Der vermessene Sternenhimmel - Ergebnisse der Hipparcos-Mission
Der Satellit Hipparcos begründete eine neue Ära in der Astrometrie. Seine Meßdaten von über hunderttausend Sternen erneuern inzwischen das Bild unserer kosmischen Umgebung; sie liefern auch entscheidende Hinweise auf weitere Grundfragen der Astronomie.
Anfangs sah alles nach einem Mißerfolg aus: Weil ein Triebwerk versagte, konnte der am 9. August 1989 von der Europäischen Raumfahrtbehörde ESA gestartete Satellit Hipparcos seine geplante kreisförmige Umlaufbahn nicht erreichen, die ihn einmal pro 24 Stunden um die Erde geführt hätte. Statt dessen blieb er auf einer stark elliptischen Bahn, die er alle 10,5 Stunden einmal durchlief; dadurch mußte der künstliche Erdtrabant viermal am Tag die Strahlungsgürtel der Erde durchqueren – jedesmal einem Schauer hochenergetischer Partikel ausgesetzt, die seine Elektronik zu zerstören drohten.
Den Technikern und Wissenschaftlern gelang es jedoch, die Software zur Steuerung des an Bord befindlichen Teleskops umzuprogrammieren und zusätzliche Bodenstationen für den Datenempfang einzusetzen. Als der Satellit nach vier Jahren im Orbit im August 1993 schließlich abgeschaltet wurde, hatte er den Astronomen eine Fülle an Meßdaten geliefert. Es kostete sie vier Jahre, um den Datenwust aufzubereiten.
Trotz der Panne mit der Umlaufbahn erwies sich die Hipparcos-Mission am Ende als eine der erfolgreichsten Raumfahrtunternehmungen der Wissenschaft. Sie verhalf einem Zweig der Astronomie zu neuer Bedeutung, der seit Anfang des 20. Jahrhunderts gegenüber der stürmischen Entwicklung anderer Beobachtungstechniken stark ins Hintertreffen geraten war: der Astrometrie, die sich mit der präzisen Vermessung der Sternpositionen und -bewegungen befaßt.
Hipparcos war die erste Raumfahrtunternehmung, die ausschließlich der Positionsastronomie diente. Mit den früheren astronomischen Missionen erforschte man entweder das Sonnensystem oder untersuchte astrophysikalische Fragestellungen.
Der Name des Satelliten ist Programm: "Hipparcos" steht als Abkürzung für High Precision Parallax Collecting Satellite (Satellit zur Sammlung hochgenauer Parallaxen). Zugleich wollten die Projektleiter mit der Namensgebung einen der bedeutendsten griechischen Astronomen ehren: Hipparch von Nikaia, der im zweiten vorchristlichen Jahrhundert die wissenschaftliche, auf Beobachtungen beruhende Astronomie begründete (siehe den nachfolgenden Artikel "Die Eroberung der dritten Dimension").
Die Hipparcos-Mission, an der unter Leitung der ESA einige hundert Astronomen und tausende von Ingenieuren und Technikern beteiligt waren, hatte eine ehrgeizige Aufgabe zu erfüllen: die Positionen der Sterne und ihre zeitlichen Änderungen mit bis dahin unerreichter Genauigkeit zu vermessen. Dazu hatten sich die Astronomen für das Bordteleskop von Hipparcos einen ungewöhnlichen Aufbau ausgedacht: Es schaute gleichzeitig in zwei verschiedene Richtungen. Die beiden "Gesichtsfelder" des Teleskops hatten einen Winkeldurchmesser von jeweils etwa einem Grad – das entspricht dem doppelten Durchmesser der Mondscheibe am Himmel – und lagen 58 Grad auseinander. In der Brennebene des Teleskops wurden Sterne von beiden Feldern abgebildet, die beiden Himmelsareale also sozusagen übereinandergelegt. Dadurch ließen sich Winkelabstände zwischen Sternen sowohl innerhalb der einzelnen Felder, als auch über den Winkelabstand von 58 Grad hinweg bestimmen, und zwar mit der gleichen Genauigkeit von einer tausendstel Bogensekunde – das entspricht etwa einem Milliardstel eines Vollkreises von 360 Grad. Dies stellte extreme Anforderungen an das Meßinstrument und seine Kalibrierung. So durfte sich beispielsweise das Teleskop über einen Zeitraum von zehn Stunden um nicht mehr als 0,4 Nanometer verziehen – also um weniger als einen Atomdurchmesser. Solche extremen Bedingungen lassen sich nur in der störungsfreien und stets gleichen Umgebung im Weltraum erfüllen.
Das Erstellen eines Kataloges mit den astrometrischen Daten der 120000 Sterne war die größte Rechenaufgabe in der Geschichte der beobachtenden Astronomie. Die zahlreichen am Hipparcos-Projekt beteiligten Forscher haben an mehreren Großrechenanlagen in Europa jahrelang daran gearbeitet: in Heidelberg, Tübingen, Straßburg, Toulouse, Lund (Schweden), Kopenhagen, Mai-land, Cambridge (England) und Leiden (Niederlande).
Der Grundgedanke des astrometrischen Verfahrens war im Prinzip einfach: Hipparcos hat stets Winkel von ungefähr 58 Grad gemessen, zunächst von Stern A zu Stern B, dann von Stern B zu Stern C, und so weiter, bis er nach einer gewissen Zeit wieder bei Stern A anlangte. Damit wurde unter anderem sozusagen die Lage des Sterns A relativ zu sich selbst bestimmt. Wenn man nun alle in den Zwischenschritten benutzten Winkel zusammenzählt, dann muß ein Vielfaches von 360 Grad herauskommen – und zwar exakt. Wegen der unvermeidlichen Meßungenauigkeiten treten allerdings stets kleine Abweichungen auf. Die Auswertung der Messungen bestand nun im wesentlichen darin, durch "sanftes Zurechtrücken" der einzelnen Meßwerte diese Diskrepanzen zu minimieren. Dieses "sanfte Zurechtrücken" – ein mathematisches Optimierungsverfahren – erforderte den größten Rechenaufwand.
Mit dem exakten 360-Grad-Test legte Hipparcos einzelne sehr genau vermessene Ringe über den Himmel. In einem zweiten, fast ebenso aufwendigen Schritt wurden diese Ringe zu einer zweidimensionalen Himmelskugel "verschweißt", im wesentlichen wiederum mittels der strikten 360-Grad-Bedingung. In dieser zweiten Stufe wurde die Aufgabe durch die Bewegungen und die parallaktischen Verschiebungen der Sterne erschwert (denn die verschiedenen Ringe wurden im allgemeinen zu unterschiedli-chen Zeiten gemessen), die nun gleichzeitig mit den Eichparametern aus den Messungen herausgerechnet werden mußten.
Indes war diese Erschwernis nicht wirklich ein Problem, sondern gerade das eigentliche Ziel des ganzen Unternehmens. Letztlich bestimmte Hipparcos aus den rund zehn Milliarden Einzelbeobachtungen rund 600000 astrometrische Kenngrößen an 120000 Sternen in der Sonnenumgebung – je zwei Koordinaten der Position, zwei Koordinaten der Bewegung und eine Parallaxe – sowie rund 100000 Eichparameter an sich selbst. Die große Zahl der Einzelmessungen war nötig, um das Instrument präzise zu eichen und zugleich das Universum mit der angestrebten Genauigkeit zu vermessen.
Vordergründig lieferte Hipparcos lediglich eine riesige Sammlung unterschiedlichster Sterndaten: Positionen, Parallaxen, Entfernungen, Eigenbewegungen und Helligkeiten. Diese bilden seitdem die Grundlage für die vielfältigsten weiterführenden astronomischen Untersuchungen. Der wissenschaftliche Wert dieser Datenfülle erschließt sich erst, wenn sie mit anderen Meßwerten in Beziehung gesetzt wird. Denn die gedanklichen Wege, die schließlich zu neuen Erkenntnissen führen, sind lang und verschlungen. Wie lassen sich zum Beispiel aus den gemessenen Entfernungen einiger tausend sonnennaher Sterne die Distanzen der fernsten Galaxien errechnen? Oder wie können die Astronomen aus den präzise gemessenen Sternbewegungen die Gesamtmasse unseres Milchstraßensystems ermitteln? Es wird deshalb noch viele Jahre dauern, bis die wissenschaftlichen Konsequenzen der Hipparcos-Daten weitgehend ausgelotet sind.
Im Mai 1997 erhielt die Gemeinschaft der Astronomen endlich die Hipparcos-Daten zur Auswertung und Bearbeitung von der ESA. Nur ein Jahr später waren auf dieser Grundlage bereits rund 500 wissenschaftliche Veröffentlichungen erschienen. Diese Fruchtbarkeit zeigte: Wir alle hatten mit großer Spannung auf das Datenmaterial gewartet; und die Anwendungen sind selbst für den Fachmann kaum noch zu überschauen. Hier können deshalb nur einige wichtige Beispiele wiedergegeben werden.
"Klumpenriesen" entdeckt
Aus einem Vergleich verschiedener Zustandsgrößen von Sternen haben die Astronomen in der Vergangenheit viel über deren inneren Aufbau und deren zeitliche Entwicklung gelernt. Zwei solcher Zustandsgrößen eines Sterns sind seine "wahre Helligkeit" – oder Leuchtkraft – und die Temperatur, die sich an der Farbe beziehungsweise dem Spektraltyp erkennen läßt. Traditionell werden wahre Helligkeit und Temperatur von Sternen in einem Diagramm dargestellt, das nach den Astronomen Ejnar Hertzsprung (1873–1967) und Henry N. Russell (1877–1957) benannt ist; jeder Stern wird dabei durch einen Punkt repräsentiert. In diesem "Hertzsprung-Russell-Diagramm" (HRD) liegt die Mehrzahl der Sterne in relativ schmalen Bereichen, den sogenannten Ästen (siehe Bild auf der nächsten Doppelseite).
Nach seiner Entstehung verharrt jeder Stern relativ lange – Millionen bis Milliarden Jahre – auf einem recht scharf begrenzten Ast, der "Hauptreihe". Während dieser Zeit "verbrennt" er in seinem Zentrum seinen Hauptbestandteil Wasserstoff mittels Atomkernreaktionen zu Helium. Wenn der Wasserstoff in seinem Zentrum aufgebraucht ist, bläht sich der Stern auf, wird an der Oberfläche kühler und entwickelt sich zu einem sogenannten Riesenstern. Dadurch wandert er im HRD nach rechts oben. So entsteht der Riesenast oberhalb der Hauptreihe.
Hauptreihe und Riesenast sind seit Jahrzehnten bekannt, ebenso ihre theoretische Erklärung. Doch die Hipparcos-Messungen haben die Qualität des HRD erheblich verbessert; denn in die Berechnung der wahren Helligkeit geht entscheidend die Entfernung der Sterne ein. Erst mittels der von Hipparcos viel präziser bestimmten Entfernungen konnten die Astronomen zeigen, daß der Riesenast eine auffällige Verdichtung enthält, den sogenannten Klumpen. Aus theoretischen Rechnungen war seit gut 30 Jahren bekannt, daß durch das Wasserstoffbrennen der nukleare Aschehaufen aus Helium im Zentrum der Sterne nach und nach immer größer, dichter und heißer wird, bis er sich unvermittelt in einer heftigen Explosion entzündet und beginnt, zu Kohlenstoff zu verbrennen. Theoretiker hatten auch vorhergesagt, daß diese innere Explosion den Stern vom oberen Ende des Riesenastes auf halbe Höhe zurückholen und dort lange Zeit festhalten würde. Diese Objekte bekamen die Bezeichnung "Klumpenriesen". Mangels genauer Entfernungsmessungen an Riesensternen ließen sie sich am Himmel vor der Hipparcos-Mission nicht identifizieren. Dank dieses Satelliten sind nun helle – das heißt: nahe – Exemplare der neuentdeckten Klumpenriesen in großer Zahl bekannt geworden. Die Astronomen können jetzt ihre weiteren Eigenschaften gezielt untersuchen.
Die Hipparcos-Daten gestatten auch Erkenntnisse über den inneren Aufbau und die Entwicklung von Sternen. Ein Beispiel bietet der helle Stern Eta Bootis. Dieses Objekt ist noch kein Klumpenriese; im HRD liegt er recht nahe der Hauptreihe. Neuerdings ist es mit speziellen Detektoren möglich, Eigenschwingungen der Sternkörper in Form von winzigen Helligkeitsschwankungen zu beobachten. Die Perioden dieser Schwingungen erlauben sehr detaillierte Rückschlüsse auf den inneren Aufbau, ähnlich wie auch der innere Aufbau des Erdkörpers aus Schwingungen (nämlich Erdbebenwellen) erschlossen wurde. Die auf diese Weise abgeleitete innere Struktur führt dann durch weitere Rechnungen auf eine – zunächst ebenfalls theoretische – wahre Helligkeit für den Stern. Mit der gemessenen scheinbaren Helligkeit läßt sich im nächsten Schritt eine theoretische Entfernung ausrechnen.
Hipparcos hat nun die wahre Entfernung von Eta Bootis zu 36,7 Lichtjahren bestimmt, mit einer Unsicherheit von weniger als einem Prozent. Hans Kjeldsen und Jørgen Christensen-Dalsgaard vom Institut für Physik und Astronomie der Universität Aarhus (Dänemark) haben das mit ihrem theoretisch vorhergesagten Wert verglichen – und perfekte Übereinstimmung gefunden. Das beweist den Erfolg ihrer äußerst diffizilen Schwingungsmessungen und zugleich die Richtigkeit der daraus abgeleiteten theoretischen Vorstellungen über die innere Struktur von Eta Bootis.
Alter und Archäologie der Milchstraßenscheibe
Die Position, die ein Stern auf der Hauptreihe einnimmt, hängt praktisch nur von seiner Masse ab. Das ergibt sich in schöner Übereinstimmung sowohl aus Modellrechnungen als auch aus direkten Massebestimmungen an Hauptreihensternen in Doppelsternsystemen. Links oben auf der Hauptreihe ordnen sich die Sterne mit über zehn Sonnenmassen an, rechts unten diejenigen mit etwa 0,2 Sonnenmassen. Wenn der Wasserstoff im Inneren der Sterne aufgebraucht ist, ändern sich ihre Zustandsgrößen derart, daß sie die Hauptreihe in Richtung Riesenast verlassen. Wie lange es von der Entstehung eines Sterns bis zu diesem Entwicklungsschritt dauert, hängt der Theorie zufolge ebenfalls nur von der Masse ab: Massereiche Sterne verweilen nur einige Millionen Jahre auf der Hauptreihe, die massearmen hingegen verlassen die Hauptreihe erst in Hunderten von Jahrmilliarden – das ist länger als das bisherige Alter des Universums.
Einem Hauptreihenstern sieht man sein Alter folglich nicht so leicht an, wohl aber einem Stern, der die Hauptreihe gerade verläßt oder schon ein kleines Stück den Riesenast hinaufgewandert ist. Für alle Sterne, die in diesem Bereich oberhalb der Hauptreihe liegen, können die Astronomen durch Vergleich mit den theoretischen Rechnungen individuelle Alter bestimmen. Damit lassen sich zum Beispiel die ältesten Sterne in der Umgebung der Sonne herausfinden.
Doch daraus folgt noch mehr: Weil der gesamte von Hipparcos vermessene Bereich innerhalb unseres Milchstraßensystems liegt, kann man daraus schließen, wann dort erstmals Sterne entstanden. Die Astronomen lesen im HRD aus der Lage der Unterkante des Riesenastes nahe seiner Abzweigungsstelle von der Hauptreihe ein Alter von elf Milliarden Jahren ab. Gäbe es noch ältere Sterne, müßte ein Teil von ihnen ebenfalls oberhalb der Hauptreihe, aber unterhalb des vorhandenen Riesenastes liegen. Im Vergleich dazu ist unsere Sonne noch recht jung: Mit 4,6 Milliarden Jahren ist sie nicht einmal halb so alt wie die ältesten Sterne in ihrem engeren Umkreis.
Die Astronomen vermögen aus den Hipparcos-Daten sogar vielfältige Informationen über die Geschichte des Milchstraßensystems zu entnehmen, ähnlich wie Archäologen aus Bodenfunden ein Bild vergangener Kulturen rekonstruieren. Zum Beispiel können sie aus den gemessenen Entfernungen und Bewegungen der Sterne die Geschwindigkeiten berechnen, mit denen die einzelnen Sterne der Sonnenumgebung das Zentrum unserer Galaxis umrunden. Dabei fanden Burkhardt Fuchs, Hartmut Jahreiß und Roland Wielen vom Astronomischen Rechen-Institut in Heidelberg Merkwürdiges: Sterne mit einem hohen Eisengehalt laufen in der Regel einheitlich mit der Sonne um das Milchstraßenzentrum. Die Minderheit eisenarmer Sterne weicht von diesem Muster ab. Ihre Geschwindigkeitsverteilung unterscheidet sich von derjenigen der eisenreichen in zweierlei Hinsicht: Sie ist viel breiter, weil die Geschwindigkeiten sehr viel uneinheitlicher sind, und auch der Mittelwert ist ein anderer, nämlich fast null, weil sich etwa die Hälfte von ihnen "rückwärts" bewegt. Dies bedeutet, daß die eisenarmen Sterne im Mittel überhaupt nicht um das Milchstraßenzentrum rotieren, ganz im Gegensatz zu den eisenreichen Objekten.
Was hat das alles zu bedeuten? Was hat die Bewegung der Sterne mit ihrem Eisengehalt zu tun? Dazu muß man zunächst wissen, daß das Milchstraßensystem aus zwei Komponenten besteht, einer flachen rotierenden Scheibe und einem galaktischen "Halo", der diese wie eine Kugel umgibt und nicht rotiert (siehe Bild auf Seite 49). Die mit der Sonne mitlaufenden Sterne gehören zur Scheibe, die anderen zum Halo. Des weiteren ist zu berücksichtigen, daß alle Materie im frühen Universum kurz nach dem Urknall zunächst praktisch nur aus Wasserstoff und Helium bestand. Alle anderen chemischen Elemente entstanden erst später in den Sternen. Am Ende ihres Daseins explodieren viele Sterne und verstreuen dadurch einen Großteil der erzeugten Elemente in den interstellaren Raum. Auf diese Weise reichern sie das Rohmaterial, aus dem nachfolgende Sterngenerationen entstehen, mit ihrer Sternenasche an.
Damit löste sich das Rätsel: Indem die Hipparcos-Daten die eisenarmen Sterne systematisch dem Halo und die eisenreichen der Scheibe zuordnen, können wir schließen, daß der Milchstraßenhalo früher entstanden sein muß als die Scheibe. Die Halosterne sind aus noch unverbrauchter, fast ursprünglicher Urknallmaterie aufgebaut. Dagegen enthält das Rohmaterial der Scheibensterne schon sehr viel mehr Produktionsabfälle einer früheren Sterngeneration – nämlich bereits verglühter Halosterne. Die Scheibe unseres Milchstraßensystems entstand erst, als der Eisengehalt im Universum schon auf etwa ein Zehntel seines heutigen Werts angestiegen war.
Überraschendes zur Entstehung und zum Aufbau der Sterne
Auf ähnliche Weise können die Astronomen noch tiefer in die galaktische Archäologie eindringen – zum Beispiel mittels der Hipparcos-Messungen an solchen Sternen, die sich schon ein wenig von der Hauptreihe entfernt haben, deren individuelles Alter sich also genau bestimmen läßt. Klaus Fuhrmann und Jan Bernkopf von der Universitätssternwarte München haben zusammen mit ihren Kollegen für eine beachtliche Zahl von Sternen die Elementhäufigkeiten mit größtmöglicher Sorgfalt bestimmt. Ihnen fiel auf, daß eisenarme Sterne relativ mehr Magnesium enthalten, und zwar etwa dreimal so viel wie eisenreiche. Erst bei einem Eisengehalt, der einem Drittel des Werts in der Sonne entspricht, ändert sich dieses Verhältnis ziemlich abrupt auf seinen "normalen" Wert. Weil auch das Alter der einzelnen Sterne mit Hilfe der Hipparcos-Entfernungen aus den gemessenen Helligkeiten und Oberflächentemperaturen durch Vergleich mit theoretischen Modellen ermittelt werden konnte, erkennen die Astronomen daraus: Sterbende Sterne geben seit neun oder zehn Milliarden Jahren viel weniger Magnesium in den Weltraum ab – im Vergleich zu Eisen – als in den ein oder zwei Milliarden Jahren davor.
Dieser seltsame Befund läßt sich nun mit dem zuvor Gesagten verstehen. Falls vor ungefähr elf oder zwölf Milliarden Jahren die Sternentstehung in der heutigen Sonnenumgebung begann, dann haben in den ersten ein bis zwei Milliarden Jahren danach zunächst nur kurzlebige, massereiche Sterne ihr Endstadium erreichen und ihre Kernreaktionsprodukte in die Umgebung verstreuen können. Erst später konnten dann auch massearme, langlebige Sterne zur "Verschmutzung" des interstellaren Gases beitragen. Das Auswurfmaterial aus den Explosionen massereicher Sterne (sogenannter Supernovae vom Typ II) enthält nach Modellrechnungen wesentlich weniger Eisen als das vom explosiven Ende massearmer Sterne (Supernovae vom Typ Ia).
Schon lange vermuteten manche Astronomen, daß der Halo des Milchstraßensystems zumindest teilweise aus den Überresten kleinerer Sternsysteme besteht, die vor Jahrmilliarden mit unserer Galaxis zusammenstießen und durch Gezeitenkräfte zerrissen wurden. Sie wären heute nur noch als "Sternströme" im Halo, also als Gruppen von Halosternen mit sehr ähnlicher Raumgeschwindigkeit zu erkennen. Einer niederländischen Arbeitsgruppe um Amina Helmi und P. Tim de Zeeuw von der Sternwarte Leiden ist nun endlich anhand der Hipparcos-Daten der Nachweis einer solchen Gruppe gelungen. Aus den 13 identifizierten Objekten folgerte das Astronomenteam, daß rund zehn Prozent aller Halosterne in der Sonnenumgebung dieser Gruppe angehören. Daraus läßt sich wiederum ableiten, daß insgesamt viele Millionen Sterne im Halo diesem Sternstrom zugerechnet werden müssen. Ohne die präzisen astrometrischen Daten des Hipparcos-Satelliten wäre die Bewegungsstruktur dieser Halosterne nicht zu entdecken gewesen.
Die bisher genannten Beispiele könnten den Eindruck erwecken, Hipparcos habe mit seinen präzisen Daten nur bereits bekannte Beobachtungsbefunde und Theorien bestätigt und auf eine wesentlich bessere und genauere Grundlage gestellt. Doch der Satellit hat den Astronomen auch schon handfeste Überraschungen beschert, für die es noch keine rechten Erklärungen gibt.
- So war etwa nach den bisherigen theoretischen Modellen zu erwarten, daß eisenreiche Sterne bei gleicher Farbe generell heller leuchten als eisenarme. Die von Hipparcos gemessenen Entfernungen sprechen jedoch dagegen. Wie eine Forschergruppe um Yves Lebreton von der Pariser Sternwarte in Meudon und Jean-Claude Mermilliod vom Astronomischen Institut der Universität Lausanne anhand dieser Daten festgestellt haben, gibt es fast keinen Helligkeitsunterschied. Die Modelle für den inneren Aufbau der Sterne sind offenbar noch nicht ausgereift genug. Wie sie zu erweitern wären, ist bisher allerdings nicht bekannt.
- Auch hinsichtlich der Sternentstehung hat Hipparcos neue Fragen aufgeworfen. Sterne bilden sich nach allgemeiner Auffassung in dichten Wolken aus Gas und Staub. Damit im Einklang steht die Beobachtung, daß sehr junge Sterne in solchen Wolken und deren unmittelbarer Umgebung anzutreffen sind. Von dieser Regel gibt es nur einzelne Ausnahmen, darunter den Stern TW Hydrae, der offenbar erst wenige Millionen Jahre alt ist; er ist knapp 200 Lichtjahre von der Sonne entfernt und steht völlig allein, weitab von allen bekannten Sternentstehungsgebieten. Die Astronomen rätseln seit einigen Jahren, wo die "Wiege" des Sternenbabys stand.
Bisher vermuteten die Wissenschaftler, TW Hydrae und ähnliche Objekte seien ehemalige Doppelsternkomponenten, deren Partner durch einen nahe vorüberziehenden dritten Stern entrissen wurden. Dabei wurden diese Objekte aus ihrer mütterlichen Gas- und Staubwolke mit hoher Geschwindigkeit ausgestoßen. Die von Hipparcos sehr präzise gemessene Bewegung von TW Hydrae hat diesen Erklärungsversuch leider zunichte gemacht: Der Stern steht im Milchstraßensystem praktisch still. Er könnte innerhalb seines kurzen Sternenlebens nur einen kleinen Bruchteil seiner heutigen Entfernung von benachbarten Sternentstehungsgebieten zurückgelegt haben.
Ist der Stern vielleicht gar nicht so extrem jung wie er uns erscheint? Doch auch hier lieferte Hipparcos einen eindeutigen Befund: Die gemessene Entfernung – und damit die wahre Helligkeit – paßt zu der Vermutung eines Sternenbabys. Es kann sich nicht um einen normalen Hauptreihenstern handeln, der – aus welchem Grunde auch immer – äußerlich einen "Neugeborenen" imitiert. Es ist heute also weiterhin völlig rätselhaft, wie und woraus TW Hydrae entstanden sein könnte.
Der große Erfolg von Hipparcos und die interessanten wissenschaftlichen Ergebnisse, die aus seinen Daten abgeleitet werden, haben der uralten, in diesem Jahrhundert etwas aus der Mode geratenen Kunst der himmlischen Positionsmessungen eine glänzende Zukunft gesichert. Die wissenschaftliche Nutzung der Hipparcos-Ergebnisse hatte noch gar nicht begonnen, als schon in mehreren Ländern gleichzeitig über Nachfolgeprojekte nachgedacht wurde. Dies hat zwei wichtige Gründe.
Erstens hat Hipparcos gezeigt, daß die Verlagerung der astronomischen Beobachtungsplattform in den Weltraum in der Tat gewaltige Fortschritte ermöglicht. Aber der Pionier der Weltraumastrometrie wurde mit den technischen Mitteln der späten siebziger Jahre gebaut. Aufbauend auf den Erfahrungen aus diesem gelungenen Experiment könnte man mit dem heutigen Stand der Technik vieles noch wesentlich besser machen. Zweitens war abzusehen, daß viele spannende wissenschaftliche Fragen auch mit den fabelhaften Hipparcos-Daten noch nicht mit hinreichender Zuverlässigkeit beantwortet werden können. Und die bisher schon gefundenen Antworten haben den Appetit der Forscher auf noch mehr und noch bessere Daten geweckt.
So nimmt es nicht Wunder, daß zeitweise sogar sieben Nachfolgemissionen diskutiert wurden. Die drei aussichtsreichsten und technisch bereits am weitesten entwickelten sind:
- "Gaia" (Global Astrometric Interferometer for Astrophysics),
- "Diva" (Deutsches Interferometer für Vielkanalphotometrie und Astrometrie),
- SIM (Space Interferometry Mission).
Die ESA möchte mit dem Gaia-Satelliten ganz in der Tradition von Hipparcos eine astrometrische Durchmusterung des gesamten Himmels durchführen, aber die hundertfache Genauigkeit (also 0,01 Millibogensekunden) erreichen und hunderttausendmal so viele Sterne (also eine Milliarde) vermessen wie sein Vorgänger. Das Teleskop von Gaia wird im Vergleich zu Hipparcos die zwanzigfache Lichtmenge sammeln und – das ist der entscheidende Unterschied – über eine moderne elektronische Kamera mit mehreren hundert Millionen Lichtempfängern verfügen. Hipparcos hatte nur einen einzigen Lichtdetektor. Gaia wird den Fortschritt in der Astronomie in ähnlicher Weise voranbringen wie die Röntgentechnik und die Tomographie in der Medizin. Allerdings werden die Ergebnisse frühestens ab 2020 vorliegen.
Diva, eine im Prinzip verkleinerte Ausgabe von Gaia, wird bereits früher astrometrische Daten liefern. An der Entwicklung des Satelliten sind federführend das Astronomische Rechen-Institut und die Landessternwarte in Heidelberg beteiligt. Nach einer kürzlich abgeschlossenen technischen Machbarkeitsstudie könnte Diva bereits 2003 starten, rund fünfmal genauer messen als Hipparcos (0,2 Millibogensekunden) und mindestens 35 Millionen Sterne (rund 300mal so viele) beobachten – für weniger als ein Zehntel der Kosten von Hipparcos oder Gaia. Die Ergebnisse davon sollten schon im Jahre 2008 vorliegen.
Mit SIM möchte die US-amerikanische Raumfahrtbehörde NASA eine noch etwas höhere Genauigkeit erreichen als mit Gaia – aber nur für "ganz wenige" Sterne, rund 10000. Dafür soll SIM aber schon 2005 starten und ab 2008 Ergebnisse liefern können, etwa zeitgleich mit Diva.
Was 1989 mit einer technischen Panne begann, führte die Forschung also in eine Renaissance der Astrometrie – und in eine Ära, die wohl noch Jahrzehnte anhalten wird.
Literaturhinweise
Hipparcos – der 100000-Sterne-Satellit. Von Ulrich Bastian in: Sterne und Weltraum, Bd. 25, Heft 10, S. 524–529 (1986).
Hipparcos: Die wissenschaftliche Ernte beginnt. Von Ulrich Bastian in: Sterne und Weltraum, Bd. 36, Nr. 11, S. 938–941 (1997).
DIVA – der 35-Millionen-Sterne-Satellit. Von Ulrich Bastian, Elena Schilbach und Siegfried Röser in: Sterne und Weltraum, Bd. 38, Nr. 10, S. 842–851 (1999).
Hipparcos: The Stars in Three Dimensions. Von Michael Perryman in: Sky and Telescope, Bd. 97, Nr. 6, S. 40–50 (1999).
Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 2000, Seite 42
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