Trends in der Psychologie: Die Aktualität der Psychoanalyse
Sigmund Freuds Lehre, immer wieder totgesagt, ist in ihrer Wissenschaftlichkeit nach wie vor umstritten. Doch keine andere Therapieform hat sich der Psychoanalyse als eindeutig überlegen erwiesen und sie völlig zu verdrängen vermocht.
Die Angst ist fast mit Händen zu- greifen. Etwa fünfzig Psycho- analytiker haben sich im Ballsaal des New Yorker Waldorf-Astoria-Hotels versammelt, um zu besprechen, was einer von ihnen die Überlebensfrage nennt: ihr rapide sinkendes Ansehen im Gesundheitswesen und in der Gesellschaft insgesamt. Ein Analytiker beklagt, daß am College seiner Tochter nicht eine einzige Veranstaltung zu Sigmund Freud (1856 bis 1939) angeboten werde, dem österreichischen Erforscher des Unbewußten und Begründer der Psychoanalyse. Ein anderer wundert sich, wie es Freuds Lehre "in so kurzer Zeit gelingen konnte, so viele Leute gegen sich aufzubringen und so an den Rand gedrängt zu werden". "Vielleicht sollte ich in den Ruhestand gehen", seufzt ein Therapeut aus Südkalifornien, zu dem immer weniger neue Patienten kommen.
Manche Paranoiker, heißt es in einem alten Witz, haben tatsächlich Feinde. Freuds Ideen waren stets umstritten, doch in den neunziger Jahren hat die Kritik einen Höhepunkt erreicht. Jahr für Jahr kommen mehr Bücher mit Titeln wie "Why Freud Was Wrong" (Warum Freud sich irrte) oder "Freudian Fraud" (Freudscher Betrug) auf den Markt – in Deutschland zum Beispiel "Tiefenschwindel" von Dieter E. Zimmer. Im Jahre 1995 verschob die amerikanische Kongreßbibliothek die Eröffnung einer Ausstellung über Freud auf unbestimmte Zeit, nachdem namhafte Personen – darunter Freuds Enkelin – sich beschwert hatten, der Wiener Seelenarzt werde darin kritiklos verherrlicht.
Auch die Gesetze des Marktes bedrohen die Psychoanalyse. Von den rund 15 Millionen US-Bürgern, die sich psychischer Probleme halber behandeln lassen, haben nur wenige genügend Zeit oder Geld für eine solche Therapie, die in der Regel jahrelang dauert und allwöchentlich bis zu fünf einstündige Sitzungen zu 100 Dollar erfordert. Viele von ihnen – und sämtliche Krankenversicherungen – favorisieren Kurzzeittherapien, die auf spezifische Probleme zielen statt tief in der Vergangenheit des Patienten zu graben. Besonders beliebt sind die kognitive Verhaltenstherapie, die unerwünschte Denk- und Verhaltensgewohnheiten zu ändern sucht, sowie interpersonale Therapieformen, in deren Mittelpunkt die aktuellen Beziehungen des Patienten zu anderen Menschen stehen.
Bei so häufigen Störungen wie Depression und Angst verschreiben amerikanische Psychiater und andere Ärzte inzwischen immer öfter Medikamente statt einer Gesprächsbehandlung im weitesten Sinne, sei es eine orthodoxe Analyse oder eine der anderen Psychotherapien. Der Umsatz des Antidepressivums Fluoxetinhydrochlorid – in Europa unter dem Markennamen Fluctin (in den USA als Prozac) verkauft – hat sich in den vergangenen zwei Jahren nahezu verdoppelt. Nach Angaben der Herstellerfirma Eli Lilly nehmen inzwischen weltweit mehr als 20 Millionen Menschen das Medikament ein.
Somit scheint die Frage, die das Nachrichtenmagazin "Time" schon vor einigen Jahren auf den Titel setzte, nicht unberechtigt: "Ist Freud tot?"
Nicht ganz. Das erwies auch die Versammlung im New Yorker Waldorf-Astoria. Etwa 400 Mitglieder der psychoanalytischen Sektion der American Psychological Association versammelten sich im April 1996, um ihre Erkenntnisse über Inzest, Alkoholismus, Fettleibigkeit, zwangsneurotische Störungen und andere Leiden auszutauschen. Zwar bilden unter den 75000 Sozialarbeitern, 60000 Psychologen und 40000 Psychiatern, die in den Vereinigten Staaten tätig sind, die Psychoanalytiker eine verstreute Minderheit; doch der Mitgliederstand der American Psychoanalytic Association (der größten Standesvertretung mit Sitz in New York) ist im vergangenen Jahrzehnt trotz allem erstaunlich stabil bei 3000 geblieben. (Zum Vergleich: Die Deutsche Psychoanalytische Vereinigung mit Sitz in Berlin zählt derzeit 820 Mitglieder.) Außerdem zeugen die vehement vorgetragenen Attacken auf Freud – die auf ebenso heftige Abwehr stoßen – von der erstaunlichen Vitalität seiner Ideen (Bild 1).
Darum muß die Frage eigentlich lauten: Warum ist die Freudsche Theorie immer noch am Leben? Eine Erklärung mag sein, daß sie trotz aller Mängel nach wie vor einen überzeugenden Rahmen für die Erforschung unseres rätselhaften Seelenlebens abgibt. Freuds umfassende Darstellung der menschlichen Natur "ist bisher von keiner anderen Theorie erreicht worden", konstatiert Peter Gay von der Yale-Universität in New Haven (Connecticut), Verfasser der monumentalen Studie "Freud. Eine Biographie für unsere Zeit" (S. Fischer, Frankfurt am Main 1989). Auch so gründliche Kritiker wie der Philosoph Adolf Grünbaum von der Universität Pittsburgh (Pennsylvania) erkennen die fortdauernde Attraktivität von Freuds Ideen an. "Ich würde mich nicht so eingehend mit einer Kritik der Psychoanalyse beschäftigen, wenn ich nicht glaubte, daß sie etwas für sich hat", sagt er.
Freilich sind spezielle Hypothesen wie die über den Ödipus-Komplex oder den weiblichen Penisneid inzwischen sogar intern in Ungnade gefallen. "Nur wenige Analytiker halten sich an alle Formulierungen Freuds", meint Morris Eagle, Vorsitzender der psychoanalytischen Sektion der American Psychological Association und Professor an der Adelphi-Universität in Garden City (US-Bundesstaat New York). Dennoch teilen Psychotherapeuten aller Couleur auch heute noch zwei Freudsche Grundüberzeugungen: Unser Verhalten sowie unsere Gedanken und Gefühle seien in unbewußten, häufig in Kindheitserfahrungen wurzelnden Ängsten und Bedürfnissen begründet; aber wir könnten mit Unterstützung eines erfahrenen Therapeuten die Ursachen unserer Probleme erkennen und sie dadurch zumindest teilweise bewältigen.
Es gibt allerdings einen noch wichtigeren Grund für das Überdauern von Freuds Vermächtnis: Zwar vermögen seine Anhänger keine eindeutigen Beweise für die Wirksamkeit der orthodoxen Psychoanalyse vorzulegen, doch stehen solche auch für neuere Therapieformen aus – sei es die Tiefenpsychologie des Schweizer Freud-Schülers Carl Gustav Jung (1876 bis 1961), die kognitive Verhaltenstherapie oder das Verabreichen von Medikamenten. Tatsächlich haben trotz des Wirbels um die angebliche Wunderdroge Fluctin zahlreiche unabhängige Studien festgestellt, daß gegen die häufigsten psychischen Leiden – insbesondere Depressionen, Zwangsneurosen und Angstzustände – Medikamente nicht signifikant besser helfen als die therapeutische Aussprache.
Die Phlogiston-Ära
Für einen konsequenten Anti-Freudianer steht die Psychoanalyse heute gleichwohl wissenschaftlich nicht besser da als die Phlogiston-Theorie des 18. Jahrhunderts. Damals glaubten die meisten Naturforscher, in allem Brennbaren verberge sich dieselbe flüchtige Substanz, die mit den Flammen entweiche. Doch während die Phlogiston-Theorie durch den Fortschritt von Chemie und Thermodynamik völlig erledigt worden ist, hat ein Jahrhundert psychologischer, neurologischer und pharmakologischer Forschung kein medizinisches Paradigma hervorgebracht, das solide genug wäre, Freuds Lehre ein für allemal aus der Welt zu schaffen.
Wird die Seelenkunde überhaupt jemals ihr Phlogiston-Stadium überwinden und eine wirklich erfolgreiche Behandlung psychischer Störungen entwickeln? Der Psychiater Jerome D. Frank zwei-felt daran. In seinem 1961 erschienenen Werk "Persuasion and Healing" (Überredung und Heilung) behauptete er, der theoretische Rahmen, auf den sich ein Therapeut stütze, habe kaum etwas mit seiner Fähigkeit zu heilen zu tun; vielmehr bestehe die Wirkung darin, dem Patienten zu suggerieren, seine Beschwerden würden sich bessern. Somit sei der Placebo-Effekt das entscheidende Moment bei allen Psychotherapien und sogar bei den meisten pharmakologischen Behandlungen.
"Meine Auffassung hat sich wohl bestätigt", sagt Frank, inzwischen emeritierter Medizin-Professor der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore (Maryland). Er bezweifelt, daß die Wirksamkeit – oder Wirkungslosigkeit – der Psychotherapie überhaupt wissenschaftlich beweisbar sei; denn die Gabe eines bestimmten Therapeuten, den Placebo-Effekt bei einem speziellen Patienten auszulösen, ließe sich weder definieren noch messen. Deshalb hält er die fortwährenden Attacken auf Freud für überflüssig: "Man greift ihn an, weil er kein Wissenschaftler war, aber das geht an der Sache vorbei. Freud war ein großer Mythenschöpfer."
Auf Freud loszugehen hat Tradition. Der Philosoph Karl Popper (1902 bis 1994) behauptete vor mehr als 60 Jahren, die Psychoanalyse – schon von dem Wiener Polemiker Karl Kraus (1874 bis 1936) charakterisiert als "die Krankheit, für deren Therapie sie sich hält" – sei unwissenschaftlich, weil nicht falsifizierbar. Doch in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts war Freud nicht nur in Fachkreisen, sondern in der gesamten westlichen Kultur so hoch angesehen, daß er und seine Jünger solche Vorwürfe auf die leichte Schulter nehmen konnten. "Freud ignorierte das ganze Problem" der empirischen Überprüfung, sagt Frederick Crews; der emeritierte Anglistik-Professor der Universität von Kalifornien in Berkeley hat in einer Artikelserie in der "New York Review of Books" Freud und seine heutigen Nachfolger einer bissigen Kritik unterzogen.
Alle sind Sieger
Erst in den fünfziger Jahren begann ein halbes Dutzend namhafter psychoanalytischer Institute in New York, Chicago, Boston und anderswo, Daten zum Therapieerfolg zu sammeln. Die Resultate, die mehr als 600 Krankengeschichten erfaßten, veröffentlichte 1991 eine Expertengruppe unter der Leitung von Henry Bachrach, Professor für klinische Psychiatrie am New York Medical College des Saint-Vincents-Hospitals, im "Journal of the American Psychoanalytic Association" (Band 39, Heft 4).
Demnach war bei 60 bis 90 Prozent der untersuchten Patienten eine signifikante Besserung aufgrund der Psychoanalyse festzustellen. Bachrach und seine Kollegen räumten ein, daß die Untersuchungsbedingungen nicht ideal waren: Die Forscher hatten – aber das ist gängige Praxis – nur Patienten ausgewählt, die nach ihrer Meinung wahrscheinlich von einer Analyse profitieren würden. Zudem wurde der Behandlungsverlauf von den Therapeuten selbst bewertet, die wohl lieber positive Ergebnisse zu Protokoll gaben; und es gab keine Kontrollgruppe. Doch diese Schwächen "waren nicht gravierender als in vergleichbaren Untersuchungen über andere Formen der Psychotherapie", versicherte Bachrachs Team 1992 auf der Jahrestagung der American Association for the Advancement of Science.
Dem Psychologen Robyn M. Dawes von der Carnegie-Mellon-Universität in Pittsburgh zufolge sind die meisten Ergebnisberichte, die zugunsten konkurrierender Behandlungsformen sprechen, genauso mangelhaft. In seinem 1994 veröffentlichten Buch "House of Cards: Psychology and Psychotherapy Built on Myth" (Free Press) kritisiert Dawes auf das schärfste nicht nur die Psychoanalyse, sondern sämtliche Varianten von "talking cures" (Redekuren; so nannte Anna O., eine der ersten Patientinnen Sigmund Freuds, scherzhaft die Behandlung). Die diagnostischen Methoden seien ebenso subjektiv und unterschiedlich wie die Beurteilung des Therapieerfolgs. Zudem behauptet Dawes, es ließe sich keinerlei Einfluß von Ausbildung und Methode des Therapeuten auf das Ergebnis seiner Behandlung nachweisen.
Dennoch hält Dawes Psychotherapien für wirksam – vor allem bei spezifischen Problemen. Zum Beispiel spricht manches dafür, daß die kognitive Verhaltenstherapie die optimale Behandlungsform für extreme Angstzustände ist. Allerdings hat eine exakte und kontrollierte Studie unter Leitung der Psychiaterin M. Katherine Shear an der Universität Pittsburgh diese Aussage nicht bestätigt.
Ihr Team bildete zwei Patientengruppen. Die eine erhielt zwölfmal kognitive Verhaltenstherapie: In speziellen Übungen für Körper und Geist sollten die Patienten lernen, ihre Panikattacken zu kontrollieren. In den Sitzungen der Kontrollgruppe praktizierten die Therapeuten bloß nachdenkliches Zuhören. Beide Gruppen sprachen gleich gut an. In den "Archives of General Psychiatry" vom Mai 1994 folgert Shear aus diesem Befund, er stelle "die Spezifität der kognitiven Verhaltenstherapie in Frage".
Die Untersuchungen von Katherine Shear, Robyn Dawes und anderen bestätigen die sogenannte Dodo-Hypothese, die der Psychologe Lester B. Luborsky mit zwei Kollegen 1975 in einem klassischen Artikel in den "Archives of General Psychiatry" formuliert hat. Die Wirksamkeit sämtlicher Psychotherapien läßt sich demnach in dem Schiedsspruch der Dronte aus "Alice im Wunderland" nach einem Wettlauf zusammenfassen: "Alle sind Sieger, und jeder muß einen Preis bekommen" (Bild 3; die Dronten oder Dodos – Raphus cucullatus – waren flugunfähige Vögel, die auf Mauritius lebten und um 1780 ausgerottet wurden).
Luborsky, Psychiatrie-Professor an der Universität von Pennsylvania in Philadelphia, hat vor kurzem eine Meta-Analyse neuerer Ergebnisstudien abgeschlossen und ist überzeugter denn je, daß die Dodo-Hypothese zutreffe. "Es gibt zahllose Indizien für die Wirksamkeit von Psychotherapien", betont er, aber "über eine große Bandbreite von Stichproben hinweg" keine Anzeichen dafür, daß eine Form den anderen überlegen sei. Luborsky hat zudem eine Art Loyalitätseffekt festgestellt: Die Gutachter finden bevorzugt Indizien zugunsten der von ihnen selbst praktizierten Therapieform.
Gewiß läßt die Dodo-Hypothese sich auch so interpretieren, daß jeder verloren hat und niemand einen Preis bekommen darf. Diese Schlußfolgerung zieht der Psychiater E. Fuller Torrey vom National Institute of Mental Health in der US-Bundeshauptstadt Washington. In seinem Buch "Freudian Fraud" (Harper-Collins, 1992) brandmarkt er die Psychoanalyse und alle anderen Gesprächsbehandlungsformen als Pseudowissenschaft: Freuds Ideen hätten sich nicht aufgrund ihrer wissenschaftlichen Meriten durchgesetzt, sondern weil sie zu der – in linksintellektuellen Kreisen beliebten – Vorstellung paßten, die menschliche Natur sei extrem formbar.
Torrey bestreitet die Prämisse aller Redekuren, wonach die menschliche Psyche durch Kindheitserfahrungen geprägt sei und sich psychotherapeutisch umformen ließe. Ihm zufolge deuten überwältigend viele Befunde darauf hin, daß die individuelle Persönlichkeit primär genetisch und durch andere physische Faktoren bestimmt sei. Er gibt sich zuversichtlich, daß Medikamente, Gentherapie und andere biologische Verfahren früher oder später alle Redekuren überflüssig machen würden; vorläufig plädiert er dafür, die Psychotherapie aus den Leistungen der Krankenkassen zu streichen.
Daß Torreys Standpunkt nur eine extreme Formulierung der unterdessen herrschenden Haltung ist, zeigte sich auf der Jahrestagung der American Psychiatric Association im Mai 1996. Der Gegensatz zu dem vergleichsweise intimen Analytiker-Treffen im Waldorf-Astoria hätte kaum größer sein können: Mehr als 15000 Psychiater und andere in der psychosozialen Versorgung Beschäftigte versammelten sich im riesigen Jacob-K.-Javits-Kongreßzentrum in New York.
Die weitaus bestbesuchten Veranstaltungen waren von den Pharma-Firmen gesponserte Frühstücksbüfetts und Abendessen, bei denen jeweils Hunderte von Fachmedizinern sich Vorträge darüber anhören konnten, wie gut Prozac (Fluctin) bei zwangsneurotischen Störungen hilft sowie Zoloft, ein weiterer sogenannter selektiver Serotonin-Wiederaufnahme-Blocker, bei Depressionen (zu deren Behandlung werden Medikamente, die Funktionen des auf vielfache Weise wirksamen Neurotransmitters Serotonin beeinflussen, seit langem verwendet). Sitzungen zu psychotherapeutischen Themen waren hingegen kaum besucht; eine mit dem Titel "Die Zukunft der Psychotherapie" lockte nur zwanzig Hörer an.
Ein Indiz dafür, daß Pharmaka doch nicht die Allheilmittel sind, als die sie zuweilen ausgegeben werden, waren mehrere Vorträge zur Elektrokrampftherapie. In den vergangenen Jahrzehnten galt diese umstrittene Behandlungsform mehr und mehr als obsolet, vor allem seit der 1975 gedrehte Film "Einer flog über das Kuckucksnest" Elektroschocks als eine Form von Folter dargestellt hat. Doch technische Neuerungen haben angeblich die schlimmste Nebenwirkung – erheblichen Gedächtnisverlust – gemildert, und für die Elektrokrampftherapie gibt es ein stilles Comeback bei schwersten Depressionen, Schizophrenie und anderen Störungen, die nicht auf Pharmaka ansprechen.
Medikamente auf dem Prüfstand
Manche Forscher bezweifeln überhaupt, daß Medikamente bei der Behandlung psychischer Krankheiten viel nützen würden. Die einzigen den Redekuren nachweislich überlegenen Pharmakotherapien seien die mit Lithium bei manisch-depressiven Störungen und die mit Neuroleptika wie Leponex (Wirkstoff: Clozapin) bei Schizophrenie, stellt Martin E.P. Seligman von der Universität von Pennsylvania fest; er ist Präsident der American Psychological Association und eine Autorität in der Wirksamkeitsforschung. Es gebe "einfach keine Indizien", daß Fluctin und andere Pharmaka bei häufigeren Störungen wie Depression und Zwangsneurosen dem therapeutischen Gespräch überlegen seien.
Drei weitere Psychologen – David O. Antonuccio und William G. Danton von der Medizin-Fakultät der Universität von Nevada in Reno sowie Garland Y. DeNelsky von der Klinik-Stiftung in Cleveland (Ohio) – kamen zum selben Schluß. Im Dezember 1995 veröffentlichten sie in der Zeitschrift "Professional Psychology" die Ergebnisse einer Meta-Analyse von Dutzenden von Studien zu Medikamenten und Psychotherapien. Ihr Fazit lautet, daß "psychologische Interventionen, insbesondere die kognitive Verhaltenstherapie, bei der Behandlung von Depressionen selbst in schweren Fällen zumindest gleich wirksam sind wie eine pharmakologische Behandlung".
Zwei heftige Kritiker des zunehmenden Einsatzes von Antidepressiva sind die Psychologen Seymour Fisher und Roger P. Greenberg vom Health Science Center der Staatsuniversität von New York in Syracuse. Sie haben zahlreiche Arbeiten zur Freudschen Theorie veröffentlicht, zuletzt "Freud Scientifically Reappraised" (etwa: eine wissenschaftliche Neubewertung Freuds; John Wiley & Sons, 1996). Am bekanntesten wurden sie jedoch mit der These – vertreten in ihrem Buch "The Limits of Biological Treatments for Psychological Distress" (Die Grenzen biologischer Behandlungen bei psychischen Störungen; Lawrence Erlbaum, 1989) sowie in zahlreichen Artikeln –, Antidepressiva seien nicht annähernd so wirkungsvoll, wie die Werbung glauben machen wolle (Bild 2).
Ihre Analysen von Studien zur Wirkung von Antidepressiva aus dreißig Jahren hatte zum Ergebnis, daß zwei Drittel der medikamentös behandelten Patienten entweder keine Besserung zeigten oder auf Placebos genauso gut reagierten wie auf Antidepressiva; nur bei einem Drittel wirkten Medikamente signifikant besser. Den Studien war außerdem zu entnehmen, daß die Wirkung der Medikation in vielen Fällen nach einigen Monaten nachläßt und daß Patienten, welche die Therapie abbrechen, häufig Rückfälle erleiden.
Der bedeutsamste Einwand von Fisher und Greenberg ist, daß viele scheinbar kontrollierte Doppel-Blind-Versuche die positive Wirkung von Antidepressiva überzeichnen. In solchen Studien erhält die Kontrollgruppe normalerweise ein Placebo. Doch weil alle Antidepressiva Nebenwirkungen wie Mundtrockenheit, Verstopfung sowie Störungen von Blutdruck, Herzrhythmus und Sexualität haben, können sowohl Patienten als auch Ärzte oft feststellen, wer das Pharmakon erhalten hat; damit wird die Erwartung einer Besserung ausgelöst, die sich schließlich selbst erfüllt.
Um diesem Problem zu begegnen, hat man in manchen klinischen Studien Scheinmedikamente verabreicht, die ähnliche Nebenwirkungen auslösen wie Antidepressiva, zum Beispiel Atropin, den Giftstoff von Tollkirsche, Stechapfel und Bilsenkraut. Fisher und Greenberg zufolge ist in solchen Studien der Unterschied zwischen Antidepressivum und Kontrollpräparat meist deutlich geringer als in jenen mit völlig wirkstofflosem Placebo.
Wie die beiden Psychologen darlegen, verzerren auch andere Effekte die Ergebnisse. Beispielsweise scheiden im Laufe einer Studie viele Patienten aus, weil sie die Nebenwirkungen nicht ertragen oder nicht bereit sind, sich an den Behandlungsplan zu halten. Außerdem sondern Forscher selbst oft von vornherein Probanden aus, die ihnen als zu wenig kommunikationsfähig oder als zu desorganisiert erscheinen oder die außer ihrer Depression noch weitere körperliche oder psychische Leiden haben. In einer Zusammenfassung ihrer Ergebnisse im September/Oktober-Heft 1995 von "Psychology Today" ziehen Fisher und Greenberg den Schluß, "die meisten bisherigen Untersuchungen zur Wirksamkeit psychotroper Substanzen" seien "in einem unbekannten Ausmaß wissenschaftlich unzuverlässig".
Verschiedene Psychiater haben dieses Urteil rundweg verworfen: Fisher und Greenberg seien als Psychologen nicht berechtigt, Psychopharmaka zu verschreiben, und darum prinzipiell voreingenommen für eine Psychotherapie. Doch daß sich die Wirksamkeit eines Medikaments bei emotionalen Störungen weitgehend durch den Placebo-Effekt erklären lasse, meint auch der Psychiater Walter A. Brown von der Brown-Universität in Providence (Rhode Island), ein Experte für eben dieses Phänomen.
Seit langem, erklärt er, ist es eine medizinische Binsenweisheit, daß Patienten auf neue Medikamente stärker ansprechen als auf seit längerem verordnete: Ihre Einführung wecke oft bei Arzt und Patient hohe Erwartungen und erzeuge damit einen starken Placebo-Effekt. Wenn das Medikament dann mit der Zeit seinen Neuigkeitswert verliert und seine Nebenwirkungen und Grenzen mehr beachtet werden, hilft es auch weniger.
Deprimierende Resultate
Leider sind einer anspruchsvollen Studie zufolge, die das National Institute of Mental Health der USA vor fast zwanzig Jahren initiiert hat, weder Psychotherapie noch Antidepressiva bei der Behandlung von Depressionen besonders wirksam. Unter dem Titel "Treatment of Depression Collaborative Research Program" wandte man bei 239 Patienten in drei verschiedenen Krankenhäusern jeweils eine von vier Methoden an: kognitive Verhaltenstherapie, interpersonale Therapie, Gabe des Antidepressivums Imipramin plus klinische Beratung (das heißt wöchentlich ein kurzes Gespräch mit dem behandelnden Arzt) beziehungsweise klinische Beratung bei Verabreichung eines Placebos.
Die Studie, deren Ergebnisse 1989 veröffentlicht wurden, stieß von Anfang an auf Kritik. Im Frühjahr 1996 veröffentlichten die Psychologin Irene Elkin von der Universität Chicago und drei Mitarbeiter im "Journal of Consulting and Clinical Psychology" (Band 64, Heft 1) eine Bewertung unter dem Titel "Science Is not a Trial (But It Can Sometimes Be a Tribulation)" – etwa: Wissenschaft ist keine Heimsuchung (aber sie kann ganz schön mühsam sein). Wie die Autoren einräumen mußten, waren die Ergebnisse nicht gerade ermutigend.
Einige schwer depressive Patienten – insbesondere solche mit funktionellen Beeinträchtigungen – reagierten auf Imipramin besser als auf eine Psychotherapie. Doch bei den meisten ließ sich kaum ein Unterschied zwischen den Behandlungsformen feststellen – einschließlich Beratung plus Placebo. Zudem wurden nach der Behandlung nur 24 Prozent der Probanden als geheilt eingestuft und erlitten längere Zeit keinen Rückfall. "Zwar zeigte sich bei vielen Patienten eine Besserung", resümierte Irene Elkin, "betrachtet man jedoch das Gesamtbild, dann ist die Anzahl der Patienten, deren Zustand sich signifikant verbesserte und auch so blieb, relativ gering."
Immer mehr Fachärzte meinen denn auch, am besten sei mit einer Kombination von Psycho- und Pharmakotherapie voranzukommen. Dafür plädiert unter anderem der Psychiater Peter D. Kramer von der Brown-Universität, Verfasser des Bestsellers "Listening to Prozac" (Penguin 1993). Obwohl das Buch als anti-psychotherapeutisch und pro-pharmakologisch gilt, sagt Kramer von sich selbst, er sei im Grunde Psychotherapeut und glaube, Medikamente könnten die Wirkung von Redekuren verstärken und umgekehrt; dieses Vorgehen werde sich auch etablieren.
Doch gegen solche Erwartungen spricht wiederum eine Umfrage der Zeitschrift "Consumer Reports", die von der Consumers Union, einer gemeinnützigen Verbrauchervereinigung in Yonkers (New York), herausgegeben wird. Die Leser sollten berichten, welche Erfahrungen sie auf der Suche nach Hilfe bei emotionalen Schwierigkeiten gemacht hatten. Die rund 4000 Antworten wurden in der November-Ausgabe 1995 ausgewertet.
Vieles davon war Balsam für wunde Therapeutenseelen: Nach Aussage der meisten Leser hatte ihnen die Psychotherapie geholfen; und je länger sie in dieser Art Behandlung geblieben wären, desto mehr hätten sie das Gefühl gehabt, es gehe ihnen besser. Einige Fachleute wandten freilich gleich ein, eine solche Umfrage unter Betroffenen sei nicht demoskopisch triftig und spiegle nur die Tendenz bestimmter Patienten wider, therapiesüchtig zu werden. Dennoch berief sich die American Psychological Association sofort auf das Ergebnis und kritisierte die Krankenversicherungen, weil sie die Übernahme der Kosten einer Psychotherapie zeitlich eng begrenzen.
Andererseits läßt sich aus dem Votum auch herauslesen, daß Therapierte gleichermaßen zufrieden sind, ob sie nun von einem Sozialarbeiter mit Magisterabschluß behandelt werden, von einem promovierten Psychologen oder einem Psychiater mit abgeschlossenem Medizinstudium; nur die Bewertungen der Eheberater lagen unterhalb, hingegen die von Selbsthilfegruppen der Anonymen Alkoholiker oberhalb der Norm.
Eine Einheitswissenschaft der Seele?
Optimisten hoffen, daß die wissenschaftliche Erforschung der menschlichen Psyche künftig auf ein neues und überzeugendes Paradigma hinauslaufen werde, das die gegensätzlichen Standpunkte in der Seelenkunde – Vererbung kontra Umwelt, Medikament kontra Gespräch – zu überwinden vermag. Der Psychiater und Neurowissenschaftler Stephen Hyman von der Harvard-Universität in Cambridge (Massachusetts), der im Frühjahr 1996 zum Direktor des amerikanischen National Institute of Mental Health ernannt wurde, erklärt unumwunden: "Aus der Sicht all derjenigen, die sich mit dem Gehirn und der geistigen Gesundheit befassen, sind die traditionellen Dichotomien einfach falsch." Als Beleg zitiert er einen Artikel in den "Archives of General Psychiatry" vom Februar 1996; danach vollzogen sich im Gehirn von Patienten mit zwangsneurotischen Störungen, die sich einer kognitiven Verhaltenstherapie unterzogen hatten, ähnliche – mit Hilfe der Positronenemissions-Tomographie nachweisbare – Veränderungen wie unter einer Medikation.
Hyman ist zuversichtlich, daß Genetik, bildgebende Verfahren zur Untersuchung des Gehirns und andere Erkenntnisse schließlich neue Behandlungsformen hervorbringen werden. Sich selbst allerdings beschreibt er als einen "für alle Optionen offenen Skeptiker", der nicht nur die alte Freudsche Theorie, sondern auch einige der jüngst entwickelten biologischen Modelle psychischer Leiden lediglich als "gute Geschichten" ansieht, denen noch immer die empirische Begründung fehlt. "Wir werden nicht einen weiteren Serotonin-Rezeptor klonen und dann behaupten können, wir verstünden das Gehirn", meint er. Denn wenn die Gelehrten weiter über Sigmund Freuds Ideen streiten, bedeute dies, daß die Wissenschaft der Psyche noch immer in ihren Anfängen stecke: "In ausgereiften Disziplinen studiert man in der Regel keine Schriften, die älter sind als drei oder vier Jahre."
Literaturhinweise
- Sigmund Freud: Studienausgabe. Herausgegeben von Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strackey. Revidierte Neuausgabe, zehn Bände in Kassette. S. Fischer, Frankfurt am Main 1989.
– Die Grundlagen der Psychoanalyse. Eine philosophische Kritik. Von Adolf Grünbaum. Reclam, Stuttgart 1988.
– Die Heiler. Wirkungsweisen psychotherapeutischer Beeinflussung. Vom Schamanismus bis zu den modernen Therapien. Von Jerome D. Frank. Klett-Cotta, Stuttgart 1992.
– Tiefenschwindel. Von Dieter E. Zimmer. Rowohlt, Reinbek 1990.
– Glück auf Rezept. Der unheimliche Erfolg der Glückspille Fluctin. Von Peter D. Kramer. Kösel, München 1995.
Kasten: Therapieformen: eine Liste ausbleibender Fortschritte
(siehe Bilder)
Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1997, Seite 62
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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