Der Wandel politischer Konflikte
In den vergangenen 50 Jahren ist die Welt zwar nicht friedlicher geworden, doch an die Stelle zwischenstaatlicher Krisen und Kriege sind vermehrt interne – oft ethnisch motivierte – Streitigkeiten getreten. Die Bedeutung internationaler Organisationen als Schlichter ist gewachsen.
Das Verhalten der Staatenwelt in Konfliktfällen hat während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts drei markante Wandlungen erfahren. Bis zur Mitte des Jahrhunderts bestimmten zwischenstaatliche Rivalitäten das Geschehen, und fast ausschließlich waren Regierungen die Akteure. Diese schlossen den Einsatz von Waffengewalt zu keiner Zeit aus. Das nationale Machtinteresse bestimmte das strategische oder taktische Kalkül.
Die bitteren Erfahrungen der beiden Weltkriege haben zumindest europäische Mächte allmählich zu einem gänzlich anderen Konfliktverhalten veranlaßt. Bei vielen ist erstens die Einsicht gewachsen, daß Interessen nicht nur gegen, sondern auch – und vielleicht nur – im Verbund mit anderen verfolgt werden können und daß die eigene Sicherheit auch mit friedlichen Mitteln zu erreichen ist. Darum sind zahlreiche internationale Organisationen gegründet worden, die mitgeholfen haben, den Verkehr zwischen den Nationen in friedliche Bahnen zu lenken. Andererseits hat sich die Zahl der Staaten nach 1945 etwa durch Unabhängigkeit früherer Kolonien oder Teilung beinahe vervierfacht; dadurch traten wieder ältere Muster gewaltsamen Konfliktverhaltens auf, und dies hatte viele Kriege zur Folge (Bild 1).
Zweitens hat die zunehmende Demokratisierung der europäischen Gesellschaften Akteure auf den Plan gerufen, die im Korsett autoritärer Staaten bisher kaum in Erscheinung getreten waren. Politische Gruppen nahmen das – von US-Präsident Woodrow Wilson (1856 bis 1924) am Ende des Ersten Weltkriegs ausgerufene – Prinzip der Selbstbestimmung der Völker in Anspruch, was zahlreiche innerstaatliche Konflikte verursachte: Die Streitigkeiten verlagerten sich allmählich aus dem internationalen in den nationalen Bereich.
Drittens schließlich haben zunehmende Intensivierung des Handels und Verdichtung des Verkehrs insbesondere im nicht-staatlichen Bereich das gefördert, was heute als Globalisierung bezeichnet wird – mit der Folge, daß vor allem wirtschaftliche, also private Akteure an Gewicht gewonnen haben. Zwar sind sie selten selbst als konflikttreibende Kräfte in Erscheinung getreten; sie haben aber vielfach ihre Regierungen zu teils gewalttätigem Verhalten veranlaßt. Außer den wirtschaftlichen Organisationen sind auch zahlreiche kulturelle, soziale und wissenschaftliche Akteure hinzugekommen, die in aller Regel zu eher deeskalierendem Verhalten neigen.
Auf die veränderte Lage hat die internationale Konfliktforschung allmählich reagiert. Sie ist dabei zwei verschiedene, aber miteinander verbundene Wege gegangen: Gemäß dem historischen Ansatz wurden einzelne Konfliktfälle untersucht und das Spezifische des Einzelfalls beschreibend analysiert; nach dem quantitativen Ansatz sucht man hingegen auf einer breiten empirischen Basis zahlreicher Fälle zu allgemeinen Aussagen über Konflikte zu gelangen (Bild 2).
Das Projekt KOSIMO (abgekürzt für Konfliktsimulationsmodell) des Instituts für Politische Wissenschaften der Universität Heidelberg ist seit den achtziger Jahren den zweiten Weg gegangen, also quantitativ angelegt, und hat sich zum Ziel gesetzt, dreierlei Mängel der älteren Konfliktforschung zu beheben (vergleiche meinen Beitrag "Konfliktforschung: Krieg und Frieden in neuerer Zeit", Spektrum der Wissenschaft, Mai 1989, Seite 12, sowie den Analyse-Bericht "Die Bewältigung nationaler und internationaler Konflikte" zum Schwerpunkt "Konfliktforschung", Spektrum der Wissenschaft, Juni 1993, Seite 103): Traditionell konzentrierte man sich auf die Ursachen militärischer Auseinandersetzungen; man bearbeitete vor allem internationale Konflikte und beachtete hauptsächlich staatliche Akteure.
Demgegenüber sollten nun in KOSIMO drei Gesichtspunkte berücksichtigt werden:
- Erstens waren nicht nur militärische, sondern auch friedlich verlaufende Konflikte zu untersuchen – denn es stellte sich heraus, daß viele Zwistigkeiten ohne militärische Gewalt abliefen. Wir haben dafür eine Intensitätsskala erstellt, die von latenten Konflikten über Krisen (gewaltlose Konflikte) und ernste Krisen bis zu Kriegen (gewaltsamen Konflikten) reicht.
- Zweitens wurden in die Analyse außer internationalen auch nationale (beziehungsweise internationalisierte) Konflikte einbezogen.
- Drittens – und dies hat mit der Tendenz zu internen Konflikten zu tun – mußten wir auch die neu hinzugekommenen Akteure (nicht-staatliche Gruppen und internationale Organisationen) als Konfliktparteien aufnehmen.
In all diesen Fällen verlagerte sich der Schwerpunkt der Forschung von der Ursachenanalyse zur Untersuchung von Lösungsansätzen. Die quantitativ angelegte Datenbank erfaßt jeden der 661 Konflikte, die für die Zeit zwischen 1945 und 1995 registriert worden sind, mit jeweils 29 Merkmalen – zum Beispiel Dauer, geographische Lage, Intensität, direkt oder indirekt Beteiligte sowie zugehörige politische Regimes.
Mit Hilfe dieses Forschungsansatzes lassen sich vor allem vier Ergebnisse erzielen: Zum einen vermag man durch Auszählung der Häufigkeit bestimmter Merkmale gewisse Tendenzen zu erkennen (also deskriptive Erkenntnisse). Des weiteren ermöglichen solche Häufigkeiten allgemeine Vermutungen über Zusammenhänge, wenn nicht gar Kausalitäten (also das Generieren von Hypothesen). Ferner lassen sich anhand des Datenmaterials die zahlreichen in der Forschungsliteratur dokumentierten Theorien über politische Konflikte überprüfen. Und schließlich ergeben die empirischen Beobachtungen in begrenztem Maße Hinweise auf künftige Entwicklungen (erlauben also Vorhersagen).
Im folgenden sollen einige dieser – mit Hilfe von Christoph Rohloff gewonnenen – Resultate aufgezählt werden.
Beschreibende Erkenntnisse
In der fünfzigjährigen Periode von 1945 bis 1995 traten mehr Konfliktfälle auf als in jeder früheren. Vergleicht man die Häufigkeit der nicht gewaltsamen und der gewaltsamen, so fällt deren parallele Entwicklung auf. Dabei hat sich das Gewicht von der internationalen auf die nationale Ebene verlagert: Ab 1969 waren mehr gewaltsame interne als zwischenstaatliche Konflikte zu registrieren (Bild 3). Dennoch gab es während der gesamten Periode 398 internationale und nur 263 nationale Streitigkeiten.
Die Anzahl der Konflikte mit Gewalteinsatz betrug in den untersuchten 50 Jahren 387 (davon 104 Kriege), die derjenigen ohne Gewalt 274. Innerstaatliche Konflikte zeigen ein gewaltsameres Profil als zwischenstaatliche.
Territorien beziehungsweise Grenzen sowie interne Macht waren – entsprechend dem überwiegend internationalen Charakter der Konflikte – die am meisten umstrittenen Güter. Ehemalige Großmächte, vor allem Großbritannien und Frankreich, beziehungsweise die Supermächte des Kalten Krieges USA und UdSSR waren am häufigsten beteiligt. Nie in Konflikte verstrickt waren 43 – meist europäische und meist kleinere – Staaten, und 25 Nationen nur in nicht-gewaltsame. Knapp 70 Staaten zeigen somit ein friedliches Profil.
Diktaturen waren häufiger in gewaltsame Konflikte verwickelt als Demokratien. Nach 1945 ist kein einziger Krieg zwischen demokratischen Staaten geführt worden. Auch von internen gewaltsamen Auseinandersetzungen waren Demokratien weniger betroffen (Bild 4).
Geographisch waren die Konflikte vor allem in Schwarzafrika, im Mittleren und Nahen Osten sowie in Asien lokalisiert. Relativ friedlich blieben der nordamerikanische Kontinent und Europa.
Das häufigste Resultat militärischer Auseinandersetzungen waren Waffenstillstände oder unentschiedene Situationen; nur in 18 Prozent aller gewaltsamen Konflikte siegte der Initiator. Auch an den Territorien hat sich selten (und wenn, dann kaum) etwas verändert. Politisch sind die meisten Fälle zwar weiterhin strittig; dennoch hat es in insgesamt 368 Konfliktfällen formale Abkommen gegeben – Friedensschlüsse, Waffenstillstände, Unabhängigkeitserklärungen, Gerichtsentscheide oder neue Verfassungen.
Folgerungen
Überprüfung von Hypothesen
Bestätigt haben sich die Theorie des demokratischen Friedens, wonach Demokratien sich nicht gegenseitig bekriegen, sowie die Theorie des schwachen Staates, wonach infolge des Fehlens einer Ordnungsmacht gewaltsame Konflikte entstehen können; in zahlreichen Fällen hat staatliche Schwäche gewissermaßen Privatkriege – solche zwischen Gruppen oder einer Gruppe gegen die übrige Bevölkerung – herbeigeführt.
Nicht bestätigt hat sich die Theorie des aggressiven Staates, wonach allein die Existenz eines Staates kriegstreibend sei: Es gab viele Staaten ohne Kriege. Auch die Theorie des Kampfes der Zivilisationen – wonach die künftigen Konfliktlinien zwischen unterschiedlichen zivilisatorischen oder kulturellen Bereichen verlaufen würden – wird von den Daten nicht gestützt; gewaltsame Konflikte sind ebenso innerhalb von Kulturbereichen ausgetragen worden. Und schließlich hat sich die sogenannte neue Weltordnung nach Ende des Kalten Krieges nicht als friedlicher erwiesen; vielmehr verhütete die Konfrontation des westlichen und des östlichen Machtblocks einige Konflikte, die erst nach Auflösung des Warschauer Pakts (1991) aufgebrochen sind.
Als Handlungsanleitung für die Zukunft läßt sich daraus folgern, daß die Politik auf Demokratisierung gerichtet sein muß. Nur starke demokratische Staaten sind imstande, mit innerstaatlichen Konflikten friedlich umzugehen.
Besondere Beachtung verdienen die ethnisch-religiösen Konfliktlinien. Die internationalen Organisationen müssen mehr Mittel an die Hand bekommen, um bei eklatanten Menschenrechtsverletzungen auch in den innerstaatlichen Bereich eingreifen zu können. Zudem müßte insbesondere dem Erlernen von Verhandlungstechniken oder -strategien in Praxis und Theorie mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden.
Fazit
Zusammenfassend geht aus der empirischen Analyse fünfzigjährigen Konfliktverhaltens hervor, daß die Welt nach 1945 nicht friedlicher geworden ist. Doch obwohl allein die Zahl staatlicher Akteure – der Regierungen – sich seither vervierfacht hat, ist demgegenüber der Zuwachs an Zwist moderat geblieben. An der Mehrzahl der Konflikte sind nur wenige Staaten beteiligt gewesen. In der untersuchten Periode haben interne ethnische oder Machtkonflikte den Typus internationaler Krisen abgelöst. Mit diesem Wechsel haben sich auch die Konfliktgüter geändert: Interne Streitigkeiten werden vorwiegend um ethnische, religiöse oder regionale Autonomie ausgetragen – meist verbunden mit dem Kampf um Territorien oder nationale Machtpositionen.
Zwar bleiben Staaten die Hauptakteure; doch eine der Ursachen für gewaltsamen Konfliktaustrag liegt gerade in der Schwäche von Regierungen, die in einigen Fällen sogar die Kontrolle über das Land verloren haben. Internationale Organisationen haben insbesondere bei zwischenstaatlichen Konflikten ihr Instrumentarium erheblich erweitert und in zahlreichen Fällen erfolgreich vermittelt. Daneben spielen aber weiterhin die Großmächte eine wichtige Rolle – vor allem bei kriegerischen Auseinandersetzungen.
Im großen und ganzen läßt sich für die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts durchaus von einem Paradigmenwechsel in den internationalen Beziehungen sprechen. Der Vergleich der Wiedervereinigung Deutschlands 1989/90 mit der Reichseinigung 1866/71 verdeutlicht diesen politischen Stilwandel. Während im letzten Jahrhundert die Einigung des Deutschen Reichs mit drei Kriegen gegen Österreich, Dänemark und Frankreich verbunden war, verlief in diesem Jahrhundert der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik ausschließlich mit Hilfe einer Vielzahl von bi- und multilateralen Verhandlungen.
Konflikte seit 1945. Herausgegeben von Frank R. Pfetsch. Ploetz-Verlag, Freiburg 1991.
Globales Konfliktpanorama 1990 – 1995. Herausgegeben von Frank R. Pfetsch. Lit Verlag, Münster 1996.
Konfliktbarometer. Jährliche Konfliktanalyse des Heidelberger Instituts für Internationale Konfliktforschung. Zu bestellen per e-mail unter der Adresse: frank.pfetsch@urz.uni-heidelberg.de
Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1998, Seite 76
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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