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Die Apoptose Regeln und Fehler beim Zellselbstmord

Damit die Entwicklung und die Funktionen des Körpers normal ablaufen, müssen Zellen sich in gesetzmäßiger Weise regelrecht selbst umbringen. Wird ihr vorprogrammierter Tod verfrüht eingeleitet, verzögert oder gar verhindert, sind krankhafte Prozesse die Folge, beteiligt an Krebs, AIDS oder auch Autoimmunleiden.

Während Sie diesen Artikel lesen, sterben in Ihrem Körper Millionen von Zellen ab. Doch keine Sorge: Die meisten opfern sich, damit Sie weiterleben. Denn für das Gedeihen eines vielzelligen Organismus ist nicht nur wichtig, daß immerfort neue Zellen entstehen; genauso unabdingbar ist, daß irgendwelche überflüssigen oder von der Norm abweichenden sich selbst zerstören, auch all jene, die ihren Zweck erfüllt haben.

Dieser programmierte Zelltod, fachlich Apoptose genannt, blieb in der Zell- und Molekularbiologie jahrzehntelang unbeachtet, wird nun aber eingehend erforscht. In recht kurzer Zeit hat man bereits viele Erkenntnisse dazu gewonnen, wie solch ein Selbstmord kontrolliert wird und vonstatten geht.

Zu diesen Untersuchungen motiviert außer rein wissenschaftlichem Interesse auch die Hoffnung, einige der gefürchtetsten Krankheiten in den Griff zu bekommen. Denn wahrscheinlich liegt bei so unterschiedlichen Leiden wie Krebs, AIDS (die erworbene Immunschwäche), der Alzheimer-Krankheit und der rheumatoiden Arthritis unter anderem eine Fehlsteuerung der Apoptose vor, durch die zu viele oder zu wenige Zellen untergehen.

Als erste erkannten Entwicklungsbiologen, daß das Absterben von Zellen für den Organismus nicht – wie man bis dahin gedacht hatte – zwangsläufig von Nachteil, sondern vielfach sogar erforderlich ist. Beobachtungen an Tieren besonders in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts hatten dieses wichtige Prinzip aufgedeckt. Vielzellige Lebewesen, soviel stand dann in den fünfziger Jahren fest, erhalten ihre endgültige Gestalt und Organisation gerade auch dadurch, daß bestimmte Zellen nach Plan eliminiert werden (Bild 3). So bildet sich bei Kaulquappen während der Metamorphose zum Frosch der Schwanz zurück; und bei heranwachsenden Säugetieren müssen unzählige Nervenzellen zugrunde gehen, damit ihr komplexes Gehirn Form und Funktion gewinnt.


Physiologischer Zelltod und Nekrose

Dieser physiologische Zelltod ist nicht zu verwechseln mit dem pathologisch bedingten Absterben von Zellen: Bei diesem als Nekrose bezeichneten Vorgang gehen Gewebe infolge einer mechanischen Verletzung oder einer anderen irreparablen Schädigung, hervorgerufen beispielsweise durch Sauerstoffmangel, zugrunde. Unter dem Mikroskop zu erkennen ist eine dafür typische Schwellung, die auftritt, weil Organellen wie insbesondere Mitochondrien (die zellulären Kraftwerke) und die Zelle selbst sich aufblähen und zerplatzen. Wegen der Schädigung vermag sie nämlich ihren Flüssigkeits- und Elektrolythaushalt nicht mehr zu kontrollieren. Vor allem Natrium- und Calcium-Ionen, die normalerweise hinausbefördert werden, dringen ungehindert ein und mit ihnen Wasser, was die Membranen schließlich bersten läßt.

Zugleich ist ein entzündlicher Prozess für Nekrosen charakteristisch. Im Organismus umherwandernde Immunzellen sammeln sich an den geschädigten Körperzellen und verschlingen sie. An sich hilft die damit einhergehende Entzündung, einen Infektionsherd zu begrenzen und anfallende Zelltrümmer zu entfernen; doch können die Immunzellen und die von ihnen abgegebenen Stoffe mitunter auch benachbartem gesundem Gewebe erheblich schaden.

Hingegen stellt sich die Apoptose unter dem Mikroskop ganz anders dar (Titelbild und Bild 1). Dabei tritt bemerkenswerterweise keine Schwellung auf; vielmehr schrumpft die Zelle und löst sich von ihren Nachbarn. Alsbald scheint sie gleichsam zu brodeln: Auf der Oberfläche bilden sich Bläschen, die gleich wieder verschwinden und durch neue ersetzt werden (Bild 1 oben und Bild 2). Organellen behalten noch ihre Struktur, nur der Zellkern – dessen Erscheinungsbild sich bei einer Nekrose kaum verändert – bekommt ein völlig anderes Aussehen. Besonders auffällig ist das Verbacken des normalerweise locker im Kern verteilten Chromatins, also der DNA mit den daran gebundenen Proteinen, zu einem oder mehreren deutlich sichtbaren Klümpchen in der Nähe der Kernhülle.

Häufig wird eine apoptotische Zelle schon in diesem Stadium von gesunden anderen in ihrem Umfeld – so den praktisch allgegenwärtigen Freßzellen des Immunsystems – aufgenommen und abgebaut, ohne daß eine Entzündungsreaktion einsetzte. Wird die sterbende Zelle nicht sogleich entdeckt und verschlungen, kann sie noch weitere Veränderungen durchmachen: Typischerweise bricht dann der Kern auseinander, und die Zelle selbst zerfällt in viele membranumhüllte Teile, die apoptotischen Körperchen, von denen manche ein oder zwei Kernbruchstücke enthalten. Schließlich werden aber auch diese Reste unauffällig beseitigt, also ohne Entzündung (Bild 1 Mitte und rechts unten).

Eine weitere Besonderheit der Apoptose haben biochemische Untersuchungen Ende der siebziger Jahre enthüllt: Das Chromatin erscheint oft in Fragmente einer charakteristischen Größenverteilung zerbrochen, denn beim Auftrennen der Fraktion in einem Gel in einem elektrischen Feld ergibt sich eine Serie von Querbanden, ein leiterähnliches Muster; jede Sprosse entspricht einem Fragment bestimmter Größe. Das Chromatin nekrotischer Zellen hingegen zeichnet eine Schmierspur, was auf ungeregelten Zerfall hindeutet.

Allerdings werden nicht alle Zellen, die nach Programm absterben, vom Körper resorbiert. Wie man heute weiß, können die Überbleibsel in bestimmten Fällen sehr lange überdauern, unter Umständen bis zum Lebensende des Organismus (Kasten auf Seite 34).

Die Linse des Auges etwa besteht aus toten Zellen, deren Cytoplasma größtenteils durch das Protein Crystallin ersetzt wurde, bevor sie abstarben. Und die Zellen der Hornhaut, die als Keratinocyten in einer tiefen Hautschicht regelmäßig neu entstehen, lagern auf ihrer Wanderung an die Oberfläche wasserunlösliche Keratine ein, die ihnen Festigkeit geben, und legen sich zudem eine wasserabweisende Hülle zu, bevor aus ihnen die äußere leblose Schutzschicht der Haut wird, die langsam abschilfert und unablässig ersetzt wird.


Zum Absterben allzeit bereit

Die meisten Kennzeichen der Apoptose, soweit sie mikroskopisch zu beobachten sind, wie auch ihre Funktion bei der Embryonalentwicklung waren also bereits in den fünfziger Jahren gut dokumentiert. Doch dann dauerte es noch geraume Zeit, bis erkannt wurde, daß sogar der vollentwickelte Organismus tagtäglich auf programmierten Zelltod angewiesen ist (Kasten auf Seite 34). Diese grundlegende Vorstellung entwarfen der australische Pathologe John F. R. Kerr und seine schottischen Kollegen Andrew H. Wyllie und Alastair R. Currie in einer Arbeit, die 1972 erschien.

Darin unterbreiteten sie, bei dem Zellsterben während der Entwicklung und bei dem im reifen Organismus handele es sich um einen gleichartigen Vorgang, der lebenslang ablaufe. Auch vermuteten die drei Forscher darin einen aktiven Prozeß, für den die betroffene Zelle selber Energie aufzubringen habe – anders als beim passiven der Nekrose, dem eine Zelle einfach erliege. Und schon in diesem Artikel stand, daß eine Über- oder Unterregulation der Selbstvernichtung vielleicht an mancher Krankheit beteiligt sei, zum Beispiel an Krebs (die Abhandlung erschien denn auch in einer Fachzeitschrift für Krebsmedizin).

Kerr, Wyllie und Currie führten zudem auf Ratschlag eines Mitarbeiters den Begriff Apoptose ein. Die Zusammensetzung von griechisch apo (ab, weg, los) und ptosis (Senkung), die ein Abfallen wie das welker Blätter bezeichnet, sollte den Unterschied zur Nekrose (abgeleitet von griechisch nekrosis für Tod, Tötung, Absterben) verdeutlichen.

Die bahnbrechende Veröffentlichung blieb allerdings wiederum mehr als ein Jahrzehnt weithin unbeachtet. Mehr Aufmerksamkeit erlangten die Überlegungen der drei Pathologen erst, als die wenigen damals überhaupt an Apoptose forschenden Arbeitsgruppen nach und nach die Voraussagen bestätigende Indizien fanden – etwa dafür, daß der programmierte Zelltod bis zum Lebensende von Tier und Mensch weitergeht und daß eine Entgleisung mit Krebs einhergehen kann. Außerdem identifizierte man erste Moleküle, die eine Apoptose steuern oder sonstwie dabei mitwirken.

Inzwischen beschäftigen sich zahllose Wissenschaftler mit dem Thema. Auch wenn viele Details noch offen sind, kann man einige Grundprinzipien bereits erkennen.

Die meisten, wenn nicht alle Zellen pflegen einen Satz von Proteinen herzustellen, die bei einer Selbstvernichtung als Werkzeug dienen. Solange die Zelle dem Körper nützt, hält sie diese – wohl stets bereite – Todesmaschinerie im Zaum. Sie läßt sie jedoch im Regelfall anlaufen, wenn sie infiziert, entartet oder sonstwie für den Organismus abträglich oder gefährlich ist.

Den Anstoß zur Apoptose können Anlässe vieler Art geben. Zum Beispiel mag es sein, daß andere Zellen der betroffenen die chemischen Signale – sogenannte Wachstums- und Überlebensfaktoren – vorenthalten, mit denen Körperzellen sonst unablässig einander ihre Bedeutung bekräftigen. Aber selbst wenn eine Zelle noch an der wechselseitigen Bestätigung teilhat, können anderslautende Kommandos aus ihrem Inneren oder von außen das Absterben einleiten, ebenso widersprüchliche Befehle, daß eine Teilung angezeigt sei oder noch nicht.

Nun gibt es, wie gesagt, auch Zelltypen, die vorhersehbar Selbstmord zu begehen pflegen – wie Keratinocyten rund 21 Tage nach Beginn ihrer Wanderung zur Hautoberfläche. Durch einen Sonnenbrand beispielsweise werden sie jedoch vorzeitig dazu veranlaßt. Selbst Nerven- oder Skelettmuskelzellen, die normalerweise so lange leben wie der gesamte Organismus, können die Notbremse ziehen.

Alle bislang daraufhin untersuchten Zelltypen verschiedenster Vielzeller benutzen als Selbstmord-Instrumentarium eine Reihe strukturell verwandter proteinspaltender Enzyme, die ICE-artigen Proteasen; benannt sind sie nach dem zuerst entdeckten, dem interleukin-1-umwandelnden Enzym (englisch interleukin-1 converting enzyme). Wie in Bild 4 symbolisch dargestellt, verrichten diese Biokatalysatoren ihr verheerendes Werk, indem sie wichtige Proteine, unter anderem solche des Zell-Stützgerüsts, regelrecht zerschneiden und zerhacken und zum Teil auch das Erbmaterial attackieren – entweder selbst oder dadurch, daß sie bestimmte andere Enzyme es zu zerstören veranlassen. Die Zelle hat dann keine Möglichkeit mehr, die angerichteten Schäden wie sonst kleinere Defekte wieder zu beheben. Normalerweise sind diese Enzyme aber inaktiv; ihr Messer steckt gewissermaßen in der Scheide!

Das Arsenal von Auslösern

Zwar ist die Apoptose-Maschinerie offenbar bei allen Zellen gleich; doch unterscheiden sich die sie anwerfenden Signale teilweise erheblich. Manche Zellen brauchen dazu einen sehr starken Anstoß, andere nur einen schwachen; einige reagieren sofort, andere langsam. Auch ist ein bestimmter Zelltyp je nach Entwicklungsstadium mehr oder weniger todesbereit. Zudem kann eine Zelle auf etliche verschiedene Signale ansprechen.

Ein Hauptanliegen der gegenwärtigen Apoptose-Forschung ist, das volle Spektrum all dieser Auslöser zu bestimmen und aufzuklären, wie durch ihr Zutun die zerstörerischen Proteasen aktiviert werden. Ein Signal zur Selbstzerstörung, soviel weiß man schon, wird in der Zelle zunächst über eine Reihe von Vermittlermolekülen weitergeleitet; welche dies sind, kann je nach Art des Signals differieren. Die Einzelheiten der Übertragungswege sind größtenteils noch nicht bekannt. Als besonders mühselig hat sich erwiesen, den letzten Schritt aufzudecken, nämlich die Moleküle zu finden, welche schließlich die Proteasen sozusagen scharf machen.

Immerhin läßt sich am Verhalten bestimmter Zellen des Immunsystems beispielhaft ein Eindruck von diesem vielseitigen Geschehen und vom Stand der Forschung vermitteln: Die Gruppe der T-Zellen gehört zu den Lymphocyten und damit zu den weißen Blutkörperchen. Sie ist für die Immunantwort beim Eindringen von Viren und Mikroben von zentraler Bedeutung. Selbstmord zur passenden Zeit, je nach den eigenen Voraussetzungen und der Situation, ist unabdingbar mit ihrer Funktion verknüpft. Schon die noch unreifen Vorläuferzellen, die im Knochenmark entstehen, sind notfalls dazu bereit. Isoliert man sie künstlich daraus, töten sie sich unverzüglich. Die spezifischen Auslöser dafür sind, daß sie den Kontakt zu ihren Nachbarn verloren haben und nicht mehr die von ihnen abgegebenen Wachstumsfaktoren erhalten. (So sind überhaupt die meisten Zelltypen programmiert – es könnte sich um einen generellen Mechanismus handeln, jene auszumerzen, die sich nicht dort befinden, wo sie hingehören.)

Aus dem Knochenmark wandern die Vorläufer von T-Zellen zunächst zum Thymus, einem lymphatischen Organ hinter dem Brustbein, wo sie – nun Thymocyten genannt – sich weiter spezialisieren. Insbesondere beginnen sie dort, ihre Rezeptormoleküle sozusagen prüfungshalber vorzuzeigen; davon hat jeder Thymocyt eine eigene Ausführung, vermag somit auch nur bestimmte molekulare Strukturen als Antigen zu binden. Mit Hilfe ihres spezifischen Rezeptors spürt eine geeignete reife T-Zelle später beispielsweise infizierte Zellen auf und zerstört sie.

Normale körpereigene Gewebe und Substanzen müssen jedoch verschont bleiben. Aus dem großen Zufallsangebot an Vorläufern ist deshalb die richtige Auswahl zu treffen. Sie bekommen dafür im Thymus ein Sortiment von Molekülen präsentiert. Jene Zellen, die körpereigene Moleküle stark binden, also später dem Organismus selbst schaden würden, werden ebenso durch Apoptose ausgesondert, wie solche, die erst gar nicht funktionale Rezeptoren herzustellen vermögen. Nur die restlichen reifen zu T-Zellen aus und gelangen ins Blut, so daß sie durch den Körper patrouillieren können; auch dort bleiben sie aber im Ruhezustand, bis sie auf Antigene stoßen, die zu ihren Rezeptoren passen.

Unterdes sind sie – wie viele andere Zellen – durch schädliche Einwirkungen mancher Art weiterhin selbstmordgefährdet, durch ionisierende Strahlung etwa oder Gifte, die ebenfalls das Erbgut schädigen (das gilt auch für Bestrahlungen und bestimmte Chemotherapien bei Krebs). DNA-Defekte regen die betroffene Zelle zur Herstellung des Proteins p53 an, das seinerseits die Aktivierung des Apoptoseprogramms veranlassen kann. Früher glaubten wir und viele Kollegen, die Neusynthese von p53 oder anderen Proteinen sei generell die Voraussetzung für die Selbstzerstörung von Zellen; doch offenbar gilt dies zwar häufig, aber nicht immer.

Schließlich müssen auch T-Zellen abtreten, deren Aufgabe erfüllt ist. Die Erkennung von Fremdantigenen hatte sie aus dem Ruhezustand zur Infektionsbekämpfung aktiviert, sie also angeregt, sich zu vermehren und entzündungsfördernde Proteine zu produzieren. Diese Tätigkeit ist aber nur so lange wünschenswert, wie der entsprechende Krankheitserreger im Körper ist. Danach sollten die aktivierten Lymphocyten alsbald verschwinden, weil sonst die Gefahr bestünde, daß sie überhandnehmen und chronische Entzündungen verursachen – begleitet von Schwellungen und Fieber – oder sogar eine Autoimmunität bewirken, Angriffe des Immunsystems gegen körpereigenes Gewebe.

Es gibt mindestens zwei Möglichkeiten, diese Apoptose herbeizuführen. Im einen Falle ist wiederum der Entzug eines Überlebensfaktors beteiligt – und zwar verschwindet der T-Zell-Faktor Interleukin-2 mit dem Ausmerzen des Krankheitserregers.

Der zweite Mechanismus (Bild 5 oben) basiert auf einem Plasmamembranprotein namens Fas, auch APO-1 oder nach neuerer internationaler Übereinkunft CD95 genannt, das in letzter Zeit viel wissenschaftliches Interesse geweckt hat. Dieses Molekül, das sich auch sonst auf vielen Zellen findet, ist in die Zellmembran eingebettet und ragt mit einem Ende nach außen, mit dem anderen ins Cytoplasma, so daß es Signale ins Zellinnere übermitteln kann.

Ruhende T-Zellen produzieren Fas nur in geringen Mengen. Treffen sie erstmals auf ein sie aktivierendes Antigen, so stellen sie zusätzliche, allerdings zunächst noch funktionsuntüchtige Varianten davon her. Überdies synthetisieren sie für kurze Zeit ein weiteres Oberflächenmolekül, den Fas-Liganden, der auf Fas paßt wie ein Schlüssel zum Schloß.

Nach einigen Tagen werden die neuen Fas-Moleküle einsatzbereit. Dann können sich die Liganden an sie heften, und zwar an Moleküle derselben Zelle wie auch an solche einer anderen aktivierten T-Zelle beim Infektionsherd. Diese Bindung nun ist für die Fas-tragende Zelle das entscheidende Signal, die eigene Apoptose einzuleiten. Somit haben T-Zellen nur wenige Tage Zeit, ihrer Aufgabe nachzugehen und die Infektion zu bekämpfen; dann müssen sie programmgemäß absterben.

Wie bereits angemerkt, kann die Empfindlichkeit generell je nach Zellart und Stadium gegenüber den verschiedenen Selbstmordsignalen variieren. So sterben ruhende T-Zellen bei Röntgenbestrahlung rasch, aktivierte aber nicht; und während ein Thymocyt untergeht, wenn ein Protein im Thymus sich fest an seinen Rezeptor bindet, aktiviert das Andocken eines Antigens eine im Blut zirkulierende reife T-Zelle. Wie sind all solche Unterschiede zu erklären?

Anscheinend ist die Selbstmordschwelle bei Zelltypen besonders hoch, die nicht oder nur mit Nachteilen für den Organismus ersetzbar sind, etwa bei Nerven- oder Skelettmuskelzellen, hingegen recht niedrig bei jenen, die sich ähnlich leicht neu bilden lassen wie Blutzellen. Das könnte sehr wohl eine evolutive Anpassung sein. Die Hinweise verdichten sich, daß die spezifische Empfindlichkeit wesentlich dem modulierenden Einfluß einer Familie miteinander konkurrierender Proteine untersteht: Bcl-2 und seinen Verwandten wie Bax und Bad. Manche blockieren die Apoptose, andere leisten ihr Vorschub; das Verhältnis beider Sorten entscheidet mit darüber, wie leicht das Selbstmordprogramm sich einleiten läßt. Freilich sind die Einzelheiten noch nicht geklärt.


Fehlsteuerung durch Viren

So notwendig der programmierte Zelltod für den Organismus ist, so problematisch können Fehlsteuerungen sein. Offenbar kommen sie bei vielen Krankheiten vor, auch bei viralen Infekten.

Ein Virus, das eine Zelle befallen hat, sucht deren Proteinsynthese so umzustellen, daß sie möglichst viele Moleküle für neue Viren produziert, oft auf Kosten ihrer eigenen. Viele Zelltypen reagieren schon auf diese Belastung mit Selbstmord. Aber das ist auch das Ende des feindlichen Gastes, und so haben manche dieser Erreger Gegenstrategien entwickelt.

Das Epstein-Barr-Virus zum Beispiel, das Pfeiffersches Drüsenfieber verursacht und im Verdacht steht, bestimmte Lymphtumoren (das Burkitt-Lymphom) auszulösen, benutzt einen auch bei anderen Viren beobachteten Trick: Es läßt die Wirtszelle Substanzen herstellen, die dem apoptose-hemmenden Bcl-2 ähneln. Überdies kann es ihr die Synthese von Molekülen aufzwingen, die wiederum die zelleigene Bcl-2-Synthese ankurbeln.

Andere Viren inaktivieren das apoptose-fördernde Protein p53 oder veranlassen dessen Abbau. Zu ihnen gehört das Papilloma-Virus, das Gebärmutterhalskrebs verursachen kann. Das Kuhpockenvirus wiederum, von dem ein Abkömmling zum Pockenimpfstoff verwendet wurde, nutzt ein Protein aus, das die ICE-artigen Proteasen hindert, ihr Werk zu tun. Möglicherweise gehen auch manche für den Menschen pathogenen Viren so vor. Bei der Suche nach antiviralen Therapien forscht man inzwischen deshalb nach Mitteln und Verfahren, solche apoptose-hemmenden Moleküle zu inaktivieren.

Die Immunsysteme des Menschen und höherer Tiere treten derartigen Manövern indes auch mit eigenen Strategien entgegen. Eine wichtige stützt sich auf eine Unterklasse der T-Lymphocyten. Diese cytotoxischen T-Zellen oder T-Killerzellen vernichten virusinfizierte Zellen des eigenen Körpers, indem sie sich anlagern und sie mit zwei Sorten von Proteinen bombardieren, die gemeinsam tödlich wirken: Die eine, mit dem treffenden Namen Perforin, baut sich in die Außenmembran der Zielzelle ein, wo sie Poren schafft, durch welche die zweite eindringt – das sind bestimmte Proteasen, die Granzyme heißen (siehe "Wie Killerzellen töten" von John Ding-E Young und Zarvil A. Cohn, Spektrum der Wissenschaft, Januar 1988, Seite 86). Die Granzyme vermögen die ICE-artigen Proteasen zu aktivieren und somit eine Apoptose auszulösen. Gelingt dies nicht, besteht eine andere Abwehrmöglichkeit: Die Granzyme können mit Calcium-Ionen kooperieren, die durch die löchrige Membran eingedrungen sind; dann sterben die infizierten Zellen nekrotisch.

Mitunter erhält gesundes Gewebe in der Umgebung eines Infektionsherdes versehentlich ebenfalls den Selbstmordbefehl, und zwar auf die Weise, wie T-Zellen ihn sich untereinander geben. Das liegt daran, daß außer T-Zellen noch viele andere Körperzellen Fas ausprägen, insbesondere wenn sie selbst, aber auch schon wenn ihre Nachbarn infiziert sind. Sofern T-Killerzellen, die zum Herd vordringen, mit ihrem Fas-Liganden an befallene Zellen andocken, ist dies von Vorteil und unterstützt die übrigen Abwehrmaßnahmen. Zum Nachteil wird das Andocken, wenn es bei den eigentlich am Krankheitsgeschehen unbeteiligten Zellen der Umgebung passiert und sie ebenfalls in den Selbstmord treibt. Mit einem solchen überschießenden Effekt wäre zu erklären, warum bei einer Virus-Hepatitis ausgedehnte Leberschäden eintreten, wenngleich nur relativ wenige Zellen des Organs befallen sind.


Probleme bei AIDS

Wahrscheinlich hängt auch das Immunschwäche-Syndrom AIDS mit einer Fehlsteuerung – in dem Falle übermäßiger Apoptose von Immunzellen – zusammen. Das die Krankheit auslösende Human-Immunschwäche-Virus (HIV) befällt insbesondere die als Helferzellen bekannte Klasse von T-Lymphocyten. Zunächst schwinden sie und in der Folge auch die cytotoxischen T-Zellen, weil diese ihre Apoptose nur unterdrücken können, solange sie Wachstumssignale von den Helferzellen erhalten.

Gegen diesen und andere Erreger, die Zellen befallen, vermag sich der Körper deswegen immer weniger zu wehren. Es ist noch ziemlich rätselhaft, wieso in Gegenwart von HIV weit mehr Helferzellen umkommen, und zwar offenbar großenteils durch Selbstmord, als tatsächlich dieses Virus in sich tragen.

Nach den Ursachen wird intensiv geforscht. So könnte es sein, daß ein Überangebot an Fas herrscht. Wie beschrieben, produzieren T-Zellen normalerweise nach der Aktivierung durch ein Antigen vermehrt Fas, das aber erst nach einigen Tagen – wenn sie todesbereit sind – funktionsfähig wird. Bei HIV-Infizierten ist dies möglicherweise anders. Vielleicht tragen ihre Helferzellen schon vor dem Antigenkontakt viel reaktionsbereites Fas (tatsächlich gibt es Hinweise, daß die Fas-Produktion gesunder Zellen durch bestimmte Produkte der von HIV befallenen Zellen veranlaßt werden könnte). Ihre Selbstmordprogramm liefe dann bereits vor einer Aktivierung durch ein Antigen an, sobald ihr Fas mit dem Liganden auf irgendeiner anderen Immunzelle reagiert, die mit der Bekämpfung des Virus oder anderen Erregern befaßt ist und den Liganden deshalb ausgeprägt hat.

Die eigentlich ruhenden, aber vorzeitig mit funktionsfähigem Fas ausgestatteten T-Zellen könnten ihr Selbstmordprogramm auch eigenständig auslösen, wenn sie selbst vom passenden Antigen aktiviert werden und daraufhin den Fas-Liganden herstellen. Damit würden sie sich töten, bevor sie sich vermehren und so eine Abwehr gegen den Träger des Antigens auf breiter Front in Gang setzen könnten. Schlimmer noch: Diese Zellen trieben sich auch leicht gegenseitig zum Selbstmord (Bild 5, unten).

Andererseits ist denkbar, daß freie Sauerstoffradikale den Selbstmord gesunder T-Zellen auslösen. Diese hochreaktiven Stoffe werden von inflammatorischen (entzündungsfördernden) T-Zellen gebildet, die sich in den befallenen Lymphknoten von HIV-Infizierten ansammeln; sie können die DNA und Membranen in Zellen aller Art schädigen. Ist der Defekt groß, tritt Nekrose ein; ist er eher gering, kann Apoptose die Folge sein.

Für dieses Modell spricht, daß sich mit Molekülen, die freie Radikale zu neutralisieren vermögen, die Apoptose isolierter T-Zellen von AIDS-Erkrankten unterbinden läßt. Therapien, die solche Mechanismen zu nutzen suchen, werden derzeit erforscht.

Autoimmunität

Daß bei AIDS die einen Abwehrzellen normale andere zum Selbstmord veranlassen, könnte an einen Autoimmunprozeß denken lassen – doch strenggenommen liegt in dem Falle keiner vor. Zwar kehrt auch dieser Prozess sich gegen etwas Körpereigenes; um eine regelrechte Autoimmunität aber handelt es sich eigentlich nur dann, wenn der Antigenrezeptor einer Immunzelle spezifische Selbst-Antigene auf gesunden Zellen als Bindungspartner erkennt und dies die Vernichtung aller Strukturen mit dem Antigen auslöst. Bei einer Reihe der betreffenden Krankheiten ist Apoptose gleichwohl mit beteiligt.

Nun haben wir erwähnt, daß autoreaktive, somit potentiell dem Organismus gefährliche Lymphocyten schon bei der Reifung routinemäßig eliminiert werden; aber das stimmt nur bedingt. Hin und wieder gelangen doch Lymphocyten in Umlauf, die auf körpereigene Moleküle reagieren, wenn auch schwach.

Gewöhnlich richten sie kaum, unter Umständen indes schweren Schaden an. Wenn etwa ein solcher Lymphocyt mit seinem Antigen-Rezeptor außerdem eine fremde Struktur gut genug erkennt und bindet, beispielsweise von einem Bakterium oder einem Nahrungsmittel, kann dieser Kontakt ihn ungewöhnlich stark aktivieren: Er vermehrt sich, und von der Immunattacke wird das körpereigene Gewebe gleich mit betroffen.

Normalerweise klingt eine Autoimmunreaktion ab, sobald das fremde Antigen beseitigt ist. Mitunter jedoch überleben autoreaktive Lymphocyten länger, als sie normalerweise sollten, und die Apoptose-Stimulation gesunder Körperzellen hält weiterhin an. Studien an Tieren und am Menschen zufolge scheint dies zumindest bei zwei chronischen Autoimmunkrankheiten der Fall zu sein: beim systemischen Lupus erythematodes und bei der rheumatoiden Arthritis.

Warum aber leben solche ohnehin etwas aus der Art geschlagenen Abwehrzellen auch noch zu lange? Produzieren sie vielleicht Moleküle, die den Fas-Liganden anderer Zellen daran hindern, an ihr Fas anzudocken? Dann würde das Signal zum Selbstmord nichts ausrichten. Eine andere Idee ist, daß die Zellen ihre Fas-Produktion herabsetzen oder die des Apoptose-Inhibitors Bcl-2 steigern; auch das würde sie weniger empfänglich für Befehle machen, ihr Dasein zu beenden.

Erst wenn man einfach noch besser versteht, wie T-Zellen sich am Leben halten und wie sie absterben, läßt sich auch ihr Fehlverhalten gezielt regulieren. Ein Ziel könnte sein, einem Gelenk, das von rheumatoider Arthritis betroffen ist, eine Substanz einzuspritzen, die Fas-Moleküle aktiviert.

Möglicherweise wäre der Fas-Ligand sogar geeignet, außer Kontrolle geratene Zellsysteme heilsam zu beeinflussen. Manche Gewebe – etwa bestimmte Zellen im Hoden, im Auge und vielleicht auch im Gehirn, deren Entzündung fatal wäre – scheinen sich nämlich damit vor Autoimmunangriffen zu schützen. Sie bringen wohl so jede aktivierte Fas-tragende T-Zelle unverzüglich zum Selbstmord, die in ihre Nähe kommt.

Die Taktik würde man gern bei Organverpflanzungen nutzen. Bislang müssen Transplantate in ihren Gewebemerkmalen – genauer: in den Histokompatibilitätsantigenen – solchen des Empfängers möglichst ähneln, damit sie nicht abgestoßen werden. Es wäre ideal, die Zellen des Spenderorgans dagegen mit Fas-Liganden wappnen zu können.


Vergessener Zelltod: Krebs als Folge

Auch Tumorzellen halten sich nicht an die Regel, sich selbst zu zerstören, sobald das eigentlich erforderlich wäre. Außer der Eigenschaft, sich übermäßig zu vermehren, gilt zunehmend als ihr Charakteristikum, daß sie verlernt haben zu sterben (siehe "Wie Krebs entsteht" von Robert A. Weinberg in: Spektrum der Wissenschaft Spezial 5: "Krebsmedizin", Seite 7).

Zellen entarten, indem nach und nach verschiedene Gene mutieren, die Vermehrung und Überleben kontrollieren. Erweist sich eine Mutation als irreparabel, wird eine Zelle sich gewöhnlich töten, so daß sie keine Gefahr mehr darstellt. Bleibt aber die Apoptose aus irgendwelchen Gründen aus, können sich in dieser Zelle oder in ihren Abkömmlingen unter anderem genetische Veränderungen anhäufen, die ungezügelte Vermehrung und auch Metastasierung erlauben, also die Absiedlung einzelner Zellen vom Primärtumor, die sich an anderen Stellen im Körper festsetzen und Tochtergeschwülste bilden.

Zum Teil kennt man die Gründe für derartiges Fehlverhalten bereits. Häufig stellen solche Zellen das Gen für das Protein p53 ruhig, das – wie erwähnt – unter anderem helfen kann, bei einem genetischen Defekt die Selbstmordmaschinerie anzuwerfen. In mehr als der Hälfte der menschlichen soliden Tumoren, darunter solchen der Lunge, des Dickdarms und der Brust, fehlt dieses Protein oder ist abnorm und nicht funktionstüchtig.

Der Umstand, daß normale Zellen sich sogleich umzubringen pflegen, wenn sie die gewohnten Wachstumsfaktoren oder den Kontakt zu den Nachbarn einbüßen, schränkt wohl die Metastasierung ein. Vermutlich kommen viele sich vom Primärtumor absiedelnde Krebszellen nicht weit oder können nicht wachsen und sich vermehren, weil bei ihnen dieser Mechanismus noch greift. Wirklich gefährlich werden jene, die zum Weiterleben und zur unentwegten Teilung die Rückkopplung mit dem ursprünglichen Zellverband nicht mehr benötigen.

In den Ausfall von Sicherungen gegen das Krebsgeschehen scheinen außer p53 weitere Proteine verwickelt zu sein, die an der Regulation der Apoptose mitwirken. Beispielsweise entsteht bei bestimmten Krebsarten, vornehmlich bestimmten Lymphomen, das schon erwähnte apoptose-hemmende Bcl-2 im Übermaß. Auch hat man den Verdacht, daß manche Tumorzellen ihr Fas daran hindern können, Befehle an ihre Selbstmordmaschinerie weiterzugeben; für solche von Melanomen wurde kürzlich sogar nachgewiesen, daß sie den Fas-Liganden bilden und so Immunsignale zur Selbstzerstörung abfangen, indem sie ihrerseits angreifende T-Zellen zur Apoptose zwingen.

Vertrackterweise produzieren auch gewisse gesunde Zellen relativ viel Bcl-2. Vermutlich sind sie in besonderem Maße geschützt, weil ihr Verlust dem Körper schweren Schaden brächte – aber das hat seinen Preis. Wenn sie krebsig entarten, sind aggressive Tumoren und Neubildungen zu erwarten, weil ihnen das Fehlen von Wachstumsfaktoren aus dem Ursprungsgewebe wenig ausmachen dürfte.

Ein Beispiel ist das Melanom, der schwarze Hautkrebs. Die Pigmentzellen der Haut fangen gefährliche Sonnenstrahlung ab und beschatten so die unpigmentierten Hautzellen, die davon geschädigt würden. Es erscheint als sinnvoll, daß die Melanocyten besonders robust sind; doch das viele Bcl-2 läßt seltener Apoptose in Gang kommen, wenn sie selber genetische Defekte davontragen, und ein sich daraus entwickelnder Tumor streut intensiv Metastasen.

Inzwischen beginnt man auch zu verstehen, warum viele bösartige Geschwülste auf Bestrahlungen und Chemotherapeutika nicht ansprechen. Als man noch annahm, Krebszellen müßten dadurch eigentlich nekrotisch werden, waren therapeutische Fehlschläge nicht zu erklären. Wie man jedoch inzwischen weiß, sterben sie, falls die Behandlung anschlägt, meist apoptotisch. Oft geschieht das mittels Aktivierung von p53 – und falls das Protein fehlt oder ihm eine Überproduktion von Bcl-2 entgegensteht, sind die Krebszellen gegen Selbstzerstörung gefeit.

Wissenschaftler untersuchen deshalb Möglichkeiten, solchen Apoptose-Resistenzen gentechnisch zu begegnen. So schleust man in Krebszellen mit defektem p53-Gen ein normales ein in der Hoffnung, daß das Selbstmordprogramm dann wieder ausgelöst werden kann und daß dies auch bei Patienten gelingt. Ferner versucht man, dem Gen für Bcl-2, wenn es hyperaktiv ist, beizukommen, um die übermäßige Produktion des Proteins zu drosseln. Ein anderer Ansatz besteht darin, Krebszellen vor bestimmten Wachstumsfaktoren, auf die sie noch ansprechen, abzuschirmen.


Therapeutische Apoptose-Hemmung

Hingegen geht es bei einem ischämischen, also durch Ausfall der Durchblutung ausgelösten Herzinfarkt oder Schlaganfall gerade darum, möglichst viel Gewebe lebens- und funktionsfähig zu halten. Unmittelbar bei einem solchen Infarkt des Herzens sterben Zellpartien ab, die von dem Gefäßverschluß direkt schwer betroffen sind. Durch den Entzug von Sauerstoff und Nährstoffen werden sie rasch so stark geschädigt, daß sie nekrotisch zugrunde gehen; hinzu kommt, daß die Calcium-Konzentration in den Herzmuskelzellen, die nun nicht mehr aktiv – durch Herauspumpen – herunterreguliert werden kann, schnell bis in toxische Bereiche steigt. Aber in den nächsten Tagen können im Umfeld des ursprünglichen nekrotischen Herdes weitere Zellen tödlich geschädigt werden. Zum einen erliegen viele den freien Radikalen, die beim Abbau des abgestorbenen Gewebes durch hinzugewanderte Entzündungszellen freigesetzt werden; bei massivem Kontakt damit tritt zwar ebenfalls Nekrose ein, bei geringerem jedoch Apoptose. Zum anderen kann eine Behandlung, mit der die Blutversorgung des Herzmuskels normalisiert werden soll, abermals beide Arten des Zelltodes auslösen; denn dann wird das an den Infarktbezirk grenzende Gewebe mit noch mehr freien Radikalen überschwemmt. Bei einem Gehirnschlag scheinen sich ähnliche Prozesse abzuspielen. Auch dabei geht das akute Ereignis mit Nekrose einher. Doch die Entzündung und die aus den absterbenden Zellen austretenden Substanzen, vor allem der Neurotransmitter Glutamat, ziehen schließlich weitere Neuronen in Mitleidenschaft; sie gehen wiederum je nach Situation teils auch apoptotisch zugrunde. Weil beim Erwachsenen weder Nerven- noch Herzmuskelzellen ersetzt werden, ist die Rettung jeder einzelnen wichtig. Deshalb können neue Erkenntnisse über das Sekundärsterben die Behandlung von Herzinfarkt und Schlaganfall wesentlich verbessern. Insbesondere dürften sich Folgeschäden mit Wirkstoffen begrenzen lassen, welche die Produktion freier Radikale unterdrücken beziehungsweise ICE-artige Proteasen hemmen. Auch bei bestimmten fortschreitenden Gehirn- und Nervenleiden sterben wahrscheinlich die meisten Neuronen durch Apoptose ab, so bei der Alzheimer- und der Parkinson-Krankheit, bei Chorea Huntington und bei der amyotrophen Lateralsklerose. Den eigentlichen Mechanismus durchschaut man erst kaum, doch stehen als unmittelbare Ursache für den Zellselbstmord unter anderem freie Radikale im Verdacht sowie zu geringe Mengen an Nervenwachstumsfaktoren und überhöhte Neurotransmitter-Konzentrationen. Einiges spricht dafür, daß sich auch mehrere solcher Fehlsteuerungen überlagern. Versuche mit Tiermodellen dieser Krankheitsbilder lassen annehmen, daß mit Langzeitgaben von Nervenwachstumsfaktoren das Zellsterben zu unterdrücken wäre. Bei vielen Erkrankungen mag eine außer Kontrolle geratene Apoptose mitwirken, auch bei Osteoporose, dem Schwinden von Knochensubstanz, oder bei Retinopathia pigmentosa, einer Netzhautdegeneration mit Gefahr der Erblindung. Weil aber die Forschung über das lange verkannte Phänomen erst am Anfang steht, zeichnen sich erst wenige Möglichkeiten ab, die jeweiligen Fehlsteuerungen zu korrigieren. Gleichwohl engagieren sich bereits viele pharmazeutische und biotechnologische Unternehmen, entwickeln neue Wirkstoffe und prüfen auch bekannte auf spezifische Effekte zur Beeinflussung der Apoptose. Diese Anstrengungen werden um so erfolgreicher sein, je genauer wir den programmierten Zelltod in allen Einzelheiten verstehen.<üh><üh><üh>

Literaturhinweise

- Apoptosis: A Basic Biological Phenomenon with Wide-Ranging Implications in Tissue Kinetics. Von J. F. R. Kerr, A. H. Wyllie und A. R. Currie in: British Journal of Cancer, Band 26, Seiten 239 bis 257, 1972.

– The Fas Death Factor. Von Shigekazu Nagata und Pierre Golstein in: Science, Band 267, Seiten 1449 bis 1456, 10. März 1995.

– Cell Death Mechanisms and the Immune System. Von Pierre Golstein, David M. Ojcius und John D.-E Young in: Immunological Reviews, Band 121, Seiten 29 bis 65, Juni 1991.

– Apoptosis and Programmed Cell Death in Immunity. Von J. J. Cohen, R. C. Duke, V. A. Fadok und K. S. Sellins in: Annual Review of Immunology, Band 10, Seiten 267 bis 293, 1992.

– Regulators of Cell Death. Von Stanley J. Korsmeyer in: Trends in Genetics, Band 11, Heft 3, Seiten 101 bis 105, 10. März 1995.

– Protease Activation during Apoptosis: Death by a Thousand Cuts? Von Seamus J. Martin und Douglas R. Green in: Cell, Band 82, Heft 3, Seiten 349 bis 352, 11. August 1995.

– Melanoma Cell Expression of Fas (Apo-1/CD95) Ligand: Implications for Tumor Immune Escape. Von M. Hahne und anderen in: Science, Band 274, Seiten 1363 bis 1366, 22. November 1996.

– Molekulare Medizin. Was uns der Zelltod lehrt. Von Sten Orrenius in: Die Zukunft der Medizin. Neue Wege zur Gesundheit? Herausgegeben von Gert Kaiser und anderen. Campus, Frankfurt am Main, New York 1996.

– Apoptose im Immunsystem: Mord oder Selbstmord. Von Peter H. Krammer. Robert-Koch-Stiftung e.V., Beiträge und Mitteilungen, Band 20, Seiten 32 bis 43, Mai 1996.

Kasten: Einige Beispiele von vielen für Apoptose beim Menschen

Auge. Die Linse besteht aus toten Zellen, die mit dem durchsichtigen Protein Crystallin gefüllt sind.

Darm. Die Zotten der Darmwand erneuern alle drei bis fünf Tage ihre Zellen von der Basis her. Solche, die bis zur Spitze nachgewandert sind, sterben ab und werden abgestreift.

Haut. Die Zellen der Hornhaut regenerieren sich aus Stammzellen einer tiefen Hautregion. Während sie nach außen vorrücken, lagern sie Keratin ein und sterben ab. Nun bilden sie eine schützende, wasserabweisende Schicht, bis sie – nach insgesamt zwei bis vier Wochen – abschilfern.

Thymus. Die T-Lymphocyten – weiße Blutzellen des Immunsystems – reifen im Thymus. Dort werden sogleich diejenigen aussortiert, die nicht gut funktionieren oder körpereigenes Gewebe angreifen könnten.

Uterus. Bei der Menstruation werden die Zellen der Gebärmutterschleimhaut abgestoßen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1997, Seite 26
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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