Design und Verantwortung
Seit es Design gibt, ist es als eine Aufgabe verstanden worden, die eine gewisse gesellschaftliche Relevanz hat. Pioniere wie John Ruskin (1819 bis 1900) und William Morris (1834 bis 1896), die sich im früh industrialisierten England auf handwerkliche Traditionen und Materialgerechtigkeit besannen, wollten auch mit Erzeugnissen für praktische Zwecke sozialreformerisch wirken. Für sie war es nicht gleichgültig, wie und nach welchen Kriterien Produkte gestaltet sind. Sie sollten gut gestaltet sein. Zwar hat dieses "gut" viele Facetten; doch eine ist die gesellschaftliche Qualität: Das gestaltete Produkt soll auch der Gemeinschaft dienen und nutzen, nicht nur dem einzelnen Verwender und dem einzelnen Hersteller.
Die gesellschaftliche Qualität kann geringfügig und indirekt sein. Gleichwohl ist sie immer mit im Spiel – und sei es lediglich dadurch, daß ein gut gestaltetes Produkt zur wirtschaftlichen Prosperität beiträgt.
Die Lehrer am 1919 in Weimar gegründeten Bauhaus hatten sehr ausdrücklich die Vorstellung, daß Design eine soziale Verantwortung hat; und viel mehr noch gilt das für die Designer und Lehrer der Hochschule für Gestaltung in Ulm, die von 1955 bis 1972 bestand. Man kam in beiden Fällen aus einer Zeit tödlicher Destruktivität und extremster Inhumanität. Darin war der Impetus begründet, auch Gebrauchsgüter so zu gestalten, daß sie zu einem humaneren Leben beitragen können.
Worin lag in der Vorstellung der Ulmer, ja eigentlich aller Designer der Nachkriegszeiten, dieser gesellschaftliche Nutzen guter Form? Er ist sicherlich nicht so deutlich und konkret wie funktionale Qualität, sondern eher indirekt wirksam. Beispielsweise stellte man sich vor, daß Menschen in einer sorgfältig gestalteten Lebensumgebung offener, kommunikativer, freier, demokratischer sein können. In einer häßlichen, verwirrenden, unzulänglichen Umgebung lebt man schlecht und lebt mithin auch schlecht miteinander.
In der Zeit nach dem Wiederaufbau in der Bundesrepublik und der hektischen Befriedigung elementarer Bedürfnisse begannen viele, auch viele Designer, wieder gesellschaftlich orientiert zu denken und zu arbeiten. Aber dann – etwa seit Beginn der siebziger Jahre oder schon früher – setzte eine Gegenbewegung ein: Man ignorierte oder bestritt, daß Design überhaupt irgendeine Verantwortung habe; schon gar nicht billigte man ihm eine gesellschaftliche zu.
"Anything goes", "form follows fun" waren Devisen für ein Design, das sich von allen lästigen Verantwortlichkeiten befreit hatte außer von der, auf dem Markt möglichst breiten Erfolg zu erzielen. Es ist dies die – wie ich überzeugt bin: zynische – Denkweise des ungehemmten quantitativen Wirtschaftswachstums, der großen Produktverschwendung, des Ex-und-hopp-Festivals. Schon seit Jahrzehnten wissen manche, seit einiger Zeit wissen mehr, daß dies nicht lange gutgehen kann, daß unsere Erde dieses Draufloswirtschaften nicht aushält. Aber etliche Trendsetter und ihre Herden meinten wohl auch in den achtziger Jahren noch, daß die Grenzen des Wachstums viel später in Sicht kommen würden, daß also erst die nächste Generation sich den Kopf zerbrechen müsse, ob und wie sie aus dem von uns allen angerichteten Schlamassel herauskommen kann.
Obgleich wir heute schon an solchen Grenzen stehen und wohl einige bereits überschritten haben, herrscht Ratlosigkeit vor. Zugleich läuft vieles in unserem Anspruchs- und Verbrauchsverhalten stillschweigend weiter wie bisher. Bequemen wir uns nicht zu allgemeinem Bewußtseinswandel, werden die Folgen unserer gedanken- und verantwortungslosen Verschwendung sehr bald für jeden schmerzhaft deutlich sein. Die Gestaltung unserer Produktumwelt kann und muß zu diesem Wandel einen wesentlichen Beitrag leisten. Dazu gehört, daß die Funktion wieder in den Mittelpunkt rückt – und zwar im eigentlichen, ursprünglichen Sinne des lateinischen Wortes functio, das Verrichtung, Tätigkeit meint.
Umweltgerechte Produktkultur
Es gibt zwei große Aufgabenbereiche. Der erste: Das Design muß dazu beitragen, daß Produkte umweltgerechter werden. Der zweite und wichtigere: Das Design muß dazu beitragen, daß es immer weniger Produkte gibt. Das Ziel für die Produktkultur der Zukunft ist: Weniger, aber besser!
Heute ist Design noch vielfach von einer Kaufreiz-Ästhetik bestimmt. Produkte werden so gestaltet, daß sie vor dem Kauf optimal zur Wirkung kommen, nämlich im Schaufenster, auf der Theke, im Katalog, im TV-Spot – also visuell, auf Distanz.
Wie gut sie nach dem Kauf – also im Gebrauch – sind, ist erst in zweiter Linie wichtig. Damit heizt Design den Massenkonsum an, der in hohem Maße verschwenderisch ist. Denn die Flut heutiger Produkte ist zwar zu einem großen Teil billig, aber auch kurzlebig, jedenfalls nur bedingt brauchbar.
Erforderlich ist jedoch, daß wir umschalten auf ein qualitatives Wachstum, das echte Prosperität und zudem mehr Lebensqualität mit sich bringen kann. Das Design muß in Zukunft auf optimale Funktionalität, auf höchstmögliche Gebrauchsqualität hinarbeiten und einen sparsamen Langzeitgebrauch der Produkte erleichtern; es muß ebenso mitarbeiten an neuen Strukturen der Güterproduktion.
Was ist damit gemeint? Ein Beispiel für viele: Wir können geschlossene Kreisläufe entwickeln, nicht nur für Materialien, sondern für ganze Produkte. Ein Gebrauchsgut – Kamera, Computer, Kühlschrank, Elektrorasierer – bleibt Eigentum des Herstellers. Man zahlt nicht für Eigentum, sondern für Verwendung und Service. Nach der Nutzung gehen die Produkte zurück an den Produzenten, werden aufgearbeitet, repariert und wieder an den Verwender gegeben oder recycliert in dem Sinne, daß man Komponenten oder Materialien weitgehend wiederverwendet.
Diesen Prozeß gibt es bereits ansatzweise auf dem Leasing-Sektor. Wird er strukturbestimmend, ermöglicht er eine Verhaltensänderung bei der Industrie und bei den Konsumenten. Förderlich dafür ist ein Design, das nicht einen hohen Kaufanreiz zum Ziel hat, sondern einen optimalen Langzeit-Gebrauchswert der Güter.
Ich weiß, daß Postulate den Nachteil haben, andächtig angehört zu werden, aber meistens unbeachtet zu bleiben. Dennoch: Mit zunehmender Komplexität jener Faktoren, die für Lebensqualität entscheidend sind, wird es wichtiger, eingehend über Sinn und Wesen, über Schwerpunkte und Zwecke gestalterischen Handelns nachzudenken. Design ist – wie Architektur – eine Schlüsseldisziplin zur Bestimmung der Beschaffenheit von Lebensqualität.
Die Design-Zentren in nahezu allen Bundesländern und der Rat für Formgebung auf Bundesebene suchen im In- und Ausland mit Ausstellungen, Publikationen, Symposien und Wettbewerben sowohl Unternehmen als auch die Öffentlichkeit darüber zu informieren und dafür zu sensibilisieren. Dies trägt entscheidend zum Verständnis der humanistischen Werte von Design bei, die sich in einer globalen Strategie für Qualität ausprägen.
Ausbildung und Förderung
Weil das Design eine soziale Mitverantwortung hat, gilt auch: Die Gemeinschaft hat eine Mitverantwortung für das Design. Das betrifft alle Bereiche und Ebenen – von den Kommunen über die Länder und den Bund bis hin zur Europäischen Union, ja weiter noch bis zu überstaatlichen Organisationen und Institutionen.
Der Gedanke, daß der Staat sich für das Design einsetzen sollte, ist nicht neu. Seit Jahrzehnten gibt es Design-Ausbildung und Design-Förderung durch den Staat.
Beispiele für Förderung sind der Rat für Formgebung und die Design-Zentren der deutschen Bundesländer. Aber finanziell war und ist diese Förderung äußerst gering; sie ist in keiner Weise vergleichbar mit jener für die wissenschaftliche und technische Weiterentwicklung – weder was die Qualität, noch was den Umfang angeht – und wird derzeit, weil die öffentliche Hand in vielen anderen Bereichen zu lange aus dem vollen gewirtschaftet hat, noch weiter reduziert.
Ich stelle dagegen den Anspruch, daß die Gemeinschaft wesentlich mehr für das Design tut. Dafür wird ein langer und schwieriger Prozeß der politischen Meinungs- und Entscheidungsbildung nötig sein. Aber er beginnt damit, daß der Anspruch formuliert und überzeugend begründet wird. Hier will ich mich auf einige Kernpunkte konzentrieren.
Die Ausbildung von Designern wird in Deutschland heute weitgehend vom Staat wahrgenommen, nachdem mit der Hochschule für Gestaltung Ulm eine im Grunde private Institution den Anfang gemacht hatte. Ich denke, das ist grundsätzlich richtig. Privatschulen können und werden Alternativen zur staatlichen Ausbildung bieten, sollten diese aber nicht ersetzen.
Der Staat hat jedoch nicht nur die Verantwortung dafür, daß Designer ausgebildet werden, sondern auch dafür, wie dies geschieht. Er hat eine Qualitätsverantwortung. Die Bundesländer nehmen diese Verantwortung mehr oder weniger wahr, was die einzelnen Schulen angeht. Was aber die Ausbildung insgesamt, die Ausbildungsstruktur in Deutschland angeht, ist niemand in irgendeiner Weise verantwortlich.
Der Bund könnte notwendige strukturelle Veränderungen der Ausbildung überhaupt nicht realisieren. Das ist ein großes Manko – bei allem Respekt vor der Kulturhoheit der Länder. Denn die dramatischste strukturelle Schwäche der Design-Ausbildung in Deutschland ist eine unmittelbare Folge unseres eigenbrötlerischen Föderalismus: Es gibt zu viele Schulen.
Unablässig werden Schulen neugegründet oder ausgebaut. Die Hälfte, ein Viertel wäre genug. Wenige große, zentrale Schulen hätten die Lehrer, die Mittel, die Ausstattung für eine Design-Ausbildung, die den Anforderungen von morgen wirklich entspricht. Die vielen zweit- und drittklassigen Schulen von heute ziehen eine Menge junger Menschen an, die oft nur mäßig begabt und motiviert sind, schleusen sie irgendwie durch ein Studium und entlassen sie in eine zweifelhafte berufliche Zukunft.
Die Industrie wandelt sich, die Technik, die Wirtschaft; alle Strukturen unterliegen Entwicklungen. Wie soll die kommende Generation von Designern diesen Wandel mitprägen, diese Entwicklungen mitgestalten, wenn sie in kleinkarierter Krähwinkelei herangezogen wird?
Meine zweite Forderung: Der Staat muß um Größenordnungen mehr für die Design-Förderung tun. Das Design, dessen Entwicklung gefördert werden soll, ist eine technologisch und ökologisch orientierte, nicht eine modisch-dekorative Produktgestaltung.
Ein Beispiel habe ich schon angedeutet, die geschlossenen Produktkreisläufe. Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist ein Netz von Rückgabestellen für Wertstoffe oder ganze Produkte.
Wir haben die Müllabfuhr, wir haben Sammel-Container, wir haben graue, grüne, gelbe, blaue Tonnen und Säcke – und damit eine neue visuelle Umweltverschmutzung.
Wir haben eine Menge von Diskussionen über diese Thematik, unter anderem darüber, ob und wie der Handel für die Rückgabe eingespannt werden könnte. Das weltweit größte Verteilernetz wird aber praktisch noch überhaupt nicht für Rückgabe genutzt: das der Tankstellen. Sie werden in Zukunft eine neue Rolle in einer nachhaltigen Wirtschaft gut brauchen können, um profitabel zu bleiben.
Wie aber sehen Tankstellen aus, die nicht nur Treibstoff und ein buntes Sortiment von sogenanntem Reisebedarf verkaufen, sondern Wertstoffe oder meinethalben auch Unwertstoffe aller Art zurücknehmen? Wie wäre diese neue Funktion zu organisieren und zu gestalten? Das ist eine Aufgabe für Technologie-Design.
Eine komplexe, anspruchsvolle Aufgabe. Die nötigen Studien, die Entwicklung von Organisations- und Gestaltungslösungen werden Geld kosten. Wer soll das finanzieren? Möglicherweise suchen sich einzelne Unternehmen damit zu profilieren. Aber eigentlich ist das eine Gemeinschaftsaufgabe, denn den Nutzen werden wir alle haben. Deshalb muß sich der Staat engagieren – aus demselben Grunde und in derselben Weise, wie er die Entwicklung neuer Technologien fördert.
Ich habe nur zwei Beispiele angesprochen. Es gibt viele. Der Wert und die Legitimation von Design werden in Zukunft daran gemessen, welchen Beitrag es zum Überleben des Lebens insgesamt leistet. Die Verantwortung der Gemeinschaft es ist, diese Arbeit wirkungsvoll zu unterstützen.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1994, Seite 107
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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