Die Beurteilung von Strahlenrisiken
Radioaktiver Zerfall natürlich vorkommender Nuklide, Fallout, der von Atombomben und der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl stammt, kosmische Höhenstrahlung sowie ihre Folgeprodukte und vieles mehr setzen unseren Körper alltäglich ionisierenden Teilchen und Photonen aus. Um so wichtiger ist es, den Menschen vor unnötigen Expositionen zu schützen. Das ist das zentrale Anliegen des Strahlenschutzes und der entsprechenden Bestimmungen. Die darin festgelegten Grenzwerte – die möglichst niemals auszuschöpfen sind – werden immer wieder aufgrund neuerer zellbiologischer und epidemiologischer Untersuchungen überarbeitet.
Ionisierende Strahlen, seien es elektromagnetische Wellen oder geladene Teilchen, sind in unserer Umgebung allgegenwärtig. Dringen sie in das Gewebe ein, können wichtige Moleküle, insbesondere die Erbsubstanz, beschädigt werden. Dagegen hat der Körper Reparatur- und Anpassungsmechanismen parat, die aber versagen können, etwa wenn die Strahlungsintensität zu hoch ist. Risiken richtig einzuschätzen und durch entsprechende Empfehlungen weitgehend zu vermeiden ist die Aufgabe des Strahlenschutzes.
Mikrodosimetrie
Heute weiß man recht genau, wie Photonen und schnelle Ionen ihre Energie übertragen und die Erbsubstanz (Desoxyribonukleinsäure, DNA) schädigen: In Biomolekülen ionisieren sie gebundene Atome und spalten Zellwasser zu hochreaktiven Wasser-Ionen und -Radikalen, welche ihrerseits die DNA angreifen; diese Wirkung beschränkt sich auf die unmittelbare Umgebung des Partikelpfades. Der sogenannte Primärschaden wird dann entweder fehlerfrei repariert oder bleibt als Dauerschaden im genetischen Informationsspeicher der Zellen.
Verschiedene Strahlenarten wirken unterschiedlich zerstörerisch. Weil Alphateilchen (die Kerne von Helium-4-Atomen) besonders dicht ionisieren, erzeugen sie vermehrt Doppelstrangbrüche (die DNA besteht aus zwei komplementären Ketten, die sich als Doppelhelix umeinander winden). Während es für Einzelstrangbrüche einfache und effektive Reparaturmechanismen gibt, welche die Komplementarität beider Stränge und die damit gegebene Redundanz der Erbinformation nutzen, verfügt die Zelle beim Bruch beider Ketten nur über komplizierte und fehlerbehaftete Reparaturpfade. Darum ist Alphastrahlung biologisch viel wirksamer als Beta- (Elektronen-) oder Gamma-/Röntgenstrahlung (hochenergetische elektromagnetische Wellen). Zusätzlich zur reinen Energiedosis, also der auf Materie übertragenen Energie in Gray (ein Gray entspricht einem Joule pro Kilogramm), gibt man darum als Maß für das Risiko die sogenannte Äquivalentdosis (in Sievert) an, die noch einen (dimensionslosen) Faktor der biologischen Wirksamkeit enthält; dieser ist 1 für Elektronen und Gammaquanten, dagegen 20 für Alphateilchen.
Anders als bei chemischen Schadstoffen gibt es bei ionisierender Strahlung auf der mikroskopischen Ebene der Zellen keine geringen Dosen (Bild 1): Schon der Durchgang eines einzigen Elektrons durch den Zellkern hinterläßt dort innerhalb von Mikrosekunden eine auf dessen Volumen gemittelte Dosis von etwa 2 Milligray, ein Alphateilchen sogar eine von 300 Milligray. Angaben zur Gesamtbelastung eines Organismus wie "1 Milligray Elektronenstrahlung pro Jahr" bedeuten deshalb auf zellulärer Ebene, daß durchschnittlich nur jeder zweite Zellkern in diesem Jahr davon betroffen ist, dann allerdings mit der genannten hohen Dosis.
Auswirkung zellulärer Strahleneffekte auf den Gesamtorganismus
Nicht oder falsch reparierte Partien in der DNA beeinträchtigen je nach Entwicklungsstadium der Zelle deren Ausgestaltung (Differenzierung), ihre Funktion oder weitere Teilung. Insbesondere embryonale Zellen und Stammzellen (nicht differenzierte Zellen, die sich im Prinzip unbegrenzt oft teilen können) nutzen in ihrer weiteren Entwicklung sehr viele Anteile der Erbsubstanz und sind dementsprechend strahlenempfindlich, desgleichen solche Zellen, die sich während der Exposition vermehren, weil in dieser Phase nämlich die Redundanz der Erbinformation nicht vollständig erhalten wird.
Diese Schäden schlagen mitunter erst ab bestimmten Schwellenwerten auf den Gesamtorganismus durch. Mitunter genügt aber auch schon ein kleiner Fehler in der DNA einer einzigen Stammzelle, um einen krankhaften Prozeß in Gang zu setzen.
Der Schwellenwert für verspätete Teilung, Wanderung und Differenzierung von Zellen bei der Großhirnbildung des menschlichen Embryos beträgt etwa 0,1 Gray; ab dieser Dosis haben sich bei einem Teil der in Hiroshima und Nagasaki im Mutterleib bestrahlten Kinder Entwicklungsdefekte gezeigt.
Die Teilungsfähigkeit geht je nach Strahlenart und Zelltyp bei unterschiedlichen Dosiswerten verloren. Auf ein Organ bezogen findet man auch hier einen Schwellenwert, weil sich selbst bei Ausfall der Mehrheit der Stammzellen die Regenerierung in vielen Fällen noch aufrechterhalten läßt. Besonders gefährdet sind sich schnell erneuernde Populationen wie die weißen Blutkörperchen des Immunsystems oder das Dünndarmepithel, weil schon eine zeitweilige Blockade der Vermehrung deren Funktion zusammenbrechen lassen kann; bei etwa vier Gray kann der Tod innerhalb einiger Wochen eintreten.
Erst ab einem sehr hohen Schwellenwert von Dutzenden von Gray werden Zellen so umfassend zerstört, daß der sofortige Tod eintritt, weil Körperfunktionen akut ausfallen und das Zentralnervensystem versagt.
Dagegen wirken sich subtilere Veränderungen der Erbsubstanz, insbesondere von Bereichen für die Regulation des Zellwachstums, noch Jahrzehnte später oder sogar in einer folgenden Generation aus, indem sie beispielsweise Krebs verursachen. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist zwar äußerst gering, doch reicht – wie wir heute aus der Molekularbiologie wissen – theoretisch schon die Schädigung nur einer Zelle aus. Darum gibt es nach heutiger Lehrmeinung keinen Schwellenwert für die Krebsauslösung, und vieles spricht dafür, daß die Anzahl der kritischen strahleninduzierten Einzelereignisse proportional der Dosis ansteigt. Da bis zur vollständigen Entartung zur Krebszelle meist mehrere Veränderungen in der DNA erforderlich sind – Ausnahmen sind wahrscheinlich einige Leukämien –, ergeben sich jedoch bei niedrigen Dosen meist Jahrzehnte lange Latenzzeiten zwischen Bestrahlung und Geschwulstbildung.
Daß ein linearer Zusammenhang nicht immer gegeben ist, zeigen auch Bakterienzellen, die nach sublethalen, also noch nicht tödlichen Strahlendosen sogar resistenter gegenüber nachfolgenden Expositionen werden können. Seit wenigen Jahren weiß man, daß auch menschliche Lymphozyten unter gewissen Umständen zu einer solchen Adaptation fähig sind: Nach einer einmaligen Bestrahlung mit nur zehn Millisievert sind viele Zellkulturen strahlenunempfindlicher, sofern die nächste Bestrahlung erst in einigen Stunden Abstand erfolgt. (Ähnliche Effekte hat auch Bleomycin, ein Zytostatikum, das aggressive Radikale in der Nähe der DNA produziert.) Anpassungsmechanismen beeinflussen darum sicherlich die Dosis-Wirkungs-Beziehungen für strahleninduzierten Krebs, aber auch den Erfolg fraktionierter, also in Serie verabreichter Strahlentherapien.
Ein weiteres Beispiel für den Einfluß der Umgebung auf die Dosis-Wirkungs-Beziehung ist die Rolle von Wachstumsfaktoren. So wurden in einem klassischen Versuch Ende der siebziger Jahre Mäuse bestrahlt und anschließend in mehr oder weniger keimarmer Umgebung gehalten. Je stärker das Immunsystem beansprucht war, somit die entsprechenden Stammzellen im Knochenmark zur Bildung weißer Blutkörperchen stimuliert wurden, desto häufiger entwickelten sich Leukämien; bei keimfreier Haltung erkrankte nur etwa ein Hundertstel der Tiere, ohne besondere Hygienemaßnahmen aber fast ein Drittel.
Zwar werden unsere Kenntnisse über die Abläufe auf Zellebene immer detaillierter, trotzdem lassen sich aus den Experimenten der Molekularbiologie, aus Zellkultur- und Tierexperimenten alleine keine verläßlichen Angaben zum Risiko, an strahleninduziertem Krebs zu erkranken, ableiten, denn der Unterschied dieser Systeme zum Menschen ist zu groß.
Quantitative Abschätzung des Strahlenrisikos
Der Strahlenschutz als Forschungsgebiet und als Institution verwendet für die Formulierung quantitativer Schadenserwartungen des weiteren vor allem Erfahrungen mit strahlenexponierten Personen. Weltweit richtungsweisend ist dabei die International Commission on Radiological Protection (ICRP). Entsprechend ihrer Philosophie, daß es keine prinzipiell unschädlichen, sondern nur im Einzelfall akzeptable Strahlendosen geben kann, erarbeitet sie Empfehlungen, die wieder in nationale Strahlenschutzverordnungen eingearbeitet werden.
Ihre aktuellen Angaben, veröffentlicht 1991, berücksichtigen die Auswertungen der bis Ende der achtziger Jahre nachgeführten Datenerhebung über die Bombenopfer von Hiroshima und Nagasaki; im Vergleich zu den Empfehlungen von 1977 schätzt die Kommission jetzt das Risiko für strahleninduzierten Krebs wesentlich höher ein (Bild 3). Zur Neubewertung der Risken zählt auch die Annahme, daß Kinder und Heranwachsende deutlich strahlenempfindlicher sind. Auch die Gefahr genetischer Störungen in den nächsten Generationen sucht man zu quantifizieren. Aus den Risiken ergeben sich Faktoren zur Berechnung einer effektiven Dosis, welche die Strahlenempfindlichkeit einzelner Organe gewichten (Bild 4).
Ein Schutzkonzept, das Dosisgrenzwerte angibt, berücksichtigt aber auch sozio-ökonomische Faktoren. So mag es verwundern, daß die zusätzliche effektive jährliche Strahlendosis aus künstlichen Quellen, der die Normalbevölkerung ausgesetzt sein darf, nur 1 Millisievert beträgt (laut Strahlenschutzbericht 1993 beträgt die mittlere effektive Dosis des Durchschnittsbürgers aus natürlichen Quellen, medizinischer Diagnostik und dem Innenraumschadstoff Radon bereits etwa 4 Millisievert pro Jahr!), Beschäftigten etwa in kerntechnischen Anlagen aber 20 Millisievert zugemutet werden – wie auch bei chemischen Schadstoffen akzeptiert man für die Arbeitswelt höhere Belastungen als Berufsrisiko.
Die epidemiologische Datenbasis
Risikoabschätzungen für strahleninduzierten Krebs und andere strahlenbedingte Krankheiten ermittelt man hauptsächlich durch die Epidemiologie, also durch Erfassen und Bewerten von Gesundheitsrisiken in Personengruppen mit bekannten Strahlenexpositionen. Das betrifft Menschen, die beispielsweise aus Unkenntnis der Gefährdung am Arbeitsplatz, in der Strahlentherapie oder durch Atombombeneinsatz Strahlung ausgesetzt waren (Bild 2). Allerdings handelt es sich meist um relativ kleine Gruppen, die recht hohe Dosen erlitten haben. Von den gewonnenen Daten muß man deshalb anhand von rechnerischen Modellen, den Dosis-Wirkungs-Beziehungen, auf das Risiko großer Gruppen mit eher geringer Belastung schließen.
Prinzipiell unterscheidet man absolute und relative Risikomodelle: Während bei ersteren die Krankheit allein Folge der Strahlenexposition ist und unabhängig vom Spontanrisiko auftritt, nimmt man bei relativen Modellen an, daß die bereits ohne Strahlung vorhandenen Krebsrisiken um einen dosisabhängigen Faktor erhöht werden.
Allerdings ist der Zeitbedarf epidemiologischer Studien für Spätfolgen sehr hoch. So wurden bis heute über die Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki 45 Jahre lang Daten gesammelt. Von den damals – beim Abwurf der beiden Atombomben im August 1945 – unter zehn Jahre alten Personen leben noch 85 Prozent. Fragen etwa nach der zusätzlichen Gefährdung, die im Kindesalter bestrahlte Personen in ihren späten, mit einem hohen spontanen Krebsrisiko belasteten Lebensabschnitten haben, bedürfen zur Klärung weiterer 20 bis 40 Jahre.
Zudem erfassen epidemiologische Studien mit vernünftigem Aufwand lediglich Risiken von mindestens einem Promille, also beispielsweise einem Krebsfall auf tausend Personen. Die Gesamtbevölkerung in einer Industriegesellschaft will man jedoch oft schon vor Kleinstrisiken von einem Fall in einer Million schützen. Deshalb ist es beispielsweise nur schwer möglich, das Krebsrisiko durch das in Innenräumen vorkommende radioaktive Gas Radon zu bestimmen, wenn in diesen Räumen geraucht wird. Das Lungenkrebsrisiko für Raucher liegt bei 6 bis 8 Prozent je nach Beginn und Dauer des Rauchens, Anzahl der Zigaretten pro Tag und dergleichen. Die Risikoerhöhung durch Radon (und auch durch Passivrauchen) beträgt nach theoretischen Überlegungen bis zu einem Zehntel davon. Obwohl das theoretisch noch epidemiologisch bestimmbar ist, überdeckt der Störfaktor Rauchen das Radonrisiko völlig, und es bedarf zusätzlicher Annahmen über das Zusammenwirken beider Faktoren, die zum Teil am Tier oder in der Zellkultur gewonnen werden. Zusätzliche Probleme ergeben sich durch unterschiedliche Radon-Expositionsbedingungen in Bergwerken und Wohnräumen, die für die Umrechnung eine komplexe Lungendosimetrie erfordern.
Zu den wichtigsten Ergebnissen der Studie über das Risiko Überlebender beider Atombombeneinsätze zählt, daß Leukämie sehr unmittelbar von hohen Strahlendosen verursacht wird, denn die Sterberate stieg schnell an, war in den fünfziger Jahren am größten und ist heute praktisch null. Man legt allen Abschätzungen über Leukämierisiken darum ein absolutes Modell zugrunde, das diesen Ablauf gut wiedergibt (Bild 5 a).
Dieselben Statistiken zeigen aber auch, daß die Krebsrisiken für solide Tumoren etwa der Lunge oder der weiblichen Brust sich verzögert entwickeln und derartige Krebstodesfälle im letzten Jahrzehnt deutlich zugenommen haben (Bild 5 b). Das stimmt mit den Aussagen relativer Modelle überein. So prognostiziert man zum Beispiel das Risiko für strahleninduzierten Lungenkrebs, indem man altersabhängige spontane beziehungsweise zigarettenabhängige Lungenkrebsraten etwa für Europa in die Statistiken zu Hiroshima und Nagasaki mit einrechnet (Bild 6). Weil derartige Modelle ein Risiko bis zum Lebensende annehmen, werden die Atombomben auch in den nächsten 40 Jahren weitere Krebsopfer fordern.
Zudem lassen die bis heute erhältlichen Daten befürchten, daß die Strahlenempfindlichkeit im Kindesalter pro Dosiseinheit deutlich höher sein könnte als im Alter von 50 Jahren, neuesten Schätzungen nach maximal um das Sechsfache. Diese Annahme beruht aber auf einer sehr kleinen Anzahl von Krebstoten in einer Altersgruppe, deren normales Krebsrisiko bis zum Jahre l985 noch recht klein war.
Die Krebsgefährdung infolge der Alphastrahlung des Radons läßt sich aber weder durch ein absolutes noch durch ein relatives Modell genau simulieren. Das Lungenkrebs-Modell der amerikanischen Akademie der Wissenschaften prognostiziert vielmehr ein relatives Lungenkrebsrisiko, das aber sowohl mit zunehmendem zeitlichem Abstand zur Strahlenexposition als auch mit höherem Lebensalter abnimmt. Die epidemiologische Datenbasis bilden hier immerhin Zehntausende von Bergwerkarbeitern (das radioaktive Edelgas entweicht aus uranhaltigen Grubenwänden und Erzen und belastet die Atemluft).
Untersuchungen zu chronischen Strahlendosen
Seit dem Ende des kalten Krieges öffnet sich der Blick auf eine weitere Gruppe strahlenbelasteter Menschen: Ende der vierziger Jahre nahm die Wiederaufbereitungsanlage Majak bei Tscheljabinsk im Südural (Russische Förderation) überhastet ihre Produktion von waffenfähigem Plutonium auf; schon ein Jahr später wurde die erste Bombe gezündet. Der Strahlenschutz war dementsprechend katastrophal. So wurden mehrere tausend Arbeiter, die mit der Erbrütung und Abtrennung des Plutoniums aus dem Reaktorbrennmaterial beschäftigt waren, mit 1 Gray pro Jahr und mehr belastet; etwa 28000 Anwohner des Flusses Tetscha erhielten Strahlendosen bis zu 3 Gray, weil man stark radioaktive Spaltstoffe der Anlage in den Fluß leitete (dieser Abfall lagerte sich zum einen im Ufersediment ab, geriet zum anderen aber auch über das Trinkwasser und die Nahrung in den Körper, wo sich beispielsweise Strontium-90 in den Knochen anreicherte). Einige zehntausend Menschen wurden mit etwa 0,02 Gray verseucht, als 1957 ein Tank mit hochradioaktiven Abfällen explodierte; zudem verfrachtete 1967 Wind Nuklide aus einem offen liegenden stark radioaktiven Teich über Land.
Hilfeleistung für die direkt Betroffenen ist vordringlich; außerdem aber müssen Strahlenbiologen und -mediziner auch aus diesen Katastrophen lernen. Die langdauernden und chronischen Strahleneinwirkungen im Südural entsprechen eher der Situation am Arbeitsplatz als den extrem kurzen Strahlenblitzen der Atombomben von Hiroshima und Nagasaki. Ein erhöhtes Lungenkrebsrisiko bei den Majak-Arbeitern und strahlenbedingte Leukämiefälle entlang des Flusses Tetscha sind bereits jetzt offensichtlich. Die Neubewertung der Daten russischer Ärzte und ergänzende Untersuchungen chronischer Gesundheitsschäden werden jedoch wieder Jahrzehnte dauern.
Extrapoliert man von Daten hoher Expositionen auf die Bestrahlungssituation in Beruf und diagnostischer Medizin, bleiben also weiterhin große Unsicherheiten. So wird beispielsweise das aus den Hiroshima- und Nagasaki-Statistiken ermittelte Risiko um die Hälfte reduziert, weil die Strahlenbelastung wie erwähnt atypisch, nämlich schlagartig und aggressiv innerhalb von Sekunden, erfolgte (die Bomben wurden so hoch in der Atmosphäre gezündet, daß die Hitzeentwicklung den radioaktiven Fallout absaugte), während die interessierenden niedrigen Strahlendosen über einen langen Zeitraum wirken. Hinzu kommt, daß der für die Dosisberechnung angenommene Neutronen-Abschwächungsmechanismus mit Fehlern behaftet ist. So ist es schwierig, den Einfluß der Luftfeuchtigkeit und die Abschirmwirkung von Gebäuden richtig abzuschätzen.
Deshalb nimmt man – als vorsich- tige Abschätzung – im Bereich unter 100 Millisievert eine lineare Dosis- Wirkungs-Beziehung ohne Schwellenwert an (Bild 7 a). Somit ergibt sich auch dort noch ein geringes theoretisches Krebsrisiko, dessen Nachweis oder Widerlegung durch Studien nur schwer, bei Dosiswerten von wenigen Millisievert unmöglich ist. Die wichtigsten nichtlinearen Modelle prognostizieren dort eine geringere Gefährdung (Bild 7 b, c). Tatsächlich gibt es viele experimentelle und theoretische Hinweise auf solche Beziehungen; andererseits scheinen sie für einige Krebsformen und für Alphastrahlung über große Dosisbereiche hinweg linear zu sein.
Um hier Klarheit zu bringen, werden derzeit europaweit Studien über Risiken von Arbeitern in der Nuklearindustrie unternommen; parallel dazu wertet die International Agency for Research on Cancer (IARC, eine Einrichtung der Weltgesundheitsorganisation WHO) in Lyon Daten von sieben Untersuchungen an fast 96000 Beschäftigten kerntechnischer Betriebe in Kanada, England und den Vereinigten Staaten aus. Weniger als 1 Prozent davon wurden mit mehr als 500 Millisievert bestrahlt (aber 9 Prozent der Überlebenden der Atombombenabwürfe). Erste Analysen deuten darauf hin, daß die Zahl der Leukämiefälle erhöht ist (außer chronischer lymphatischer Leukämie), aber keine zusätzlichen Krebstoten bei anderen Tumorarten signifikant nachzuweisen sind. Diese Befunde stimmen mit den von der ICRP prognostizierten Risiken recht gut überein; sie sind wegen der kleinen Zahl zusätzlicher Krebsfälle statistisch aber noch wenig aussagekräftig.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1994, Seite 112
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