Die Allgegenwart des Sierpinski-Dreiecks
Die unendlich durchbrochene Form mit den fraktalen Eigenschaften erscheint an den überraschendsten Stellen: von den biederen Binomialkoeffizienten bis zu einem beliebten Geduldsspiel.
Merkwürdige Zahlen, seltsame Formen: Das macht, zum Teil, den Reiz der Mathematik aus. Noch merkwürdiger – und reizvoller – sind die für die Mathematik typischen überraschenden Zusammenhänge. Immer wieder stellen sich Dinge, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, als eng zusammengehörig heraus. Eines meiner Lieblingsbeispiele dafür ist das Sierpinski-Dreieck (Bild unten). Es handelt sich – in der Terminologie von Benoît Mandelbrot – um ein Fraktal: Die ganze Figur läßt sich in Teile zerlegen, die kleinere Kopien des Ganzen sind. Aber das Sierpinski-Dreieck hängt auch mit Doppelpunkten von Kurven, dem Pascalschen Dreieck, den Türmen von Hanoi und der merkwürdigen Zahl 466/885 zusammen, die ungefähr gleich 0,52655 ist.
Der polnische Mathematiker Waclaw Sierpinski (1882–1969) hat sein Dreieck im Jahre 1915 beschrieben. Es ist leicht zu zeichnen: Teilen Sie ein gleichseitiges Dreieck in vier Dreiecke, indem Sie die Seitenmitten miteinander verbinden, und entfernen Sie dann das mittlere Dreieck. Wiederholen Sie das Verfahren für jedes der verbleibenden Dreiecke. Wenn Sie das unendlich oft tun, ist das Endergebnis eine Kurve, die sich selbst in jedem ihrer Punkte trifft. Diese geometrische Eigenschaft läuft der Vorstellung so zuwider, daß derartige Kurven zunächst als "Monster" und pathologisch galten (Spektrum der Wissenschaft 3/1992, S. 72). Wenn man es ganz genau nimmt, trifft die Sierpinski-Kurve sich selbst in jedem ihrer Punkte mit Ausnahme der drei Eckpunkte des Ausgangsdreiecks. Aber selbst diesen kleinen Mangel an Monstrosität konnte Sierpinski beseitigen, indem er sechs Exemplare seines Dreiecks zu einem regulären Sechseck zusammenfügte. Kürzlich hat sich überraschend eine praktische Nutzanwendung dieser unendlich zackigen Form ergeben: Antennen (siehe Kasten unten).
Weit früher, im Jahre 1890, entdeckte der französische Mathematiker Édouard Lucas (1842–1891) einen mathematischen Satz, der einen Zusammenhang zwischen Sierpinskis Kurve und dem berühmten Pascalschen Dreieck herstellt, bei dem jede Zahl die Summe der beiden darüberstehenden Zahlen ist. Diese Zahlen heißen auch Binomialkoeffizienten. Der k-te Eintrag in der n-ten Zeile (wobei wir Zeilen und Spalten mit 0 beginnend numerieren) ist die Anzahl der verschiedenen Möglichkeiten, aus n verschiedenen Dingen k auszuwählen. Lucas fragte: Welche Zahlen im Pascalschen Dreieck sind gerade und welche ungerade? Die erstaunliche Antwort ist auf den ersten Blick sichtbar: Die Anordnung der ungeraden Binomialkoeffizien sieht genauso aus wie eine diskrete Version der Sierpinski-Kurve (Bild unten; siehe auch Spektrum der Wissenschaft 8/1993, S. 10).
Eine interessante Folgerung ist, daß fast alle Binomialkoeffizienten gerade sind. Das heißt, mit zunehmender Größe des Pascalschen Dreiecks geht das Verhältnis der ungeraden zu den geraden Koeffizienten gegen 0. David Singmaster von der South Bank University in London hat diese Feststellung verallgemeinert und bewiesen, daß für jede natürliche Zahl m fast alle Binomialkoeffizienten durch m teilbar sind.
Ein weiteres Mal erscheint das Sierpinski-Dreieck – das damals noch nicht so hieß – im Werk von Édouard Lucas. Im Jahre 1883 vermarktete er das berühmte Puzzle der Türme von Hanoi unter dem Pseudonym "N. Claus" (für den falschen Namen hat er die Buchstaben des richtigen geschüttelt). Das Spiel, unter Amateurmathematikern seit langem geschätzt, besteht aus acht (oder weniger) Scheiben unterschiedlicher Größe, die auf drei Stäben stecken. Der Fall mit drei Scheiben ist im Bild rechts dargestellt. Die Scheiben stecken anfangs der Größe nach geordnet auf einem der Stäbe. Der ganze Stapel ist nun Scheibe für Scheibe auf einen anderen Stab zu bringen, wobei niemals eine kleinere unter eine größere Scheibe geraten darf.
Es ist wohlbekannt, daß die Lösung eine rekursive Struktur hat. Das heißt, die Lösung des Hanoi-Puzzles mit n+1 Scheiben läßt sich leicht aus der Lösung mit n Scheiben ableiten. Nehmen wir an, Sie wissen, wie das Puzzle mit drei Scheiben zu lösen ist, und sollen die Lösung für vier Scheiben finden. Ignorieren Sie zunächst die unterste Scheibe und bewegen Sie die obersten drei Scheiben auf einen leeren Stab, nach dem – bekannten – Rezept für die Lösung des Drei-Scheiben-Puzzles. Stecken Sie die vierte Scheibe auf den anderen nun freien Stab und stapeln Sie, wieder nach dem Drei-Scheiben-Rezept, die drei oberen Scheiben auf die vierte.
Diese rekursive Struktur können wir geometrisch darstellen – wie jedes Spiel, das nur endlich viele Stellungen und Züge zwischen diesen Stellungen zuläßt. Wir zeichnen für jede zulässige Stellung eine Ecke und für jeden Zug eine Kante zwischen den beiden Stellungen (beziehungsweise deren Ecken), die durch diesen Zug ineinander überführt werden. Insgesamt ergibt sich ein Graph. Wenn, wie in diesem Fall, mit einem Zug auch dessen Umkehrung zulässig ist, sind die Kanten keine Einbahnstraßen.
Nennen wir den Graphen für die Version mit n Scheiben Hn. Wie sieht dieser Graph aus? Sehen wir uns H3 an, also den Graphen, der Stellungen und Züge beim 3-Scheiben-Puzzle beschreibt (Bild oben). Wir numerieren die Scheiben mit 1, 2 und 3, wobei 1 die kleinste und 3 die größte Scheibe ist. Dann numerieren wir die Stäbe von links nach rechts mit 1, 2 und 3. Angenommen, Scheibe 1 steckt auf Stab 2, Scheibe 2 auf Stab 1 und Scheibe 3 auf Stab 2. Wir können diese Spielsituation durch die Folge 212 darstellen, in der die Zahlen der Reihe nach angeben, auf welchem Stab die Scheiben 1, 2 und 3 stecken. Daß Scheibe 3 unter Scheibe 1 liegt, geht aus dieser Darstellung nicht unmittelbar hervor, sondern folgt aus den Regeln. Jede Position im 3-Scheiben-Puzzle entspricht einer solchen dreiziffrigen Folge. Es gibt 33=27 Stellungen, denn jede Scheibe kann, unabhängig von den anderen, auf jeder Stange stecken.
Welche Züge sind von Position 212 aus erlaubt? Die kleinste Scheibe auf jedem Stab muß zuoberst liegen. Also können wir nicht Scheibe 2 auf Stab 2 stecken, denn dann läge sie auf der kleineren Scheibe 1. Aus der Stellung 212 können wir nur in die Stellungen 112, 312 und 232 ziehen. Der Graph H3 zeigt alle möglichen Züge aus allen 27 Stellungen. Er besteht aus drei Exemplaren des Graphen H2, die im Dreieck angeordnet und durch drei Kanten verbunden sind.
Jeder der Graphen H2 ist in ähnlicher Weise dreigeteilt; das ist eine Folge der rekursiven Lösungsstruktur. Die Kanten, welche die drei Exemplare von H2 verbinden, sind genau die Züge, in denen die größte Scheibe bewegt wird. Die drei H2-Graphen wiederum entsprechen den Möglichkeiten, nur die beiden kleinsten Scheiben zu bewegen – ein Exemplar für jede mögliche Position der dritten Scheibe. Das gleiche gilt für jeden Hn: Er besteht aus drei Kopien von Hn–1, die in Dreiecksform angeordnet und an den Ecken verbunden sind. Mit zunehmender Zahl von Scheiben sieht der Graph immer mehr wie die Sierpinski-Kurve aus.
Mit Hilfe des Graphen Hn können wir allerlei Fragen über die Türme von Hanoi beantworten. Beispielsweise ist der Graph offenbar zusammenhängend – er besteht aus einem Stück; also können wir von jeder Stellung aus jede andere erreichen. Der kürzeste Weg aus der üblichen Anfangsstellung (einer Ecke des größten Dreiecks) bis zur üblichen Zielstellung (einer anderen Ecke) geht gerade eine Außenseite des Graphen entlang und hat 2n–1 Kanten. Also ist das Puzzle in 2n–1 Zügen lösbar.
Vor etwa zehn Jahren hat der Münchener Mathematiker Andreas Hinz mit Hilfe der Türme von Hanoi die durchschnittliche Länge des kürzesten Weges zwischen irgend zwei Punkten der Sierpinski-Kurve berechnet. Hinz bewies, daß die mittlere Zahl von Zügen, mit der man von irgendeiner Stellung in irgendeine andere gelangt, gegen (466/885)2n geht, wenn n groß wird. Daraus folgt, daß die mittlere Entfernung zwischen zwei Punkten der Sierpinski-Kurve (entlang der Kurve) 466/885 beträgt, wenn jede Seite des Ausgangsdreiecks die Länge 1 hat. Für Statistikfans hat Hinz auch noch bewiesen, daß die Varianz der Entfernung zwischen zwei zufällig gewählten Punkten auf der Einheits-Sierpinski-Kurve genau 904808318/14448151575 ist.
Literaturhinweis
Four Encounters with Sierpi´nski’s Gasket. Von Ian Stewart in: The Mathematical Intelligencer, Bd. 17, Heft 1, S. 52–64, 1995.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 2000, Seite 106
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