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Kreiselphysik: Der wilde Tanz des Tellers

Es muss nicht unbedingt ein Teller sein. Was rund, flach und hinreichend schwer ist, fängt – schwungvoll auf dem Tisch abgelegt – leicht an zu kreiseln. Immer schneller scheint der Gegenstand sich zu drehen; aber das ist eine – geräuschvoll untermalte – Täuschung.


Eklat im Restaurant: Haben Sie sich auch schon in einem Gasthof vom Kellner vernachlässigt gefühlt? Alle Gäste rundherum scheint er zu bedienen, nur Sie nicht. Dagegen gibt es ein einfaches Mittel. Wir haben es mehr als einmal mit Erfolg erprobt, als wir nach langer Wanderung mit drei müden und durstigen Kindern im Wirtshaus einkehrten.

Nach angemessener Wartezeit holten wir uns einen großen flachen Teller (es tut auch, etwas weniger dramatisch, ein kleinerer Teller, zur Not sogar ein runder Aschenbecher). Wir schlugen das Tischtuch zurück und brachten den Teller hochkant um die Senkrechte zum Drehen. Etwas müde geworden, kippte der Teller, tankte im Fallen noch etwas neue Bewegungsenergie, rutschte vielleicht ein Stück über den Tisch, kreiselte aber weiter, nun schon fast in horizontaler Lage.

Am eindrucksvollsten kreiseln flache Teller mit der Unterseite nach oben, sodass sie sich auf ihren Rand stützen können. Immer schneller sieht (und hört) man den Stützpunkt des Tellerrandes um den Teller kreisen; doch der Teller selbst dreht sich immer langsamer. Man erkennt das leicht an einem Zeiger, den man auf den Tellerboden klebt, oder am aufgedruckten Firmenstempel der Porzellan-Manufaktur. Der Rollwiderstand auf dem Tisch und der Luftwiderstand tun zwar alles, den Energievorrat des kreiselnden Tellers aufzuzehren, aber das unschuldige Essgeschirr steigert sich am Ende trotzdem noch zu einem Finale furioso. Die Tischplatte ist ein guter Resonator, und so hört man den kreiselnden Teller lauter und lauter werden. Die Leute von den Nachbartischen beginnen uns missbilligend zu mustern; aber es dauert nicht mehr lange bis zu dem großen Schlussakkord, der auch den harthörigsten Kellner motiviert, endlich unsere Bestellung aufzunehmen.

Euler-Scheibe: Eine derartige Vorstellung lässt sich nicht nur mit Ess- und Küchengeschirr, Hartgeld oder dem Ehering geben, sondern mit allen möglichen Gegenständen, die sowohl rund als auch flach sind. Einige davon, wie Bierdeckel, Schallplatten und Hula-Hoop-Reifen, stellen sich wenig eindrucksvoll dar. Leicht, wie sie sind, legen sie sich schon nach wenigen Umläufen friedlich zur Ruhe. Für eine spektakuläre Show muss der kreiselnde Gegenstand schwer sein, damit er über einen möglichst großen Vorrat an potenzieller Energie verfügt, und sehr glatt an der Abrollkante, damit die Reibung lange braucht, diesen Vorrat aufzuzehren. Ein spielfreudiger Ingenieur namens Joseph Bendik aus Kalifornien hat das beherzigt und ein verkäufliches Spielzeug entworfen. Es heißt "Euler-Scheibe" nach dem bedeutenden Schweizer Mathematiker, der vor mehr als zwei Jahrhunderten in Europa zwischen Basel und Sankt Petersburg wirkte und, unter anderem, das Fundament der Kreiseltheorie legte. Silberfarben, aus massivem Metall und an den Außenkanten sorgfältig abgerundet, kann es auf einer harten, glatten Unterlage zwei Minuten lang kreiseln.

Kreiselringe, wie ich sie nenne, sind auch ein Spielzeug aus der Familie der Tellerkreisel. Vor vielen Jahren sah ich sie zum ersten Mal in einem Spielwarengeschäft: fünf kleine Stahlscheiben mit farbigem Rand und einem Loch in der Mitte, auf einen zehnmal größeren Stahlring aufgefädelt. Die Verkäuferin wusste mit der von ihr feilgebotenen Ware nichts anzufangen; so entdeckte ich erst zu Hause, dass ich ein wunderbares Kreiselspielzeug erworben hatte, den Tellern und Euler-Scheiben darin überlegen, dass man seine kleinen Scheiben permanent am Kreiseln halten kann – eine Art "Perpetuum mobile", wenn auch keines, das die Hauptsätze der Thermodynamik infrage stellt!

Um das Spielzeug anzuwerfen, ist etwas Geschicklichkeit erforderlich. Man schlägt mit der Hand locker auf die unten im Ring hängenden Scheiben und versucht, alle fünf gleichzeitig zum Kreiseln zu bringen. Ist das geschafft, was nicht immer gelingt, muss man den Ring ständig weiter drehen, um die Scheiben auf einer Seite, in kleinen Abständen übereinander, "auf der Stelle" am Kreiseln zu halten. Relativ zu dem Ring, der sich an dieser Stelle aufwärts bewegt, sind die Scheiben am Fallen und gewinnen daraus die Energie, die ihre Reibungsverluste kompensiert. Falls der Ring nicht ganz sauber ist, kann es vorkommen, dass benachbarte Scheiben unterschiedlich schnell kreiseln, zusammenstoßen und nicht mehr mitspielen.

Die nicht ganz einfache Theorie dieses Spielzeugs hat schon vor über dreißig Jahren Beachtung gefunden. In einem Aufsatz in "Acta Mechanica" behandeln D. J. McGill und G. J. Butson das Kreiseln von Ringen auf geraden statt kreisförmig gekrümmten zylindrischen Stäben. Das veranlasst mich zu erwähnen, dass man größere Ringe auch auf einem gewöhnlichen Besenstiel kreiseln lassen kann. Probieren Sie’s aus! Vielleicht gelingt es Ihnen sogar, sobald ein Ring unten angekommen ist, den Besen schnell zu wenden, damit der Ring weiter kreiseln kann.

Literaturhinweise


Euler’s Disk and its Finite-time Singularity. Von H.K. Moffatt in: Nature, Bd. 404, S. 833, 20. April 2000.

On the Motion of an Annular Disk Rolling on a Circular Cylinder. Von D.J. McGill und G.J. Butson in: Acta Mechanica, Bd. 20, S. 47, 1974.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 2003, Seite 92
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
  • Infos
the official Euler’s Disk website ->http://www.eulersdisk.com

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