Die Ära der Röntgenstrahlen
Die Entdeckung dieser hochenergetischen elektromagnetischen Strahlen war das Ergebnis akribischer Forschungsarbeit Wilhelm Conrad Röntgens, doch die ungestüme Entwicklung ihrer Anwendungen, Ausdruck eines Umbruchs in der Wissenschaft, bestimmte er selbst nicht mehr mit.
Der 4. Januar 1896 wurde für die Physikalische Gesellschaft zu Berlin, Vorläufer der Deutschen Physikalischen Gesellschaft, ein denkwürdiges Datum: Mit einjähriger Verspätung – aus Pietät, weil die bedeutenden Mitglieder Heinrich Hertz, August Kundt und Hermann von Helmholtz 1894 verstorben waren – feierte sie an diesem Sonnabend ihr fünfzigjähriges Stiftungsfest. Zahlreiche experimentelle Demonstrationen waren zu bewundern. Beim anschließenden Festmahl schloß ihr Vorsitzender Wilhelm von Bezold (1837 bis 1907) seine Rede mit einem freundlichen Ausblick auf die weitere Entwicklung. Daß er dazu noch mehr Grund als gedacht hatte, korrigierte eine Fußnote zur gedruckten Fassung:
Leider war es dem Redner... gänzlich unbekannt geblieben, dass sich unter den ausgestellten Gegenständen an einer wenig auffallenden... Stelle die ersten Rönt-gen'schen Photographien befanden. Wäre ihm auch nur ein Wort darüber zu Ohren gekommen, so hätte er seine Rede in ganz anderem Tone geschlossen und der seltenen Weihe gedacht, welche dem Feste dadurch verliehen worden sei, dass an diesem Tage zum erstenmale die Ergebnisse einer Entdeckung mitgetheilt wurden, deren weittragende Bedeutung auf den ersten Blick erkannt werden musste.
Emil Warburg (1846 bis 1931), der neue Direktor des Berliner Universitätsinstituts, hatte diese ungewöhnlichen Photographien mit einem Separatdruck der ersten diesbezüglichen Abhandlung am Tag zuvor erhalten. Der Physiker Wilhelm Conrad Röntgen (1845 bis 1923) hatte am Neujahrstag einigen Fachkollegen ein solches Päckchen zur Information und Begutachtung zugesandt (Bild 1); erst am 28. Dezember war sein Manuskript "Ueber eine neue Art von Strahlen (Vorläufige Mitteilung)" an die Druckerei gegangen, um noch den Sitzungsberichten der Würzburger Physikalisch-Medicinischen Gesellschaft für 1895 angefügt zu werden; zwei Jahre später erschien diese Abhandlung in den "Annalen der Physik und Chemie".
Ein weiterer Empfänger der ersten Sendung war Franz Exner (1849 bis 1926), Physik-Ordinarius an der Universität Wien. Zufällig hatten sich die dortigen Physiker am Abend jenes 4. Januar 1896 ebenfalls zu einem informellen Treffen zusammengefunden. Unter den Gästen, die nun die Bilder zu sehen bekamen, befand sich der Prager Ordinarius Ernst Lecher (1856 bis 1926), Sohn eines Redakteurs der Wiener Lokalzeitung "Die Presse". Auch Bleisatz ermöglichte aktuelle Berichterstattung: Bereits die Ausgabe vom folgenden Sonntagmorgen (5. Januar) erschien mit dem Aufmachertitel "Eine sensationelle Entdeckung"; und mit dem Artikel, in dem sie "es schwer fanden, phantastische Zukunftsspekulationen... von sich abzuweisen", haben sich Sohn und Vater Lecher durchaus nicht blamiert.
Einige Teilnehmer der Berliner Veranstaltung hatten ebenfalls die Bedeutung der Röntgenschen Arbeit erkannt, so der Internist und Psychiater Moritz Jastrowitz, der darüber gleich am folgenden Montag vor dem Berliner Verein für Innere Medizin vortrug – Anlaß wiederum für die "Vossische Zeitung", dies zwei Tage später mitzuteilen und den ausführlicheren Artikel des Wiener Blattes nachzudrucken, auf den sich auch Nachrichten in der übrigen Presse bezogen.
Die Bezeichnung "Röntgenstrahlen" (grammatisch richtig wäre eigentlich "Röntgensche Strahlen") regten der Wiener Physiker Ludwig Boltzmann (1844 bis 1906) am 12. Januar 1896 in der Wiener "Neuen Freien Presse" sowie – vermutlich unabhängig davon – der Würzburger Mediziner Rudolf Albert von Kölliker (1817 bis 1905) am 23. Januar auf der Sitzung der Physikalisch-Medicinischen Gesellschaft zu Würzburg an; dort hielt Röntgen den einzigen öffentlichen Vortrag über seine Entdeckung. Bei dieser Gelegenheit wurde auch Köllikers Hand "durchleuchtet" und somit die Ära der später als Radiologie bezeichneten Röntgenologie und Strahlenheilkunde eingeleitet (Bild 2). In deutschsprachigen Ländern setzte sich diese Bezeichnung durch, in den angelsächsischen blieb man überwiegend bei X-rays (X-Strahlen) – wie auch Röntgen selbst diesen Namen bevorzugte.
Vorgeschichte: Erforschung der Kathodenstrahlen
Mit Entwicklung der Elektrotechnik, insbesondere der elektrischen Beleuchtung, wurden zunehmend neue Phänomene der Funken- und Bogenentladungen beobachtet. Das veranlaßte die Physiker in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, sich intensiv mit den schon länger bekannten elektrischen Entladungen im Vakuum zu beschäftigen. Diese hatte man nicht ohne weiteres in das Paradigma der klassischen Physik einzufügen vermocht, aber zunächst als relativ unwichtig abgetan; Zweifel über ihre mögliche Einordnung wurden mit der Auffassung verdrängt, bei genügend intensiver Beschäftigung damit ließen sich all die merkwürdigen Leuchterscheinungen schon im Rahmen der bisherigen Anschauungen erklären.
Bei solchen Untersuchungen entdeckte Julius Plücker (1801 bis 1868) in Bonn an besonders gut luftleer gepumpten Entladungssröhren, die ihm der geschickte Universitätsmechaniker Heinrich Geissler (1814 bis 1879) angefertigt hatte, im Jahre 1859 ein Lumineszieren an der Glaswand, die der Kathode gegenüberlag. Da sich in der verwendeten Röhre die Anode an einer anderen Stelle befand, mußte er daraus schließen, daß diese Erscheinung nicht direkt dem Elektrizitätsübergang von der Kathode zur Anode entsprach. Da dieses Fluoreszenzleuchten aber offenbar von einer von der Kathode geradlinig ausgehenden Strahlung verursacht wurde, sprach er von "Strahlen des negativen Lichts".
Zehn Jahre später fand Plückers Schüler Johann Wilhelm Hittorf (1824 bis 1914) in Münster, daß magnetische Felder die Leuchterscheinung beziehungsweise die verursachende Strahlung abzulenken vermögen; 1876 demonstrierte Eugen Goldstein (1850 bis 1939) in Berlin die Ablenkbarkeit im elektrischen Feld. Dieser prägte auch den Terminus "Kathodenstrahlen". Er unterstellte ihnen die gleiche physikalische Natur wie dem Licht, allerdings sollten sie sich nur senkrecht zur erzeugenden Kathodenoberfläche ausbreiten können, während Licht im Normalfall keine solche Vorzugsrichtung aufweist. Dies vermutete 1892 auch Heinrich Hertz (1857 bis 1894) in einer Abhandlung über elektromagnetische Wellen. Demgegenüber behauptete der britische Chemiker und Physiker William Crookes (1832 bis 1919), basierend auf der 1871 von Cromwell F. Varley (1828 bis 1883) gemachten Entdeckung einer negativen elektrischen Ladung der Kathodenstrahlen, daß es sich um Teilchen handele.
Philipp Lenard (1862 bis 1947), Anfang der neunziger Jahre Assistent bei Hertz an der Universität Bonn, führte dessen Versuche mit Kathodenstrahlen fort. Im Jahre 1893 fand er, daß sie durch eine dünne Aluminiumfolie – später Lenard-Fenster genannt – aus der Entladungsröhre auszutreten vermögen. (Seine weiteren Forschungen darüber erbrachten wichtige Erkenntnisse über den Atomaufbau; 1905 erhielt er für die Untersuchung der Kathodenstrahlen den Physik-Nobelpreis.) Der französische Physikochemiker Jean Baptiste Perrin (1870 bis 1942, Physik-Nobelpreis 1926) und der britische Physiker Joseph John Thomson (1856 bis 1940, Physik-Nobelpreis 1906) demonstrierten 1895 beziehungsweise 1897 experimentell, daß es sich um negative, bis dahin zwar vermutete, doch noch nicht nachgewiesene Teilchen – freie Elektronen – handelt; erst dies bedeutete den Durchbruch für die Korpuskulartheorie der Kathodenstrahlen.
Röntgen hatte sich in den achtziger Jahren von der 1879 von Helmholtz gestellten Preisaufgabe der Berliner Akademie anregen lassen, die experimentellen Grundlagen des Elektromagnetismus zu untersuchen, um die Theorie des britischen Physikers James Clerk Maxwell (1831 bis 1879) zu klären: Dieser hatte postuliert, daß sich ändernde elektrische Felder, wie sie unter anderem auch von quasi mechanisch bewegten, im Isolatormaterial fest gebundenen Ladungen hervorgerufen werden, von einem Magnetfeld umgeben seien. Röntgen gelang 1888 der Nachweis, daß ein zwischen elektrisch geladenen Kondensatorplatten bewegtes Dielektrikum eine magnetische Wirkung hervorruft. Diese Erscheinung – von Jules Henri Poincaré (1854 bis 1912) als "Röntgenstrom" bezeichnet – war ein ergänzender Beweis für die Gültigkeit der Maxwellschen Theorie; den wichtigsten allerdings erbrachte Hertz mit dem experimentellen Nachweis elektromagnetischer Wellen (Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1994, Seite 88). Es ist anzunehmen, daß die Überlegungen von Hertz und Lenard Röntgen verlockten, sich gleichfalls mit den Kathodenstrahlen zu beschäftigen; allerdings ließ er sich dabei von keinerlei tiefergehenden Hypothesen leiten.
Erste Untersuchungen an entsprechenden Röhren mit Lenard-Fenstern unternahm Röntgen im Sommer 1894. Doch weil er für ein Jahr zum Rektor der Universität Würzburg gewählt worden war (Bild 3) und dennoch nicht auf seinen üblichen mehrmonatigen Jahresurlaub verzichten wollte, führte er sie erst gegen Ende des folgenden Jahres fort (Bild 4). Um die Wirkung der Kathodenstrahlen im verdunkelten Raum zu erforschen, wickelte er auch seine leuchtende Entladungsröhre in lichtundurchlässigen Karton. Beim Experimentieren stellte er am 8. November 1895 zufällig fest, daß ein in der Nähe stehender Fluoreszenzschirm hell aufleuchtete. Röntgen untersuchte diesen Effekt außerhalb der Röhre näher und erkannte, daß er nicht von den Kathodenstrahlen herrühren konnte, die durch das Lenard-Fenster ausgetreten waren; er nannte die offenbar noch unbekannte Strahlenart "X-Strahlung".
Zu jener Zeit hatte niemand etwas Derartiges erwartet. Andererseits lag diese Entdeckung gewissermaßen in der Luft: Lenard beobachtete 1894 Effekte, die aus nachträglicher Sicht nur durch X-Strahlen hervorgerufen worden sein konnten, schrieb sie aber irrtümlich den Kathodenstrahlen zu. Arthur Willis Goodspeed (1860 bis 1935), an der Universität von Pennsylvanien in Philadelphia tätig, hatte schon 1890 bei photographischen Experimenten mit Funken- und Büschelentladungen unerklärliche Aufnahmen gemacht (die nach der Entdeckung der X-Strahlen eindeutig eben diesen zuzuschreiben waren). Auch ist bekannt, daß Crookes bereits 1879 Kathodenstrahlröhren mit konkaver Kathode und Platinblech-Anode benutzte – also typische Röntgenstrahlröhren – und sich öfter über in der Nähe liegende, durch Schleier verdorbene Photoplatten ärgerte. Röntgen aber war der sorgfältige Experimentator, der durch aufmerksames Beobachten auch des scheinbar nebensächlichen Phänomens die richtige Erklärung fand.
In den drei Publikationen über seine Entdeckung vom Dezember 1895, März 1896 und März 1897 stellte er aufgrund seiner Experimente insbesondere folgende Eigenschaften und Beziehungen für X-Strahlen fest:
-NSie durchdringen Metalle und andere feste Körper;
-Nsie schwärzen Photoplatten;
-Nsie kompensieren elektrische Ladungen (Photoeffekt);
-Nihre Intensität nimmt mit dem Quadrat der Entfernung von der Quelle ab;
-Nihre Absorption ist abhängig vom durchstrahlten Medium (Röntgen schrieb diese Abhängigkeit der Dichte zu), und
-Nzu ihrer Erzeugung sind Platin-Kathoden besonders geeignet.
Indes erkannten weder Röntgen selbst noch die anderen Wissenschaftler, die sich damals sofort mit diesen Strahlen beschäftigten, daß sie der Reflexion, Brechung und Beugung unterliegen können (Röntgens Versuche, dies an optischen Gittern nachzuweisen, verliefen negativ, weil die Wellenlänge der Strahlen dafür viel zu klein ist). Überhaupt blieb die physikalische Natur der X-Strahlen vorerst verborgen; Röntgen hielt sie in der ersten Veröffentlichung für longitudinale Ätherschwingungen, in der zweiten für verwandt mit den Kathodenstrahlen. Richard Threlfall (1861 bis 1932) und James Arthur Pollock (1865 bis 1922) von der Universität Sydney (Australien) listeten noch Ende 1896 sechs verschiedene Hypothesen darüber auf, was Kathodenstrahlen sein könnten. Und schließlich scheint Röntgen der Art der Wechselwirkung zwischen X-Strahlen und atomistischer Struktur der durchstrahlten Materie bei der Suche nach Erklärungen für die Beobachtungen keine Aufmerksamkeit geschenkt zu haben.
Zurückhaltung des Pioniers
Trotz ungenügender theoretischer Kenntnisse wurden Röntgenstrahlen bereits unmittelbar nach ihrer Entdeckung in der Medizin zur Durchleuchtung und Strahlenbehandlung angewandt. Desgleichen folgten Verfahren zur Untersuchung makroskopischer Strukturen metallischer und anderer Werkstoffe sowie der Einsatz von Blei als Strahlenschutzmittel sehr rasch.
Röntgen hatte jedoch mit dieser weiteren Entwicklung kaum mehr etwas zu tun. Zum einen war er anfangs überrascht und wohl auch verärgert, daß ausgerechnet jene Photographien, die ihm nur "Mittel zum Zweck" – das heißt Nachweismöglichkeit – gewesen waren, insbesondere durch die Pressepublikationen höchste Aufmerksamkeit fanden und diverse Anwendungen auslösten; nach einigen Tagen war ihm die Sache "verekelt". Zum anderen hatte er zwar seit dem Herbst 1895 und insbesondere nach der Entdeckung vom 8. November jenes Jahres sehr intensiv und angespannt – soweit es der übliche tägliche Lehrbetrieb zuließ – die Eigenschaften dieser Strahlen erforscht; aber er ließ sich nicht aus seinem gewohnten Lebensrhythmus bringen und fuhr in der vorlesungsfreien Zeit zwischen Winter- und Sommersemester wie gewohnt für fast zwei Monate nach Italien sowie in den Sommerferien zum mehrmonatigen Bergurlaub. So verlor er trotz seiner Pionierrolle schnell den Anschluß an die internationale Forschung und Entwicklung.
Sein etwas langsamer, pedantischer Arbeitsstil – wenngleich Basis für seine Entdeckung – erwies sich ebenfalls als nicht gerade förderlich, und offenbar erlosch mit seiner dritten Publikation vom März 1897 sein Interesse daran weitgehend – schon in der zweiten Veröffentlichung war er hinter dem aktuellen Kenntnisstand zurückgeblieben. Erst 1907 publizierte Röntgen wieder über die von ihm entdeckten Strahlen, nämlich über deren Einfluß auf die elektrische Leitfähigkeit von Kalkspat. Ansonsten überließ er das Feld anderen Wissenschaftlern, von denen allerdings einige in seinem Umfeld arbeiteten.
Bereits bis Ende des Jahres 1896 waren weltweit mehr als 1000 Veröffentlichungen zu dieser Thematik erschienen. Indirekt begünstigte der Entdecker die technische Weiterentwicklung, indem er auf sein Verfahren kein Patent anmeldete – er war in einer gewissen Tradition deutscher Professoren und wohl auch aufgrund seiner kalvinistischen Erziehung der Auffassung,
...daß Erfindungen und Entdeckungen der Allgemeinheit gehören und nicht durch Patente, Lizenzverträge und dergleichen einzelnen Unternehmen vorbehalten bleiben dürfen.
Als Röntgen 1901 als erstem der Nobelpreis für Physik verliehen wurde, verhielt er sich gleichfalls eher zurückhaltend. Er hielt zwar eine Dankesrede auf dem Festbankett, reiste aber am nächsten Tag ab, ohne eine Nobelpreisrede zu halten.
Angeregt von der Entdeckung der Kathoden- und Röntgenstrahlen fahndeten andere Physiker nach weiteren Strahlenarten. Ein erfolgreiches Beispiel ist die Entdeckung der Radioaktivität durch Antoine Henri Becquerel (1852 bis 1908; Physik-Nobelpreis 1903) in Paris im Jahre 1896. Die angebliche Beobachtung der sogenannten N-Strahlen (1903) durch René P. Blondot (1849 bis 1930) erwies sich allerdings als Wunschbild (Spektrum der Wissenschaft, Juli 1980, Seite 24).
Auch die weitere Erforschung der Kathodenstrahlen wurde durch Röntgens Entdeckung gefördert und erbrachte Techniken, die bis in die Gegenwart nachwirken: Die von Ferdinand Braun (1850 bis 1918, Physik-Nobelpreis 1909) im Jahre 1897 entwickelte Kathodenstrahlröhre, zunächst als Instrument zur Demonstration des zeitlichen Verlaufs variabler Ströme gedacht, wurde später die Grundlage für die Konzeption der Fernsehröhre.
Nutzen für die Medizin
Die medizinische Anwendung war die erste, wenngleich sich die Zusammenarbeit von Ärzten und Physikern nur allmählich entwickelte – zu unterschiedlich waren die sie interessierenden Fragen. Eher ließen sich Mediziner von Elektrotechnikern und Glasbläsern als den Herstellern der Röntgenröhren beraten, denn die Geräteentwicklung war das zentrale Anliegen für die diagnostische Praxis: Die Expositionszeiten lagen anfangs zwischen einigen Sekunden bei der Hand und bis zu zehn Minuten im Beckenbereich, so daß Bewegungen des Patienten oder Eigenbewegungen von Organen die Bilder unscharf machten.
Bereits Moritz Jastrowitz hatte im Januar 1896 in dem erwähnten Vortrag im Berliner Verein für Innere Medizin festgestellt:
Für die Medicin ist die Sache augenscheinlich wichtig. Die Chirurgie dürfte daraus jedenfalls Vortheil durch Knochenphotographien am Lebenden ziehen. ... man wird in die Gelenke hineinsehen können. Es ist auch möglich, daß wir im Innern des Körpers, in den Leibeshöhlen, ... manche Veränderung erkennen werden, vielleicht dichtere Tumoren.
Nachdem Röntgen die Hand seiner Frau durchleuchtet hatte, war dieser Körperteil zunächst eines der beliebtesten Demonstrationsobjekte. Allerdings gab es bereits in den ersten Wochen danach einige Aufnahmen, die tatsächlich für die medizinische Diagnostik von Interesse waren, wie im Januar 1896 eine von Exner in Wien abgebildete Fehlstellung am kleinen Finger und eine von M. Albert Londe in Paris mit einer eingedrungenen Revolverkugel, im Februar die der Hand des Amerikaners Michail I. Pupin (1858 bis 1935) mit Schrotkugeln.
Die Schnelligkeit, mit der in der ganzen Welt die Versuche wiederholt wurden, ist einerseits verständlich – stand die dazu erforderliche Grundausrüstung doch fast in jedem physikalischen Laboratorium zur Verfügung. Andererseits kostete eine entsprechende Apparatur immerhin wenigstens etwa 600 Mark, war also für damalige Verhältnisse nicht gerade billig. Schon bald nach den ersten Demonstrationen wurden die Röntgenröhren verbessert, insbesondere was die Anordnung und Form von Kathode und Antikathode sowie die Verbesserung der Fluoreszenzschirme betraf. Des weiteren widmete sich die Photoindustrie der Entwicklung besonders geeigneter Emulsionen. Die Mediziner wiederum versuchten bald, über Skelettdarstellungen hinauszukommen; es wurden erste Bilder von sklerotischen Arterien und Gallen- sowie Nierensteinen gezeigt.
Bereits im Mai 1896 erschien in London eine Zeitschrift "Archives of Clinical Skiagraphy", die sich bald "Archives of the Röntgen Ray" nannte, bald darauf in Deutschland die "Fortschritte auf dem Gebiet der Röntgenstrahlen". Ebenfalls 1896 wurden erste Institute für Röntgenologie gegründet, so in Hamburg, Berlin, London und New York, zum Teil angeschlossen an Krankenhäuser. Ein neues medizinisches Gebiet entstand, die Röntgenologie, die sich später – unter Einbeziehung insbesondere der radioaktiven Strahlung – zur Radiologie weiterentwickelte (Bild 5). Zudem wurde 1905 die Deutsche Röntgengesellschaft gegründet; Vergleichbares geschah in anderen Ländern.
Trotz technischer und medizinischer Vervollkommnung blieb das auf der Zentralprojektion beruhende Grundprinzip der Anfertigung von Röntgenaufnahmen über Jahrzehnte das gleiche. Der Nachteil besteht unter anderem darin, daß auch die vor und hinter einer interessierenden Körperschicht liegenden Bereiche mehr oder weniger stark mit abgebildet werden; man erhält demnach ein nichträumliches überlagertes Schattenbild. Erst das Tomographie-Prinzip – also die schichtweise Darstellung des Körpers durch gekoppelte Bewegung von Röhre und Aufnahmefilm beziehungsweise -detektor – erschloß hier neue Möglichkeiten, nachdem durch die Kopplung mit schnellen Computern elektronische Auswerteverfahren ermöglicht wurden. Grundlage des Verfahrens ist die Messung der gewebespezifischen Röntgenstrahlabsorption (wobei eine scharf gebündelte Strahlung Voraussetzung ist). Für die Entwicklung der Computertomographie – die 1970 erfolgreich in einer Londoner Klinik getestet wurde – erhielten 1979 der Physiker Allan M. Cormack und der Elektrotechniker Godfrey N. Hounsfeld den Medizin-Nobelpreis.
Wurde in den Anfangsjahren aus Begeisterung über die neuen Möglichkeiten alles geröntgt, was einem interessant oder auch werbewirksam schien – so konnte man in Schuhgeschäften die Paßform von Schuhen mittels Röntgenaufnahme überprüfen lassen –, wurde man doch auch bald auf schädliche Nebenwirkungen aufmerksam. Der amerikanische Ingenieur Elihu Thomson (1853 bis 1937) hatte bereits 1896 mit einem schmerzhaften Selbstversuch auf solche Nebenwirkungen hingewiesen (nach einigen Tagen regelmäßiger längerer Bestrahlung hatte sich die Haut abgelöst und die Heilung verlief nur unbefriedigend) und gefolgert:
Es scheint auf jeden Fall eine Grenze zu geben, über die man nicht hinausgehen darf, wenn man sich vor ernsthaften Folgen schützen will.
Der deutsche Stabsarzt E. Sehrwald, der später wichtige Beiträge zur Anwendung von Röntgenkontrastmitteln lieferte, schrieb schon im Oktober 1896 in der "Deutschen Medicinischen Wochenschrift", daß
...die so viel besprochenen X-Strahlen die Eigenschaft besitzen, ähnlich den Sonnenstrahlen die Haut zu verbrennen.
Doch wie meist in solchen Fällen wurden solche Warnungen in der anfänglichen Euphorie nicht beachtet oder leichtfertig abgetan und entsprechende Fälle zumeist vertuscht (wobei sich ein Zusammenhang leugnen ließ, weil die schädlichen Wirkungen erst verzögert auftraten). Andererseits entwickelte sich die Kenntnis der Folgen erst mit wachsendem Wissen um das Phänomen selbst, und da war noch manches ungeklärt. Bald aber führte man dann doch die Strahlen absorbierende Bleiabschirmungen zum Schutz der mit Röntgengeräten hantierenden Personen ein und bemühte sich um Aufnahmebedingungen, die gute Bilder bei geringer Strahlenbelastung liefern. Eine Röntgenaufnahme heute setzt den Patienten nur noch einen Bruchteil der Strahlung gegenüber dem Stand vor 50 oder mehr Jahren aus.
Andererseits läßt sich die Röntgenstrahlung wegen eben dieser biologischen Wirkungen nicht nur zur Diagnostik, sondern auch zur Therapie einsetzen, beispielsweise zur Geschwulstbehandlung.
Hermann J. Muller (1890 bis 1967; Medizin-Nobelpreis 1946) fand 1927 in den USA, daß Röntgenstrahlen künstliche Mutationen hervorrufen können, also qualitative oder quantitative Veränderungen des genetischen Materials. Später zeigte sich, daß ultraviolettes Licht und alle ionisierenden Strahlen die gleiche Wirkung haben. Damit war eine neue Gefahrenstufe in der Strahleneinwirkung auf biologische Objekte deutlich geworden, und dies forderte auch gezieltere Maßnahmen des Strahlenschutzes.
Der Dosimetrie, also der Messung von Strahlendosis und -exposition, kam eine besondere Rolle zu, und Walther Friedrich (1883 bis 1958) – der ab 1914 an der Freiburger Universitätsfrauenklinik ein röntgenologisches Forschungslabor aufbaute, dann 1929 das Institut für Strahlenforschung in Berlin übernahm – wurde einer ihrer Pioniere. Erste Vorstellungen über den Dosisbegriff hatte bereits 1913 der Schweizer Arzt und Physiker Th. Christen erarbeitet, und 1924 wurde in Zusammenarbeit zwischen der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt zu Berlin und der Deutschen Röntgengesellschaft als Dosiseinheit das "Röntgen" (Kurzzeichen R) eingeführt; 1928 wurde es als international verbindliche Einheit angenommen (seit 1978 gilt als neue SI-kohärente Einheit der Ionendosis Coulomb je Kilogramm).
Anwendungen als Forschungsinstrument
Mittels Röntgenstrahlstreuung, -beugung, -spektroskopie, -mikroskopie und -astronomie wurden und werden grundlegende Erkenntnisse über diese Welt gewonnen; einige herausragende Beispiele sollen nun angesprochen werden.
Erst Max von Laue (1879 bis 1960; Physik-Nobelpreis 1914) vermochte 1912 anhand der auf seine Anregung hin von Walther Friedrich (1883 bis 1968) und Paul Knipping (1883 bis 1935) durchgeführten Interferenzversuche mit Röntgenstrahlen an Kristallen deren Wellenlänge zu bestimmen und so den Beweis dafür zu erbringen, daß es sich um transversale elektromagnetische Wellen handelt. Damit wurden auch die von Charles G. Barkla (1877 bis 1944; Nobelpreis für Physik 1917) von 1904 bis 1906 durchgeführten Streuexperimente bestätigt, bei denen er eine vollständige Polarisation sekundärer Röntgenstrahlen feststellte, was auf transversale, also senkrecht zu ihrer Ausbreitungsrichtung schwingende Wellen hinwies.
Laue stützte sich bei seinen Überlegungen auf die 1905 von Albert Einstein (1879 bis 1954; Physik-Nobelpreis 1921) formulierte Lichtquanten-Hypothese. Danach muß sich die kinetische Energie der Elektronen des Kathodenstrahls beim Auftreffen auf die Elektrode in ein Röntgenquant umsetzen. Daraus konnte die Frequenz einer Röntgenwelle berechnet werden – sie wäre demnach viel zu klein für Beugung an optischen Gittern. Wenn Einsteins Formel stimmte und ebenso die Annahme, daß die Kristallform auf einer gitterförmigen Anordnung der Atome beruht, deren Größe und Abstände ein kleines Vielfaches der Röntgen-Wellenlänge sind, so mußten sich Röntgenstrahlen an Kristallen beugen lassen und dieser Effekt als Interferenz nachweisbar sein. Laue verknüpfte also mit dieser Überlegung auf geniale Weise mehrere voneinander unabhängige Hypothesen. Tatsächlich traten am 21. April 1912 bei Durchstrahlung von Kupfersulfatkristallen mit fokussierten Röntgenstrahlen auf einer hinter dem Kristall aufgestellten Photoplatte Schwärzungspunkte verschiedener Intensität auf, die symmetrisch zum Durchstoßpunkt des Primärstrahls lagen und sich somit als Interferenzmuster beziehungsweise Beugungsbild deuten ließen. Damit war die Ausgangshypothese bestätigt.
War die Entdeckung der X-Strahlen eine absolute Einzelleistung gewesen (wenngleich in gewissem Maße auf Vorgängern aufbauend), so war die der Röntgenbeugung am Kristall eine aus der Kommunikation erwachsende Teamarbeit. Laue war seit 1909 in München als Privatdozent am Institut für Theoretische Physik von Arnold Sommerfeld (1868 bis 1951) tätig. Die Berufung eines Theoretikers nach München hatte Röntgen, inzwischen dort Ordinarius für Physik, 1905 durchsetzen können. Friedrich hatte 1911 bei ihm über die "Intensitätsverteilung der X-Strahlen" promoviert und war seit 1912 Assistent bei Sommerfeld, und Knipping zu jener Zeit Doktorand bei Röntgen (Bild 6). Die Kristallforschung hatte in München eine gute Tradition, und auch Röntgen hatte sich ihr inzwischen zugewandt. Auf die Idee zu seinem Experiment war Laue durch eine Diskussion mit einem Doktoranden Sommerfelds, Paul P. Ewald (1888 bis 1985), gekommen, der sich mit der theoretischen Erklärung der optischen Eigenschaften von Kristallen beschäftigte.
Während die anfänglichen Zweifel Sommerfelds an diesem Experiment nach den ersten Erfolgen in Begeisterung umschlugen, blieb Röntgen skeptisch. Die ersten Beugungsbilder, am 8. Juni 1912 von Sommerfeld der Bayerischen Akademie der Wissenschaften vorgelegt, erregten aber in der Fachwelt ebenso großes Aufsehen und schnelle Verbreitung, wie 17 Jahre zuvor Röntgens Aufnahmen. Einstein beispielsweise schrieb an Laue:
Ihr Experiment gehört zu dem Schönsten, was die Physik erlebt hat.
Bereits 1913 gelang es Vater William Henry (1862 bis 1942) und Sohn William Lawrence (1890 bis 1971) Bragg in England (beide erhielten 1915 den Physik-Nobelpreis) und Georgij W. Wulf (1863 bis 1925) in Rußland, die komplizierten Raumgitterinterferenzen auf Reflexion an den Netzebenen der Kristallgitter zurückzuführen; sie formulierten den Zusammenhang von Wellenlänge, Atomebenenabstand und Einfallswinkel in der sogenannten Bragg-Bedingung. Hieraus wurde in den folgenden Jahren die Röntgenstrukturanalyse entwickelt, eine Methode zur Erforschung des Kristallaufbaus.
Peter Debye (1884 bis 1966; Chemie-Nobelpreis 1936) und seinem Assistenten Paul Scherrer (1890 bis 1969) gelang es dann 1915 in Göttingen, statt eines gut ausgebildeten Kristalls Kristallpulver einzusetzen; dabei wird die Probe von einem monochromatischen Röntgenstrahl durchdrungen und das Beugungsbild mittels eines die Probe zylinderförmig umgebenden Aufnahmestreifens gewonnen.
Auch hier war eine Methode wieder nur Mittel zum Zweck: Debye ging es um das Studium der Ladungsverteilung im Atom auf der Grundlage des Bohrschen Atommodells. Deshalb betrieb er die Weiterentwicklung dieser Methode nicht allzu intensiv; das Verfahren wurde unabhängig davon ein Jahr später auch von Albert W. Hull (1880 bis 1966) in den USA beschrieben. Die Arbeiten der Braggs sowie die von Debye und Scherrer lieferten den Nachweis für den generellen Kristallaufbau des festen Körpers. Diese Methode wurde zu einer der wichtigsten bei der Bestimmung von Kristallstrukturen.
Im Jahre 1916 konnten Debye und Scherrer Röntgeninterferenzen auch an Flüssigkeiten beobachten und Willem H. Keesom (1876 bis 1956) und De Smedt 1922 an verflüssigten Gasen. Diese Verfahren lieferten in der Folgezeit bedeutende neuartige Einsichten für Chemie und Biologie wie die Elektronenverteilung in organischen Molekülen, die Aufklärung der Faserstrukturen und um 1940 der des Hämoglobins durch Max Perutz (Chemie-Nobelpreis 1962) und andere.
Ohne diese Untersuchungsmethode hätte sich auch der Aufbau der DNA-Doppelhelix 1953 durch Francis Crick, James D. Watson und Maurice Wilkins im Institut von Sir Lawrence Bragg in Cambridge kaum aufklären lassen; diese Leistung, für die sie 1962 den Nobelpreis erhielten, begründete die Molekularbiologie. Mittlerweile dient die Röntgenstrukturanalyse als etabliertes Verfahren zur Aufklärung der Wirkmechanismen von Enzymen und Rezeptoren, beispielsweise um anhand des ermittelten räumlichen Aufbaus von Proteinen und Peptiden die Wirkung von Medikamenten spezifischer zu gestalten (Spektrum der Wissenschaft, Mai 1989, Seite 108; März 1994, Seite 30).
Aus der Röntgenbeugung wurde die Röntgenspektroskopie entwickelt, wobei der Spektralbereich der als Röntgenstrahlen bezeichneten elektromagnetischen Strahlung etwa zwischen 10-2 Nanometern (millionstel Millimetern), der sogenannten weichen Röntgenstrahlung, und 10-8 Nanometern, der ultraharten Röntgenstrahlung, liegt.
Barkla hatte 1908 bei seinen Versuchen bereits bemerkt, daß bei der Erzeugung von Röntgenstrahlen zwei unterscheidbare Strahlengruppen entstehen (das Röntgenkontinuum oder Bremsspektrum und die charakteristische Linienstrahlung), konnte sie allerdings noch nicht deuten. Aus heutiger Sicht läßt sich das so beschreiben: Kathodenstrahlen bestehen aus beschleunigten Elektronen; beim Auftreffen auf die Antikathode werden sie abgebremst und können dadurch zwei unterschiedliche Vorgänge bewirken. Zum einen entsteht Strahlung durch die elektromagnetische Wechselwirkung mit den Hüllenelektronen der Atome im Material; weil Bremswege und -zeiten sowie die Geschwindigkeiten der freien Elektronen verschieden sind, ergeben sich zahlreiche unterschiedliche Strahlungsimpulse, deren Gesamtheit sich als kontinuierliches Spektrum darstellt. Zum anderen können die Elektronen der auftreffenden Kathodenstrahlen bei geeigneten Frequenzen auch Hüllenelektronen aus ihren Bindungen herauslösen beziehungsweise zum Übergang auf ein anderes Energieniveau innerhalb der Hülle anregen. Dadurch entstehen intensive Spektrallinien, die für das Material der Antikathode charakteristisch sind – also zur Materialbestimmung genutzt werden können – und die sich dem Bremsspektrum überlagern.
Forschungen zu diesem Themenkomplex, insbesondere von Karl Manne Siegbahn (1886 bis 1978; Physik-Nobelpreis 1924) in den Jahren 1914 bis 1920, lieferten einen wesentlichen Beitrag zur Klärung der Gesetzmäßigkeiten der Röntgenstrahlung und zur Darstellung des Aufbaus der Elektronenhülle der Atome, insbesondere der inneren Elektronenschalen. Bei der Untersuchung von durch Röntgenbestrahlung herausgelösten Elektronen entwickelte sein Sohn Kai Siegbahn (geboren 1918; Physik-Nobelpreis 1981) in den fünfziger Jahren neue Methoden für die hochauflösende Elektronenspektroskopie.
Aufbauend auf Braggs Experimenten gelang es Henry G. Moseley (1887 bis 1915) 1913, den Zusammenhang zwischen der Wellenlänge der Röntgenspektrallinien eines chemischen Elementes und seiner Stellung im Periodensystem zu zeigen. Diese Gesetzmäßigkeit wurde bedeutsam für die Sommerfeldsche Theorie der Spektren. Im Jahre 1922 entdeckten Dirk Coster (1889 bis 1950) und György J. von Hevesy (1885 bis 1966) das Element Hafnium mittels Röntgenspektralanalyse.
Arthur H. Compton (1892 bis 1962; Physik-Nobelpreis 1927) streute 1923 Röntgenstrahlen an Elektronen und wies so die Quanteneigenschaften der Röntgenstrahlen nach (zeigte also, daß sie sich auch als Teilchen, als Photonen, verhalten können). Da sowohl dieses Partikelbild als auch das Wellenbild (durch Laues Interferenzeffekte) eindeutig nachweisbar waren, bildeten diese Erkenntnisse eine der Grundlagen für die Begründung des Welle-Teilchen-Dualismus. Hierauf baute Louis-Victor De Broglie (1892 bis 1987; Physik-Nobelpreis 1929) unter anderem 1924 seine Untersuchungen zum Problem einer widerspruchsfreien Quantenmechanik auf.
Weitere Anwendungen
Die Nutzung der Röntgenstrahlen zur zerstörungsfreien Werkstück- und Materialprüfung beruht vom Grundsatz her auf den gleichen Prinzipien wie die medizinische. Sie war durch Röntgens Abbildungen seines Jagdgewehres und eines Kästchens mit Gewichten, die zu den ersten versandten Photographien gehörten, schnell angeregt worden (Bild 7). Heutzutage kombiniert man das Verfahren häufig mit der digitalen Bildverarbeitung und vermag so beispielsweise Risse und Fehlstellen in Bauteilen zu entdecken (Spektrum der Wissenschaft, November 1989, Seite 16).
Auch Archäologie und Paläontologie bedienen sich heute für ihre Forschungen röntgenographischer Verfahren, beispielsweise um Mumien zu untersuchen – mittels Computer-Tomographen wurde gerade in diesem Jahr festgestellt, daß zahlreiche altägyptische Kindermumien selbst in bedeutenden Museen Fälschungen sind – oder versteinerte Dinosauriereier (Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1994, Seite 24). In der Kunstgeschichte nutzt man sie, um Unterzeichnungen von Gemälden sichtbar zu machen (Spektrum der Wissenschaft, Juni 1995, Seite 78).
In ganz anderen Dimensionen bewegt sich die Anwendung der Röntgenspektroskopie in der Astronomie, also die Untersuchung der entsprechenden hochfrequenten elektromagnetischen Strahlung kosmischer Objekte. Allerdings können die erforderlichen Messungen nur in Höhen ab etwa 120 Kilometer erfolgen, weil die Erdatmosphäre diese Wellenlängen absorbiert. Diese neue Disziplin der Astronomie wurde 1949 mit der Entdeckung der Röntgenstrahlen der Sonne begründet; die erste kosmische Quelle – Scorpius X-1 im Sternbild Skorpion – wurde 1962 entdeckt. Der erste Röntgensatellit, Uhuru, startete 1970 zur systematischen Durchmusterung des Himmels. Der vorläufige Höhepunkt der instrumentellen Entwicklung ist sicher der seit 1990 arbeitende Röntgensatellit ROSAT (Spektrum der Wissenschaft, September 1990, Seite 22; Juli 1993, Seite 66; Oktober 1994, Seite 45). Weil man mittlerweile weiß, daß nahezu alle gewöhnlichen Sterne Röntgenstrahlung aussenden, hat sich die Röntgenastronomie zu einer wichtigen Teildisziplin entwickelt, die grundlegende Fragen der Astrophysik zu klären hilft (Spektrum der Wissenschaft, Januar 1989, Seite 70; November 1991, Seite 22; Juli 1993, Seite 66; Januar 1994, Seite 62).
Im Unterschied zu diesen Anwendungen sucht man in der Röntgenlithographie die kurzwelligen Strahlen zu nutzen, um Materie auf millionstel Millimeter genau zu strukturieren, etwa zur Fertigung von Halbleiterchips (Spektrum der Wissenschaft, August 1990, Seite 30; Mai 1992, Seite 109)
Schließlich sei aus den zahlreichen Anwendungen noch der Röntgenlaser erwähnt. Dies ist ein Laser, dessen Strahlung im Spektralbereich der Röntgenstrahlung liegt. Wurden die ersten optischen Laser 1960 realisiert, so sind Röntgenlaser noch in der Entwicklung. Erste Überlegungen dazu gab es Ende der siebziger Jahre im Zusammenhang mit dem amerikanischen Verteidigungsvorhaben SDI (Strategic Defense Initiative), da man zur Abwehr interkontinentaler Raketen besonders leistungsstarke Laser suchte. Ihre Realisierung erwies sich aber als zu kompliziert, unter anderem weil die erforderliche Besetzungsinversion im Lasermedium sehr hohe Pumpleistungen erfordert (Spektrum der Wissenschaft, Februar 1989, Seite 54). Inzwischen hofft man aber mittels sehr kohärenter Röntgenstrahlung, wie sie ein solcher Laser liefern würde, zahlreiche Probleme der Grundlagenforschung, etwa in der Spektroskopie oder bei nichtlinearen Effekten, zu klären.
Literaturhinweise
- Die Offenbarung einer Nacht. Leben und Werk von Wilhelm Conrad Röntgen. Von F. Dessauer. Olten, 1946. Vierte erweiterte und verbesserte Auflage, Frankfurt: Knecht, 1958. – W. C. Röntgen und die Geschichte der Röntgenstrahlen. Von O. Glasser, Springer, 1959. – Wilhelm Conrad Röntgen – Aufbruch ins Innere der Materie. Von Albrecht Fölsing. Carl Hanser Verlag, 1995. – Wilhelm Conrad Röntgen. Von Walter Beier. Teubner, 1995. – 100 Jahre Röntgenstrahlen 1895 -1995. Von Jost Lemmerich und anderen. Ausstellungskatalog der Universität Würzburg 1995. Max Schimmel Verlag & Co 1995. – Forschung mit Röntgenstrahlen. Herausgegeben von Friedrich H. W. Heuck und Eckard Macherauch. Springer, 1995. –
Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1995, Seite 88
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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