufen, auch viel Symbolhaftes: Sie allein, so schien es, veranstalteten aufwendige Begräbnisse, drückten sich in Körperschmuck, Skulpturen und Höhlenmalereien aus und fertigten komplexe Knochen- und Geweihwerkzeuge. Nur sie schienen demnach Träger einer Industrie zu sein, die bereits der jüngeren oder oberen Altsteinzeit, dem Jungpaläolithikum, zugerechnet wird. Die Hinterlassenschaften der Neandertaler wiesen hingegen offenbar noch auf die mittlere Altsteinzeit: Ihre Steinwerkzeuge gehörten nach landläufiger Einschätzung zum Moustérien.

Doch diese klare Trennung ist nicht mehr so sicher. Eigentlich existieren schon lange Hinweise, dass den Neandertalern symbolisches Denken nicht fremd war. Gräber von ihnen sind aus ganz Europa bekannt. Ob dies regelrechte Bestattungen mit Grabbeigaben waren, ist allerdings strittig. Nach Meinung mancher Archäologen verscharrten die Neandertaler ihre Toten nur vor Raubtieren. Was andere als intendierte Grabbeigaben deuten, halten sie für zufällig verlorene Dinge. Auch Belege für Kunst waren an ein paar Neandertaler-Fundstellen früher schon zu Tage gekommen – vereinzelte durchbohrte Zähne, verzierte Knochenfragmente sowie roter und gelber Ocker. Wegen ihrer Seltenheit wurden solche Funde aber gern anders erklärt.

Dass das abwertende Urteil über den Neandertaler vielleicht vorschnell gewesen war, begann sich 1980 abzuzeichnen. In dem Jahr fanden Archäologen unter einem Felsvorsprung, bei Saint-Césaire in der Region Charente-Maritime in Frankreich, Fossilien eines Neandertalers und damit assoziiert Steinwerkzeuge des Châtelperronien. Diese Kultur hatten sie bis dahin frühmodernen Menschen zugeschrieben.

Ins Rampenlicht geriet das Châtelperronien 1996, dank eines Befundes von Hublin und seinen Kollegen. Seit den späten vierziger Jahren hatten Archäologen in einer französischen Höhle, der Grotte du Renne bei Arcy-sur-Cure nahe Auxerre, Klingen, Körperschmuck und Knochenwerkzeuge in größeren Zahl ausgegraben sowie Spuren von Hütten und Feuerstellen identifiziert. Alles wies auf eine jungpaläolithische Kultur. Die spärlichen Überreste menschlicher Fossilien am Fundplatz ließen sich zunächst nicht einem bestimmten Menschentyp zuordnen. Doch vor ein paar Jahren gelang es Hublins Team, mit Computertomographie das knöcherne Innenohr in einem ansonsten nicht aussagekräftigen Schädelfragment zu vermessen: Sie identifizierten es als Neandertalerfossil.

Wie passte das zusammen? Hatten diese Neandertaler die "modernen" Gegenstände fortschrittlicheren Menschengruppen entwendet, irgendwo gefunden oder eingehandelt? Weitergehende Erklärungen hielten viele Wissenschaftler für abwegig, doch es kamen auch andere Stimmen auf, darunter die von Francesco d’Errico von der Universität Bordeaux und João Zilhão vom Portugiesischen Institut für Archäologie in Lissabon. Eine neue Studie von ihnen ergab, dass die Artefakte der Châtelperronien-Kultur nur oberflächlich Geräten des Aurignacien ähneln – das ebenfalls zum Jungpaläolithikum zählt. Die Herstellungstechnik sei aber eine andere, ältere (siehe Kasten auf Seite 46/47). Und dies gelte nicht nur für die Grotte du Renne.

Inzwischen nehmen die meisten Archäologen an, dass die Werkzeuge und Schmuckgegenstände des Châtelperronien von Neandertalern stammen, nicht von frühmodernen Menschen. Völlig unklar ist aber noch, was den Wandel plötzlich herbeiführte. Der Cambridger Archäologe Paul A. Mellars etwa hält es für plausibler und "ökonomischer", den Umbruch mit der "Nachahmung" von modernen Menschen oder mit einer "Übernahme von deren Kultur" zu erklären und nicht, wie d’Errico und Zilhão dies annehmen, als eigenständige Leistung der Neandertaler, bereits bevor moderne Menschen erschienen. "Es wäre schon ein großer Zufall gewesen, wenn die Neandertaler dies alles gerade erfunden hätten, kurz bevor die modernen Menschen auftauchten, die das Gleiche machten." Mellars widerspricht denn auch der von d’Errico und Zilhão postulierten zeitlichen Abfolge: "In meinen Augen beweisen die Datierungen, dass die Neandertaler mit der Herstellung dieser Gegenstände erst anfingen, nachdem die modernen Menschen Westeuropa, oder vielleicht sogar erst, nachdem sie Nordspanien erreicht hatten."

Der Archäologe Randall White von der New York University untersuchte die Schmuckstücke aus der Grotte du Renne ebenfalls. Nach seiner Ansicht haben deren Produzenten auch Techniken angewandt, die aus dem Aurignacien bekannt sind, wenn auch weniger oft als in dieser anderen Kultur bei Körperschmuck üblich. Die Lage der Schichten in der Grotte du Renne ist kompliziert. Deshalb sei es möglich, dass die modern wirkenden Geräte in Wirklichkeit zu späteren Ablagerungen aus dem Aurignacien gehören. Für ein wichtigeres Gegenargument aber hält White, dass das Châtelperronien außerhalb von Frankreich, Belgien, Italien und Nordspanien offenbar nicht vorkam. Betrachte man das Jungpaläolithikum aus gesamteuropäischer Perspektive, dann würde das Châtelperronien weit gefasst zu einem Post-Aurignacien.

White betont, "Post-Aurignacien" bedeute nicht unbedingt, dass dem ein Kontakt zu anatomisch modernen Menschen vorausging. An den frühesten Fundstellen des Aurignacien wurden bisher keine menschlichen Fossilien gefunden. Die Wissenschaftler setzten diese Kulturstufe nur deswegen generell mit frühmodernen Menschen in Verbindung, weil jüngere Stätten deren Fossilien enthielten. "Wer die Aurignacien-Menschen vor 40000 bis 35000 Jahren tatsächlich waren, das ist bisher kaum beantwortet."

Der Archäologe erwähnt in diesem Zusammenhang Befunde vom Nahen Osten. Dort fertigten vor rund 90000 Jahren Neandertaler wie frühmoderne Menschen Werkzeuge der Moustérien-Stufe, der Kultur der mittleren Altsteinzeit. Diese Geräte seien zugegebenermaßen weniger ausgefeilt als Objekte des Aurignacien, doch auch ihre Herstellung erforderte ein beträchtliches Know-how. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass Neandertaler solches technisch aufwendige Werkzeug herstellten und die Fertigkeit über Generationen weitergaben, ohne Sprache zu Hilfe zu nehmen. Ich habe schon oft Leuten beim Herstellen von Steinzeitgeräten zugesehen. Man lernt so etwas nicht allein vom Zugucken, ohne verbale Hilfestellung." White – und er steht damit nicht allein – hält nicht viel von der These, die frühmodernen Menschen seien den Neandertalern intellektuell überlegen gewesen, vor allem dann nicht, wenn Unterlegensein Fehlen von Sprache heißen soll. Vielmehr habe der frühmoderne Mensch anscheinend eine Kultur geschaffen, die stärker auf materiellen Symbolen fußte.

Neuer Konsens: Geistig hoch stehende Neandertaler


Bezüglich der geistigen Fähigkeiten haben Wissenschaftler auch untersucht, wie das Neandertalergehirn aussah. Alle Asymmetrien, die für den modernen Menschen typisch sind, so der Paläoanthropologe Ralph L. Holloway von der Columbia University in New York, finden sich auch bei Neandertalern. "Im Augenblick ist es nicht möglich, zwischen beiden Gehirnen einen Unterschied festzumachen."

Inwieweit Neandertaler anatomische Voraussetzungen zum Sprechen besaßen, untersucht Jeffrey T. Laitman von der Mount Sinai School of Medicine anhand der Schädelbasis. Falls sie denn Sprache benutzten, meint er, war ihr Repertoire an Vokalen begrenzt. Was dieser Befund letztlich heißt, ist aber fraglich.

Wenn nun die Neandertaler intellektuell den frühmodernen Menschen grundsätzlich gleichkamen, verblüfft ihr Verschwinden umso mehr. Dies geschah aber ohnehin nicht quasi über Nacht. Einer neuen Datierung des Teams von Smith zufolge sind die Neandertaler-Fossilien von Vindija in Kroatien nur 28000 Jahre alt. Diese Menschengruppe lebte demnach mitten in Europa zu einer Zeit, als Hominiden von anatomisch modernem Körperbau schon seit Jahrtausenden auf den Kontinent vorgedrungen waren (siehe Kasten links). Stringer vermutet, dass der moderne Mensch – den er als neue Art einstuft – die archaischen Europäer ganz allmählich übertrumpfte: "Die Neandertaler gerieten einfach immer mehr ins Hintertreffen. Die modernen Menschen waren nur ein klein wenig innovativer, konnten sich an plötzliche Wechsel der Umwelt etwas schneller anpassen, und wahrscheinlich reichte ihr soziales Netz weiter."

Ein anderes Bild entwerfen Smith und Wolpoff, die den Neandertaler für eine Variante unserer eigenen Art halten, noch dazu für eine ebenso befähigte. Demnach hätten die beiden Bevölkerungen in Europa reichlich Zeit gehabt, sich zu vermischen. Das würde die zusammengewürfelte Morphologie bei späten Neandertalern und frühen modernen Europäern erklären. Und wenn beide Gruppen ihr Erbgut miteinander tauschten, dann wohl auch kulturelle Ideen. Das wiederum würde erhellen, weshalb sich die Artefakte des Châtelperronien und des Aurignacien so ähneln.

Die Neandertaler verschwanden als eigenständige Gruppe, so Wolpoff, weil die Zuzügler sie zahlenmäßig übertrafen. Sie gingen mit der Zeit in der anderen, viel größeren Population auf, und ihre charakteristischen anatomischen Merkmale verloren sich schließlich. "Stellen wir uns nur die australische Bevölkerung in tausend Jahren vor. Sicherlich überwiegen dann die europäischen Merkmale, aber nicht etwa, weil die Europäer besser angepasst wären, auch nicht wegen ihrer Kultur. Nein, schlicht und einfach auf Grund ihrer Überzahl."

Ein Konsens zumindest schält sich in dem Dschungel der Meinungen heraus: Die alte Vorstellung vom Neandertaler als einer plumpen, kulturlosen Kreatur ist ad acta gelegt. Zukünftige Forschungen werden erweisen, ob er zu unseren direkten Vorfahren gehörte oder ob er nur eine uns sehr nah verwandte Art darstellte, die mit unserer Spezies um Eurasien konkurrierte und schließlich unterlag. Wie auch immer – die Abläufe waren mit Sicherheit sehr kompliziert. Der Archäologe Lawrence G. Straus von der Universität von New Mexico in Albuquerque resümiert: "Jeder neue Befund bringt neue Fragen und macht die Sache verzwickter. Einfache Erklärungen reichen nun einmal nicht hin!


Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 2000, Seite 42
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

Kennen Sie schon …

Spektrum - Die Woche – Wann klingt eine Sprache schön?

Klingt Italienisch wirklich schöner als Deutsch? Sprachen haben für viele Ohren einen unterschiedlichen Klang, dabei gibt es kein wissenschaftliches Maß dafür. Was bedingt also die Schönheit einer Sprache? Außerdem in der aktuellen »Woche«: Rarer Fund aus frühkeltischer Zeit in Baden-Württemberg.

Spektrum - Die Woche – Eine Sprache für die Welt

Zur lebendigen Diversität unserer Welt gehört auch die Vielfalt der Sprachen, in denen Menschen kommunizieren. Doch könnte es übergeordnet auch eine Sprache geben, in der wir uns alle verständigen - wie Esperanto?

Gehirn&Geist – Aus Fehlern lernen

Missgeschicke gehören zum Leben dazu. Unser Gehirn bemerkt sie oft blitzschnell. Wie registriert unser Gehirn, wenn wir uns irren, wie reagiert es darauf und warum lernt das Gehirn nicht immer aus den Fehlern? Daneben berichten wir, aus welchen Gründen manche Kinder den Kontakt zu ihren Eltern abbrechen und wie eine Annäherung vielleicht gelingen kann. Therapien von Morbus Alzheimer konzentrierten sich auf die Bekämpfung der Amyloid-Plaques. Doch man sollte dringend die Ablagerungen des Tau-Proteins stärker in den Blick nehmen. Die Folgen des hybriden Arbeitens rücken zunehmend in den Fokus der Forschung. Es führt zu einer höheren Zufriedenheit bei den Angestellten. Allerdings gibt es auch Nachteile. Bremst das Homeoffice die Kreativität? Daneben gehen wir der Frage nach, ob Tiere empathisch sind.

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.