Biorhythmen: Dezentrale biologische Uhren
In den meisten Vielzellern und sogar in einigen Bakterien ticken innere Uhren, die zumindest einen Teil der biologischen Funktionen mit einer Periode von ungefähr 24 Stunden steuern (Spektrum der Wissenschaft 6/2000, S. 74). Aus den lateinischen Wörtern circa (ungefähr) und dies (Tag) wurde für das Phänomen der Begriff "circadianer Rhythmus" geprägt. Zur Feinabstimmung auf die genaue Tageslänge dient die Lichtwahrnehmung über noch unbekannte Rezeptoren.
Uns Menschen hilft die innere Uhr zum Beispiel beim Einschlafen und Aufwachen, führt aber bei Reisen in andere Zeitzonen zum unangenehmen Jet-Lag. Missachtung des Biorhythmus wird für chronische Erkrankungen bei Schichtarbeitern und für die überproportionale Häufung von Industrie-Störfällen in den frühen Morgenstunden verantwortlich gemacht.
Nach der Entdeckung biologischer Uhren bei Fliegen und Menschen Ende der fünfziger Jahre galt es lange Zeit als selbstverständlich, dass ein solcher Zeitgeber nur im Gehirn angesiedelt sein könne und von dort aus die physiologischen Änderungen im Tagesablauf zentral steuern müsse. Doch dann wurden circadiane Rhythmen auch in Bakterien, Pilzen und Pflanzen nachgewiesen, die über keine zentrale Steuereinheit verfügen. Demnach müssen die biologischen Uhren dort in normalen "Körperzellen" residieren. Daraufhin begannen Biologen auch bei Tieren in Nicht-Hirngeweben nach unabhängigen Taktgebern zu suchen – und wurden zunächst bei Taufliegen und kürzlich beim Zebrafisch fündig.
Dabei mussten sie drei definierende Merkmale eines circadianen Rhythmus nachweisen:
- dass die "Uhr" in Abwesenheit der für den Tagesablauf typischen Licht- und Temperaturwechsel weiterläuft,
- dass sich ihre Periodizität veränderten Tageslängen anpassen kann, und
- dass der Rhythmus im Leerlauf von der Umgebungstemperatur (zumindest im normalen Schwankungsbereich) unabhängig ist.
Das zweite Kriterium ermöglicht, eine echte, autonome Biouhr von einem einfachen Oszillator zu unterscheiden, der nur in dem von der Zentraluhr vorgegebenen Takt mitschwingt. Die Arbeitsgruppe von Paolo Sassone-Corsi in Straßburg konnte unlängst erstmals zeigen, dass diese Bedingung für isolierte Organe eines Wirbeltiers erfüllt ist (Nature Bd. 404, S. 87).
Die französischen Wissenschaftler untersuchten dazu das so genannte clock-Gen, das bei vielen, wenn nicht allen Tieren maßgeblich am Mechanismus der circadianen Uhr beteiligt ist. Schon Anfang 1997 fanden Jadwiga M. Giebultowicz und David M. Hege an der Oregon State University in Corvallis heraus, dass dieses Gen bei der Taufliege Drosophila melanogaster nicht nur im Gehirn, sondern auch in einem Organ abgelesen wird, das den Nieren des Menschen entspricht.
Noch im selben Jahr machte die Arbeitsgruppe von Steven Kay am Scripps Research Institute in La Jolla (Kalifornien) eine ähnliche Feststellung an dem period-Gen, einem weiteren "Rädchen" der Drosophila-Uhr. Als sie es mit Fluoreszenzmarkern koppelten, erhielten sie Fliegen, die zur großen Überraschung der Wissenschaftler am ganzen Körper im 24-Stunden-Takt gelb aufleuchteten und wieder erloschen. Selbst in abgeschnittenen Körperteilen setzte sich das Lichtspiel fort. Rhythmisch wechselnde Genaktivität ist also zumindest bei der Taufliege in allen Körperteilen möglich. Doch wie sieht es bei den komplexeren (und weniger lichtdurchlässigen) Wirbeltieren aus?
Eines der am besten untersuchten Modellsysteme der Wirbeltier-Genetik ist der Zebrafisch. Ihn wählten Sassone-Corsi und seine Mitarbeiter deshalb als Versuchsobjekt. Um die Aktivität des clock-Gens zu ermitteln, maßen sie die Konzentration der zugehörigen Boten-RNA – jener Abschrift des Gens, die als Blaupause zu den Proteinfabriken gelangt. Wie sie herausfanden, schwankte die Aktivität von clock nicht nur im Gehirn, sondern auch in anderen Organen im Tagesverlauf.
Demnach sind oszillatorische Prozesse im Zebrafisch nicht auf das Zentralnervensystem beschränkt. Die Frage war nur: Werden die dezentralen Uhren dennoch vom Gehirn gesteuert, oder können sie auch von allein den Takt halten und sich an den von der Umgebung vorgegebenen Tagesrhythmus anpassen? Handelt es sich also um unabhängige Zeitmesser oder lediglich um externe Zifferblätter der einen Zentraluhr?
Um diese Frage zu klären, entnahm Sassone-Corsis Gruppe einigen Zebrafischen zu bestimmten Zeitpunkten ihres Biorhythmus Herzen und Nieren und hielt die Organe in einem geeigneten Nährmedium am Leben. Die eine Hälfte wurde dabei demselben Licht/Dunkel-Rhythmus ausgesetzt wie zu Lebzeiten des Fisches, die andere dagegen einem künstlichen Jet-Lag von zwölf Stunden unterworfen. Schon am zweiten Tag hatten sich die Zebrafisch-Herzen an die Zeitumstellung angepasst, und am dritten Tag tickten auch die Nieren im veränderten Takt.
Blieben die Herzen nach erfolgreicher Umstellung auf die verschobene Zeitphase zwei Tage lang ganz im Dunkeln, behielten sie den neu erlernten Biorhythmus bei. Damit war auch das erste Kriterium erfüllt und sichergestellt, dass die Aktivität des clock-Gens nicht einfach direkt dem Lichtwechsel folgt. Mögliche Temperatureinflüsse wurden durch ein weiteres Kontrollexperiment ausgeschlossen.
Dass Herz und Nieren nicht die einzigen Organe mit einer eingebauten, selbstständigen Biouhr sind, folgern die Forscher aus weiteren Versuchen mit Zellkulturen, die sich von Embryonalzellen ableiteten. Obwohl sie in Abwesenheit von Lichteinflüssen zunächst keine rhythmische Genaktivität zeigten, konnten sie innerhalb kurzer Zeit auf einen ty-pischen Tagesrhythmus trainiert werden.
Wie arbeiten die dezentralen Uhren der Wirbeltiere mit der vermutlich übergeordneten Zirbeldrüse zusammen (die beim Zebrafisch wie beim Menschen durch Ausschüttung des Schlafhormons Melatonin den Tagesablauf regelt)? Einen ersten Anhaltspunkt gibt eine neuere Untersuchung, welche die Arbeitsgruppen von Michael Menaker an der Universität von Virginia in Charlottesville und Hajime Tai von der Universität Tokio an Ratten durchführten. Deren Zentraluhr tickte nach dem Entfernen aus dem Gehirn noch 32 Tage lang im Reagenzglas weiter, die untergeordneten Uhren aus Leber, Lunge und Muskeln hingegen blieben schon nach zwei bis sieben Zyklen stehen. Auch auf einen künstlichen Jet-Lag reagierte die Zentraluhr schneller als die Uhren aus anderen Geweben (Science Bd. 288, S. 682).
Besonders spannend ist auch die Jagd nach dem wichtigsten noch fehlenden Element aller tierischen Biouhren: dem Lichtempfänger. Nachdem vor kurzem nachgewiesen worden ist, dass beide Rezeptortypen der Netzhaut – Zapfen wie Stäbchen – für die Eichung der Uhr entbehrlich sind, gilt eine in Tieren und Pflanzen universell verbreitete Gruppe von lichtaktiven Substanzen als aussichtsreich: die Cryptochrome. Deren genaue Funktion liegt, wie ihr Name schon andeutet, zwar noch im Verborgenen. Eine aktuelle Studie über Drosophila-Mutanten, bei denen das einzige bekannte Fliegen-Cryptochrom beschädigt ist, hat deutliche Hinweise auf eine Photorezeptorfunktion dieser Proteine erbracht (Nature, Bd. 404, S. 456).
Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 2000, Seite 24
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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