Anthropologie: Das Kajak der Aleuten
Die "Baidarka" des Aleutenvolkes im Nordpazifik war an die Erfordernisse der Jagd auf dem offenen Meer optimal angepasst. Ihre raffinierte Konstruktion ist bis heute nicht völlig verstanden.
Als Mitte des achtzehnten Jahrhunderts erstmals russische Schiffe und später sibirische Jäger zu den Aleuteninseln vordrangen, wimmelte die See dort von kleinen flinken Booten mit gespaltenem Bug. Die Bewohner der Inselkette zwischen Kamtschatka und Alaska bauten ihre schnittigen Fahrzeuge, eine Variante des Kajaks der Inuit, aus Treibholz oder Knochen, die sie mit Fasern aus Walfischbarten verzurrten und mit durchscheinenden Häuten von Meeressäugern bespannten. Die leichten Boote waren sehr wendig und äußerst seetauglich. Die Männer paddelten sie mit hoher Geschwindigkeit durch die trügerischen Wasser der stürmischen Inselwelt, wenn sie mit handkatapultierten Wurfpfeilen, Speeren und Harpunen Jagd auf Wale, Seebären, Seelöwen oder Otter machten.
Die fremden Jäger aus Sibirien nannten das geschmeidige, leistungsfähige Kajak "Baidarka". Allerdings wandelten sie es in der Folgezeit nach ihren eigenen Bedürfnissen um. So verschwanden bestimmte Kajakformen völlig, unter anderem auch eine schmale, besonders schnelle Variante mit einem Bug, der aussah wie ein geöffneter Mund. Leider gingen damit auch die Kenntnisse über die Konstruktion der Baidarka und die Funktionen ihrer einzelnen Teile weitgehend verloren. Heutige Forscher, Kanuten und auch die Aleuten selbst verstehen viele der Details nicht mehr genau. Unklar ist beispielsweise, wie schnell diese Kajaks wirklich waren. Und wozu dienten der gegabelte Bug und das seltsam gestutzte Heck? Womöglich hatten die aleutischen Jäger aus ihrer Erfahrung heraus einfach ein Gefühl dafür, wie ein Boot gebaut werden muss, damit es die gewünschten Eigenschaften besitzt. Heutigen Ingenieuren und Mathematikern entziehen sich diese Zusammenhänge jedoch zum Teil.
Nur wenige Baidarkas von früher sind erhalten geblieben. Doch die Leute, die diese Kajaks zu re-konstruieren versuchen, können immerhin auf alte Zeichnungen, Tagebucheinträge und mündliche Überlieferungen zurückgreifen – sowie auf einige Überreste dieser Kajaks. Verschiedene Varianten des ursprünglichen Aleutenbootes wurden nachgebaut, und auch ich lernte auf diese Weise einiges über die komplexen Zusammenhänge von Form und Funktion der Baidarka.
Zwar bleibt manches nach wie vor rätselhaft, und einige Details werden wir wohl nie völlig begreifen. So viel steht jedoch fest: Dieses Kajak war ideal angepasst an die rauen Gewässer und weiten Entfernungen, welche die Aleuten zurücklegten. Insbesondere vereinigte es einige ausgeklügelte Techniken, die den Wasserwiderstand verringerten und die Geschwindigkeit erhöhten.
Die Inselkette der Aleuten erstreckt sich in einem weit nach Süden ragenden Bogen über rund 2400 Kilometer. Hier treffen die Wasser des Pazifischen Ozeans und des Beringmeers zusammen. Das beschert den Inseln oft undurchdringliche Nebel und Stürme, die hart um die Vulkanberge und in den Gezeitenzonen zwischen den Inseln toben. Trotz der eher milden, nur leicht schwankenden Temperaturen – die Aleuten überziehen dieselben Breitengrade wie die britischen Inseln, das Mittel beträgt rund vier Grad – gibt es dort so gut wie keine Bäume: In dem fast unablässigen Wind können sie nicht wachsen.
Vor rund 15000 Jahren, während der letzten Vereisung, ragten die Aleuten viel weiter aus dem Meer, denn die eiszeitlichen Gletscher banden große Mengen Wasser. Auch im Norden, anstelle der heutigen Beringstraße, verband eine 1600 Kilometer breite Landbrücke Amerika und Asien. (Der Däne Vitus J. Bering entdeckte 1741 in russischen Diensten die westlichen Aleuten; mit einem getrennten Schiff derselben Expedition fand Alexei Tschirikow die östlichen Inseln.) Als die Gletscher schmolzen, stieg der Meeresspiegel wieder um rund 90 Meter. Besonders schnell hob er sich in der Zeit vor 12000 bis 8000 Jahren.
Wann die Aleuten die Inseln besiedelten, können Wissenschaftler nicht ganz sicher sagen. Archäologische Funde legen nahe, dass sie vor mindestens 9000 Jahren Anangula vor der Insel Umnak und die Insel Hog in der Unalaska-Bucht erreichten. Wie die Menschen dorthin kamen, wird wohl für immer offen bleiben. Vielleicht waren sie zu Fuß über die Bering-Landbrücke vorgedrungen, oder aber sie waren Seefahrer und kamen mit dem Kajak oder einer anderen Art Boot aus Tierhaut. Funde auf Anangula lassen vermuten, dass sie schon vor 9000 Jahren bestens darauf eingerichtet gewesen sein dürften, Meeressäuger zu jagen.
Schnelligkeit als Erfolgsrezept
Die russischen Händler erkannten sofort, dass die Aleutenkajaks ihren eigenen schwerfälligen, schlecht ausgerüsteten Booten überlegen waren. Sie nannten sämtliche Kajaks einfach "Baidarka", beschlagnahmten sie und schufen bald ein Monopol für neue Konstruktionen. Dabei vereinheitlichten und vergrößerten sie die Aleuten-Boote. Einige Kajaks erhielten eine dritte Sitzöffnung, um auch ungeübte Männer mitnehmen zu können. Schnell sicherten sich die Russen fast den Alleinanspruch auf die Jagd auf Seeotter – für deren Pelze die Chinesen ein Vermögen zahlten. Unter der Schirmherrschaft der Russisch-Amerikanischen Gesellschaft, die 1799 die Verwaltung der Kolonien in Alaska vereinte, schwärmten nun alljährlich Flotten von bis zu 700 Baidarkas feldzugmäßig von den Aleuten und der Insel Kodiak zur Seeotterjagd in die südöstlichen Küstengewässer Alaskas aus. Ganze Populationen wurden eingekreist und abgeschlachtet.
Im frühen 19. Jahrhundert erreichte die Jahresausbeute rund 10 000 Seeotter. Die Art drohte auszusterben. Zwar führten die Verantwortlichen daraufhin einige Schutzbestimmungen ein. Doch diese wurden 1876 – als die Vereinigten Staaten Alaska von Russland kauften – wieder aufgehoben. Die Seeotter-Jagd setzte wieder ein, wenn auch in kleinerem Ausmaß. Erst 1911 wurde sie seitens der amerikanischen Regierung endlich untersagt. Damit verlor aber die Baidarka ihren bis dahin wichtigsten Zweck. Und auch das Interesse an ihrem perfekten Design erlahmte umgehend. Das Volk der Aleuten allerdings baute und benutzte seine Boote weiterhin – zumindest bis in den Zweiten Weltkrieg hinein, in dessen Verlauf die Inseln große strategische Bedeutung erlangten und zwischen den USA und Japan umkämpft waren. Die US-Regierung internierte damals die gesamte Bevölkerung in Südost-Alaska – Teile waren bereits zuvor in japanische Gefangenschaft geraten. Als die Aleuten heimkehren durften, fanden sie nur noch wenige intakte Baidarkas vor. Auch das handwerkliche Wissen um ihre Herstellung war zum großen Teil verloren gegangen.
Ein entscheidender Vorteil der Baidarka war ihre Schnelligkeit. Die Russen hatten dies bei ihren Eroberungsfeldzügen im achtzehnten Jahrhundert, die durchaus nicht immer friedlich verliefen, zu spüren bekommen. Europäische Seefahrer haben die Geschwindigkeiten seinerzeit genau gemessen und in ihren Notizen festgehalten. Ein Aleut konnte mit seinem Kajak gegen die schnellsten Strömungen dieser Meere ankämpfen, auch wenn die Wassergeschwindigkeit sechseinhalb Knoten, also etwa zwölf Kilometer pro Stunde, betrug.
"Wir machten über sechs Knoten, aber ... die Indianer in ihren Robbenhaut-Kanus hielten sehr leicht mit uns mit", notierte James Trevenen, ein Seeoffiziersanwärter an Bord der "Resolution", einem der beiden Schiffe, die im Juni 1778 unter James Cook den Unalga-Pass durchquerten. (Cooks von 1776 bis 1780 durchgeführte dritte Expedition hatte zum Ziel, eine nördliche Durchfahrt zwischen Atlantik und Pazifik zu finden. Mit der "Resolution" und der "Discovery" kreuzte der berühmte britische Kapitän die Beringstraße und drang in nördlicher Richtung bis zum siebzigsten Breitengrad vor.) Ein anderer Seemann hielt 1820 fest, dass die Kajaks ohne weiteres ein Schiff überholen konnten, das siebeneinhalb Knoten machte – und wohl gemerkt: Diese Baidarkas waren schwer mit Kabeljau beladen! (Bei Testfahrten mit nachgebauten Baidarkas durch Sportler von olympischem Rang wurden Geschwindigkeiten von bis zu neun Knoten erreicht – allerdings nur auf Kurzstrecken und in ruhigen Gewässern.)
Was letztlich für die beachtliche Schnelligkeit ausschlaggebend war, werden wir kaum noch herausfinden können: War es die Konstruktion der Baidarkas, die Vertrautheit der Aleuten mit den Meeresströmungen oder aber die körperliche Überlegenheit der Fahrer? Diesen Jägern auf dem offenen Meer wurde eine besondere Armkraft nachgesagt. Der Anthropologe William S. Laughlin von der Universität von Connecticut in Storrs erinnert sich, wie der Jäger Steve Besjesekow von der Insel Umnak ein Dynamometer (einen Kraftmesser) so stark presste, dass es kaputt ging.
Von dieser erstaunlichen Kraft zeugen auch Knochenfunde. Laughlin beschreibt den 1950 gefundenen Oberarmknochen eines aleutischen Jägers. Der Knochen zeige die ausgeprägtesten Muskelansätze, die je an einem Menschenarm festgestellt wurden. "Wenn Menschen derart viel paddeln", so Laughlin, "sollte sich dies am Skelett widerspiegeln, und das tut es auch." Die ausgeprägten und stark verlängerten Riefen an den Armknochen aleutischer Kajaker belegen, dass diese Männer mehr Muskelmasse besaßen als andere. Die Oberarmknochen heutiger Russen wirkten im Vergleich dazu "wie Pfeifenstiele" (Laughlin). Eine so ausgeprägte Muskulatur lässt zudem auf extreme Ausdauer schließen: Teile der Muskeln konnten aktiv sein, während andere ruhten – obwohl der Kanute nicht langsamer fuhr.
Körperliches Stehvermögen erfordert natürlich auch ein entsprechend leistungsfähiges Atmungs- und Kreislaufsystem. Fest steht, dass die Aleuten trainiert genug waren, um mit ihren Booten enorme Entfernungen beachtlich schnell zurückzulegen. Doch bisweilen muteten sie sich auch zu viel zu. Iwan Jewsejewitsch Wenjaminow – seines Zeichens Missionar und einer der ersten Ethnologen in Alaska – beschrieb im frühen neunzehnten Jahrhundert das Schicksal eines aleutischen Kuriers. Der Mann war in 27 Stunden fast 220 Kilometer auf offenem Meer gefahren. Bald nach seiner Ankunft erlag er einer Lungenblutung.
Erstaunliche Biegsamkeit
Damit die Aleuten ihre Kraft und Ausdauer optimal nutzen konnten, musste das Kajak eine besondere Form haben. Außerdem musste es hochelastisch sein, um den Wogen standzuhalten. Die Biegsamkeit der Baidarka faszinierte die Russen mindestens ebenso wie ihre Schnelligkeit. "Anfangs mochte ich diese ledernen Kanus, die sich im Wasser biegen, nicht", schrieb der russische Seekapitän Juri Lisjanski, nachdem er 1805 fast 500 Kilometer in einer Baidarka zurückgelegt hatte. "Doch als ich mich daran gewöhnt hatte, fand ich es eher angenehm."
Zu einem guten Teil beruhte die Biegsamkeit der frühen Baidarkas auf Lagerpfannen aus Walross-Elfenbein, die das Bootsgerüst wie künstliche Gelenke zusammenhielten. Die Russen nannten diese Verbindungen "Kostotschki". Vor einigen Jahren hatten Freunde und ich Gelegenheit, eine alte Baidarka-Sammlung näher zu untersuchen, die 1826 auf Unalaska zusammengetragen worden war. Wir machten Röntgenaufnahmen und fanden die elfenbeinernen Gelenklager in zahlreichen Verbindungsstellen des Bootsgerüstes. Auch entdeckten wir einen dünnen Streifen aus Walfischbarte, der zwischen Kiel und Spanten über die gesamte Länge des Boots verlief. Sein Zweck allerdings blieb unersichtlich.
Die meisten der alten Baidarkas – und auch viele der jüngeren – besaßen segmentierte, dreiteilige Kiele. Die Abschnitte waren so miteinander verbunden, dass sich der Kiel frei dehnen und zusammenziehen konnte. Dadurch konnte sich das Kajak im Ganzen ungehindert biegen; nur die Steifigkeit des Bootsrandes schränkte diese Bewegungsfreiheit ein. Dies kommt einer völligen Abkehr vom herkömmlichen Boot gleich, bei dem der Kiel natürlich aus einem Stück besteht und somit das feste Rückgrat des Bootsrumpfes bildet. Das Aleutenkajak hingegen war biegsam wie ein Ski – und nicht steif wie ein Kasten.
Plausibel – wenn auch nicht unumstritten – erscheint, dass die Flexibilität der Baidarka unter bestimmten Umständen den Wasserwiderstand herabsetzen konnte. Oder anders formuliert: dass die Energie, die zum Wegdrücken entgegenkommender Wellen erforderlich ist, durch die Biegsamkeit des Bootes vermindert werden konnte. Anschaulich lässt sich dies nachvollziehen, indem man sich vorstellt, wie die Wellenenergie elastisch durch das Skelett eines Bootes hindurchfließt. Ein flexibles Kajak, das sich über eine wogende Oberfläche bewegt, schwingt in Übereinstimmung mit der Periode der Wellen. Der einfachste Schwingungsmodus ist dabei die vertikale Oszillation mit zwei Schwingungsknoten: Beide Kajakenden werden nach oben abgelenkt, während die Mitte nach unten schwingt – und umgekehrt. (Die beiden Punkte dazwischen, die selbst nicht in Bewegung sind, heißen Schwingungsknoten.) Nun ist die Schwingung eines Bootes ganz allgemein stark von der Massenverteilung im Innenraum abhängig und hat andererseits einen großen Effekt auf die Wechselwirkung zwischen Boot und auftreffenden Wellen. Schwingungen außerhalb der Phase haben eine ähnliche Stoß- und Bremswirkung wie Bodenwellen oder Verkehrsberuhigungshügel auf der Straße.
Anpassung der Bootsschwingung
Weil der Kanute natürlich nicht die Wellenperiode des Ozeans beeinflussen kann, liegt seine bestmögliche Strategie darin, die Schwingung des Bootes optimal an diese anzupassen. Tatsächlich berichteten Beobachter von Berings Expedi-tion von 1741, dass Aleutenkajaks Ballaststeine vorn und achtern im Boot mitführten. So geübte Paddler wie die Aleuten dürften indes keine Zusatzgewichte zur Erhöhung der Seitenstabilität benötigt haben. Es ist daher anzunehmen, dass der Ballast half, die Periode der Bootsschwingung den Wellen anzupassen. Mit anderen Worten: Indem der Kanute die Lage der Steine variierte, konnte er das "Hüpfen" seines Bootes auf den Wellen verringern. Er passte dessen wellenförmige Bewegung der Frequenz der Wasserwellen an und sparte somit eigene Kräfte. Experimentell ist diese Hypothese allerdings bislang nicht überprüft worden.
Ob die elastische Haut der Baidarka ihre Geschwindigkeit steigerte, ist noch schwieriger zu entscheiden. Tierhaut besitzt eine nicht-lineare Elastizität, ganz anders als jedes andere Material, das für Bootsoberflächen verwendet wird. Es bleibt Vermutung, ob eine nachgiebige Haut die Reibung abschwächen kann, indem sie einen Teil der typischen Grenzflächen-Verwirbelungen bei turbulenter Strömung dämpft. Die meisten Untersuchungen hierzu betrafen U-Boote und prüften, ob eine nachgiebige Oberfläche den Übergang von laminarer (gleichmäßiger) zu turbulenter Strömung hinauszuzögern vermag. Die Effekte waren allerdings bestenfalls gering. Bei der Baidarka kommen aber auch noch ganz andere Aspekte zum Tragen. Beispielsweise dürfte die elastische Außenhaut das geräuschlose Anpirschen begünstigt haben.
Genauso gut aber könnten die Aleuten mit sämtlichen Maßnahmen, die der Erhöhung der Flexibilität ihrer Boote dienten, auch nur einem rein mechanischen Problem begegnet sein: ihre Kajaks vor dem Auseinanderbrechen in wilder See zu bewahren: Bei einer elastischen Konstruktion können punktuell entstehende Spannungen über das gesamte Boot abfließen. Auf diese Weise wurden die außerordentlich leichten Materialien dieser Fahrzeuge nicht überstrapaziert.
Einmalig für Kajaks war an der Baidarka auch der gegabelte Bug. Bei den frühen Bootsformen sah dies aus wie ein weit geöffneter Mund. Diese Form ist nur in Bildern aus dem achtzehnten Jahrhundert dokumentiert, aus der Zeit der ersten Kontakte mit fremden Seefahrern. Auf einer um 1790 entstandenen Zeichnung ist vom Bug nur der obere Teil der Gabel zu erkennen; der untere verschwindet im Wasser. Die Skizze stammt von James Shields, einem englischen Schiffsbauer, der für die Russen arbeitete. Der "Mundwinkel" des Kajaks lag genau auf Höhe der Wasseroberfläche. Später wurden Boote mit schmalerem Spalt gebaut, und der Bug krümmte sich nach oben. Warum der Bug gabelförmig geteilt war, dazu kursieren zahlreiche Hypothesen. Eine besagt etwa, es handle sich schlicht um eine symbolische Darstellung eines Seeotters. Eine andere lautet, dass die gegabelte Spitze das Boot auf Beutezügen noch leiser gemacht habe.
Über bestimmte Funktionen herrscht aber auch Einigkeit. Der untere Bugteil schnitt wie ein Messer glatt durch das Wasser und verminderte dadurch Verwirbelungen. Der obere Teil sorgte ähnlich wie ein Wasserski für dynamischen Auftrieb; er verhinderte, dass das Kajak mit der Spitze unter Wasser geriet.
In gewissen Fällen kann ein hervorstehender unterer Bug auch phasenauslöschende Wirkungen haben – die Idee hinter den knolligen Bugnasen an manchen heutigen Öltankern. Einfach ausgedrückt, erzeugt ein bewegtes Objekt, das von oben auf eine Oberfläche drückt, eine Welle, die mit einem Wellenberg beginnt, während ein bewegtes Objekt, das von unten gegen die Oberfläche wirkt, eine Welle mit Wellental hervorruft. Am günstigsten ist es, wenn beide Wellensysteme einander auslöschen. Für Öltanker, die mit konstanter Geschwindigkeit fahren, liegt der Vorteil auf der Hand: Sie sparen Treibstoff. Für ein Kajak ist der Nutzen weniger offensichtlich.
Vielleicht war der eigentliche Sinn des vorragenden unteren Bugs aber auch, den Rumpf des Bootes zu verlängern und ihm so unten schlankere Proportionen zu geben. Auch das verbessert die Fahrteigenschaften. Die Fahrtgeschwindigkeit eines Bootes ist proportional zur Quadratwurzel der Länge seiner Wasserlinie (der Linie, an der sein Rumpf die Wasseroberfläche schneidet). Der Wellen verursachende Widerstand wächst mit der vierten Potenz des Quotienten aus größter Schiffsbreite und -länge. Der verlängerte untere Bug vergrößerte die Länge der Wasserlinie und führte somit zu einer Erhöhung der Fahrtgeschwindigkeit. Andererseits weist ein sehr schlanker Rumpf meist schlechte Fahrteigenschaften bei Wellengang auf. Unter Umständen sollte der obere Bug der Baidarka gerade dies ausgleichen.
Bei all seinen Vorteilen mutet es seltsam an, dass das alte Aleutenkajak nach Ankunft der Russen so schnell verschwand. Fühlten sich die neuen Siedler durch diese Hochgeschwindigkeitsboote bedroht? Bei ihrer Ankunft hatten sie einige blutige Gemetzel mit den gut gerüsteten Aleutenbewohnern durchzustehen. Oder verfing sich die Gabel am Bug zu häufig in den Tang-Feldern, in denen die Seeotter lebten? Als es Brauch wurde, Meerestiere mit riesigen Flotten einzuzingeln, musste der einzelne Jäger seiner Beute nicht mehr so rasch hinterherjagen. Die schmalen Kajaks mit dem gegabelten Bug – für Geschwindigkeit und Geräuschlosigkeit, aber nicht für große Lasten entwickelt – waren jetzt nicht länger von Nutzen.
Auch das breite, gestutzte Heck war für die Baidarka typisch. Diese Form wurde bei den späteren Modellen übernommen. Hier ist der Zweck offensichtlicher: Wenn ein Kajak durch das Wasser schneidet, wird die Wasseroberfläche vom Bug zerteilt, vom Rumpf verdrängt und schließlich hinter dem Boot wieder ins Gleichgewicht gebracht – wobei sich die vom Paddler aufgewandte Energie im Kielwasser verteilt. Die Strecke, die das Wasser braucht, um in seinen schwerkraftbedingten Gleichgewichtszustand zurückzufinden, ist die Wellenlänge der Eigenschwingung einer Oberflächenwelle, die genau mit der Geschwindigkeit des Bootes wandert. Bei einer bestimmten Geschwindigkeit erzeugt das Kajak eine Welle, die seiner eigenen Länge entspricht. Unterhalb dieser Grenzgeschwindigkeit fließt das Wasser glatt am Rumpf entlang ins Gleichgewicht zurück, wobei der Weg des geringsten Widerstandes durch ein spitz auslaufendes Heck definiert ist. Bei höherer Fahrtgeschwindigkeit dagegen findet das verdrängte Wasser erst hinter dem Kajak ins Gleichgewicht zurück. Dadurch entsteht ein Sog, der das Boot nach unten zieht – umso stärker, je schneller es fährt.
Um diesen ungewünschten Effekt auszuschalten, muss der hintere Teil eines Hochgeschwindigkeitskajaks eine spezielle Form aufweisen: Der Längsschnitt sollte einer Kurve von der Länge einer Welle ähneln, die mit der Fahrtgeschwindigkeit wandert. Auch sollte der hintere Teil "sehr abrupt" abbrechen – um Kapitän Cooks Beschreibung des Baidarkahecks zu zitieren. Moderne schnelle Motor- und Segelboote weisen diese Heckform fast immer auf. Bei Kajaks findet sie sich dagegen selten; Baidarkas bilden hier die Ausnahme.
Was den aleutischen Jägern durch den Kopf ging, als sie ihre Baidarka im Laufe der Jahrtausende immer besser durchgestalteten, können wir nicht wissen. Dennoch bleibt dieser Bootstyp ohne Frage ein Höhepunkt im Kajak-Design. Die Aleuten entwickelten die Baidarka in exakter Anlehnung an die Gesetze der Hydrodynamik. Jedes Detail von Form und Material war darauf abgestimmt. Das eigentlich Erstaunliche am Aleutenkajak aber ist, dass es den Jägern gelang, für eine sehr breite Palette von Anforderungen eine derart überzeugende Gesamtlösung zu finden. Wenjaminows Kommentar von 1840 gilt damit noch heute: "Mir scheint, die Baidarka der Aleuten ist in ihrer Art so perfekt, dass selbst ein Mathematiker nur sehr wenig, wenn überhaupt etwas, hinzufügen könnte, wollte er ihre Seetüchtigkeit noch weiter verbessern.
Literaturhinweise
Faszination Baidarka. Geschichte, Entwicklung und Wiedergeburt des Aleuten-Kajaks. Von George B. Dyson. Hannover 1989.
The Aleutian Kayak. Origins, Construction, and Use of the Traditional Seagoing Baidarka. Von Wolfgang Brinck. Ragged Mountain Press, Camden, Me. 1995.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 2000, Seite 76
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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