Die Eigendynamik des Weltbevölkerungswachstums
Zwischen 1950 und 1990 hat sich die Zahl der Menschen verdoppelt und gleichzeitig die der Kinder pro Frau von 5,0 auf 3,4 verringert. Wie wahrscheinlich ist es, daß die nächste Verdoppelung erst innerhalb von etwa 100 Jahren eintritt, wie die Weltbank und die Bevölkerungsabteilung der Vereinten Nationen in ihren vielzitierten Projektionen geschätzt haben? Die Nationen der Welt beschäftigen sich in diesem Monat auf der UN-Konferenz "Bevölkerung und Entwicklung" mit den politischen Konsequenzen dieser demographischen Schicksalsfrage.
Allein in den neunziger Jahren wird die Weltbevölkerung um die doppelte Anzahl der Einwohner Europas wachsen, um die Schwedens jeden Monat und um die Bremens alle zwei Tage – und das, obwohl in den letzten Jahrzehnten die Fertilitätsrate im globalen Durchschnitt beträchtlich gesunken ist. Studien der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore (Maryland) über mehr als 40 Entwicklungsländer während der achtziger Jahre haben Wissenschaftler veranlaßt, von einer Revolution des Reproduktionsverhaltens zu sprechen. Die Veröffentlichung dieser Untersuchungsergebnisse unter diesem Leitbegriff ist denn auch weltweit in der Öffentlichkeit als eine Art Entwarnung mißverstanden worden (siehe Spektrum der Wissenschaft, Februar 1994, Seite 32).
Zwischen der zweiten Hälfte der sechziger und der ersten Hälfte der neunziger Jahre sank zwar die Fertilitätsrate, die Zahl der lebend geborenen Kinder je Frau, global von 4,98 auf 3,26 (Bild 2 links). Doch diese starke Abnahme hat den Blick dafür verstellt, daß sich der Fertilitätsrückgang von Jahrzehnt zu Jahrzehnt verlangsamt hat. In der ersten Dekade – bis zur zweiten Hälfte der siebziger Jahre – verringerte sich die Zahl um 1,05, in der folgenden aber nur noch um 0,41, also um weniger als den halben Wert wie zuvor. Wäre die globale Fertilitätsrate mit der gleichen Geschwindigkeit wie anfangs zurückgegangen, hätte sie das angestrebte Niveau bereits heute weitgehend erreicht, bei dem gerade so viele Kinder zur Welt kommen, daß sie – ihre Überlebenswahrscheinlichkeit eingerechnet – die jeweilige Elterngeneration genau ersetzen werden.
Aber selbst wenn dieses Ersatz- oder auch Bestandserhaltungsniveau in der Zukunft erreicht und eingehalten wird, wächst die Weltbevölkerung für weitere 50 bis 100 Jahre. Der Grund ist die auch dann noch breite Basis der Alterspyramide: Weil seit den letzten Jahrzehnten die absolute Zahl der Geburten unaufhörlich wächst, sind die heute lebenden jungen Jahrgänge umso zahlenstärker, je geringer ihr Alter ist. Somit werden auch die ins Elternalter nachrückenden Generationen von Mal zu Mal umfangreicher. Selbst wenn sich die Zahl der Kinder pro Frau bei ihnen verringert, steigt die absolute Zahl der Geburten, weil die Abnahme der Fertilität durch die Zunahme der Zahl der nachrückenden Mütter mehr als ausgeglichen wird.
Ein entscheidendes Problem ist darum zu ermitteln, wie viele Jahrzehnte verstreichen werden, bis die Fertilitätsrate im Weltdurchschnitt auf das Ersatzniveau gesunken ist. Derzeit beträgt sie in den Entwicklungsländern 3,64, in den Industrienationen 1,91 und weltweit 3,26. Der ohnehin schon hohe Anteil der Entwicklungsländer an der Gesamtbevölkerung wird sich also weiter vergrößern. Und dieses wachsende demographische Gewicht bedeutet, daß die Weltrate stiege, wenn die beiden Einzelraten lediglich konstant blieben. Allein schon um diesen gewichtsbedingten Anstieg auszugleichen, sind immer größere Anstrengungen in den Entwicklungsländern nötig – und erst recht, wenn die Weltrate weiter sinken soll.
Aus diesen und anderen Gründen stellt sich die Frage, wie wahrscheinlich es ist, daß die durchschnittliche Zahl der Kinder pro Frau schon bis etwa Mitte des nächsten Jahrhunderts auf das Ersatzniveau fällt, wie zum Beispiel die Weltbank es der mittleren Variante ihrer jüngsten Szenarien zur künftigen Bevölkerungsentwicklung zugrundelegt. Unter dieser optimistischen Annahme verdoppelt sich die Weltbevölkerung bis 2100 von derzeit etwa 5,6 auf 11,7 und beendet mit 12,1 Milliarden im Jahre 2150 ihr Wachstum (Tabelle in Bild 4). Sol-che demographischen Projektionen sind wohlgemerkt keine Prognosen, sondern Berechnungen, mit denen sich Wenn-Dann-Aussagen treffen lassen. Das Wenn sind Annahmen zur Entwicklung der Fertilität und Mortalität, das Dann die daraus abgeleiteten Aussagen zur Bevölkerungsentwicklung.
Ich werde hier die Projektionen der Weltbank und der Bevölkerungsabteilung der Vereinten Nationen (Population Division of the United Nations, Department of International Economic and Social Affairs, DIESA) um eigene erweitern, die ich mit meinem Mitarbeiter Carsten Weßel am Institut für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik der Universität Bielefeld durchgeführt habe. Insbesondere haben wir die Form des Fertilitätsrückgangs variiert: Ob die Kinderzahl pro Frau gleichmäßig oder anfangs schnell und dann langsamer innerhalb derselben Spanne auf das Ersatzniveau sinkt, hat unterschiedliche Folgen. Ferner haben wir die Mortalität variiert, um den Einfluß einer steigenden Lebenserwartung zu berechnen.
Schließlich treten wir mit weiteren Berechnungen den ausgesprochen unmenschlichen Empfehlungen malthusianischer Bevölkerungstheoretiker entgegen, die das Wachstum dadurch unterbinden wollen, daß man in Entwicklungsländern geborenen Kindern keine medizinische und anderweitige Hilfe angedeihen, sie also vorsätzlich sterben läßt. Eine solche Politik würde ihr Ziel, wie wir zeigen, verfehlen – gar nicht zu reden davon, daß sie aus ethischen Gründen strikt abzulehnen ist.
Die Projektionsmethode und ihre Genauigkeit
Unseren Bevölkerungsprojektionen liegt die gleiche Methode zugrunde wie denen der Weltbank und der DIESA. Im Deutschen wird sie meist als Komponentenmethode bezeichnet, im Englischen als cohort survival method (Kohortenüberlebensmethode).
Einen wichtigen Einfluß auf das Ergebnis hat die Altersstruktur. Um ihn vom Einfluß des Fortpflanzungsverhaltens – gemessen durch die Fertilitätsrate – und dem der Mortalität beziehungsweise der Überlebenswahrscheinlichkeit zu trennen, haben wir die Basisbevölkerung der Erde von 1990 statt nach Altersgruppen von je Fünfjahresspannen nach 100 Einzeljahren und nach dem Geschlecht aufgeschlüsselt (die über Hundertjährigen sind hier zu vernachlässigen).
Ausgehend vom Basisjahr 1990 wird für Männer und Frauen nach Lebensalter getrennt berechnet, wie viele davon bis zum nächsten Jahr überleben. Dazu multipliziert man jeweils die Zahl der Personen gleichen Alters mit der zugehörigen Überlebenswahrscheinlichkeit. Das Ergebnis sind 200 Bevölkerungsbestände für das nächste Jahr, die mit den jeweiligen Überlebenswahrscheinlichkeiten für das nun um ein Jahr erhöhte Lebensalter erneut multipliziert werden. Strebt man eine Bevölkerungsprojektion beispielsweise bis zum Jahre 2100 an, sind von 1990 ausgehend 110 solcher Rechenschritte erforderlich, wobei sich die Zahl der Überlebenden im Jahre 2050, um einen Wert herauszugreifen, aus der für 2049 ergäbe und so fort.
Die dafür benötigten Überlebenswahrscheinlichkeiten haben wir aus den Trends in der Vergangenheit für jeden Geburtsjahrgang der Weltbevölkerung und für jedes Geschlecht getrennt ermittelt – eine aufwendige Arbeit von zweieinhalb Jahren. Dabei wurde berücksichtigt, daß die Überlebenswahrscheinlichkeiten der jüngeren Jahrgänge in einem bestimmten Alter wesentlich rascher steigen als die der älteren.
Die in jedem Jahr lebend geborenen Kinder errechnen sich folgendermaßen. Maßgebend sind die Frauen im gebärfähigen Alter – in der Spanne zwischen 15 und 45 Jahren –, die bis zu dem betreffenden Jahr überlebt haben. Wie viele es davon in jeder dieser gut 30 Altersstufen gibt, ist den vorherigen Berechnungen zu entnehmen. Die einzelnen Zahlen werden mit den zugehörigen altersspezifischen Fruchtbarkeitsziffern multipliziert. Die Summe ist dann die Zahl der Lebendgeborenen des betreffenden Jahres.
Die altersspezifischen Fruchtbarkeitsziffern geben die Wahrscheinlichkeit an, mit der eine Frau eines bestimmten Alters im Verlauf eines Jahres ein Kind zur Welt bringt. Sie steigen von sehr niedrigen Werten im Alter von 15 in Form einer glockenförmigen Kurve bis zu einem Maximum im Alter von 25 bis 30 und sinken anschließend bis zum Alter von 45 wieder auf null. Die Summe der altersspezifischen Fruchtbarkeitsziffern ist die Gesamtfertilitätsrate (siehe Spektrum der Wissenschaft, Januar 1989, Seite 42).
Infolge der Säuglingssterblichkeit erleben nicht alle Kinder ihren ersten Geburtstag. Die Überlebenden bilden die Altersgruppe 0 bis 1 im nächsten Jahr der Bevölkerungsprojektion. Wenn nur noch gerade so viele Kinder zur Welt kommen, daß die Elterngeneration einmal genau ersetzt wird, ist das Ersatzniveau der Fertilität erreicht. Für die Weltbevölkerung beträgt es bei den von uns zugrunde gelegten Überlebenswahrscheinlichkeiten beziehungsweise der angenommenen Entwicklung der Lebenserwartung 2,13 Kinder je Frau. Auf 100 Frauen müssen also im Verlauf ihres Lebens 213 Kinder (rund die Hälfte davon Mädchen) entfallen, damit die Bevölkerung sich gerade reproduziert. Die Zahl ist deshalb etwas höher als zwei, weil nicht alle geborenen Mädchen ihrerseits Kinder haben; einige beispielsweise sterben vor, andere im gebärfähigen Alter, und manche wollen oder können keine Kinder bekommen. Da die Weltbank von viel optimistischeren Annahmen über den weltweiten Rückgang der Mortalität ausgeht, liegt in ihren Projektionen das Ersatzniveau bei nur 2,06. Zum Vergleich: Für Deutschland beträgt es derzeit 2,08, und dabei liegt hier die Sterblichkeit schon weit unter dem gegenwärtigen Weltdurchschnitt.
Selbst wenn das Ersatzniveau der Fertilität erreicht ist, wächst die Weltbevölkerung, wie erwähnt, wegen ihres jungen Altersaufbaus noch weiter: Der darin steckende demographische Schwung, auch als Eigendynamik der Bevölkerungsentwicklung bezeichnet, läßt sie erst nach 50 bis 100 Jahren in einen stationären Zustand mit konstanter Zahl und Altersstruktur übergehen. Dann ist die Nettoreproduktionsrate gleich 1 – vereinfacht das Zahlenverhältnis der Kindergeneration im Erwachsenenalter zur Elterngeneration. Allgemein gilt: Ist es größer als 1, dann wächst die Bevölkerung, ist es kleiner, schrumpft sie. Die Nettoreproduktionsrate der früheren Bundesrepublik (Deutsche einschließlich Ausländer) betrug beispielsweise Mitte der achtziger Jahre 0,60; bliebe sie konstant, würde die Bevölkerung ohne sehr starke Einwanderungen von Generation zu Generation, in einer Spanne von rund 28 Jahren, jeweils um 40 Prozent abnehmen.
Ein Gedankenexperiment soll die Eigendynamik veranschaulichen. Auf wie viele Menschen beziehungsweise um wie viele Prozent würde die Weltbevölkerung anwachsen, wenn die Fertilität von 1990 bereits bis 1991 auf das Ersatzniveau von 2,13 Kindern je Frau gefallen wäre? Antwort: von 5,3 Milliarden 1990 auf 7,3 im Jahre 2040, also um 38 Prozent! Eine hypothetische Rechnung gewiß, doch sie zeigt, wie wichtig es ist, daß bis zum Erreichen des Ersatzniveaus möglichst wenig Zeit verstreicht.
Wie genau demographische Projektionen der Weltbevölkerung sind, zeigt die 1958 durchgeführte Projektion der DIESA. Vor immerhin 36 Jahren errechnete sie 6,3 Milliarden Menschen (in der mittleren Variante) für das Jahr 2000, sehr wahrscheinlich werden es, wie man jetzt sieht, 6,2 sein – eine Differenz von nur 1,6 Prozent. Daß dies kein bloßer Zufallstreffer ist, ergibt sich daraus, daß die nach 1958 veröffentlichten Projektionen ebenfalls meist im Intervall von 6,1 bis 6,3 Milliarden lagen.
Aggregationseffekte
Wir haben nun durchgerechnet, wie das Wachstum verliefe, wenn die Fertilitätsrate der Weltbevölkerung – ausgehend vom Basisjahr 1990 mit 3,4 Kindern je Frau – bis zu unterschiedlichen Zieljahren des 21. Jahrhunderts auf das Ersatzniveau von 2,13 sinkt. Es handelt sich wohlgemerkt nicht um irgendwelche prognostizierten Zielwerte, sondern um alternativ gesetzte Wenn-Annahmen, deren Konsequenzen für das Bevölkerungswachstums abgeleitet werden (Bild 3).
Für die Berechnungen haben wir das Zieljahr in Zehnerschritten heraufgesetzt und verschiedene Formen der Fertilitätsabnahme durchgespielt. Unsere These ist nämlich, daß es mit sinkendem Fertilitätsniveau immer schwieriger wird, einen zusätzlichen Rückgang zu erreichen – auch deshalb, weil die Menschen in den Entwicklungsländern erkennen werden, daß zwei Kinder pro Elternpaar, die das Erwachsenenalter erreichen, nicht genügen, um angesichts fehlender Arbeitslosen-, Kranken- und Alterssicherungssysteme die wirtschaftlichen Existenzrisiken der Eltern abzusichern, die familiären Netzwerke der gegenseitigen Hilfe zu erhalten und den religiösen Geboten und kulturellen Normen zu entsprechen (Bild 1). Für eine Senkung der Kinderzahl pro Frau um das gleiche Ausmaß in jedem Jahrzehnt werden deshalb immer größere Anstrengungen der Entwicklungs- und Familienplanungspolitik erforderlich sein. Die Mittel dafür müßten einen so hohen Umfang erreichen, daß die Hilfe der Geberländer wahrscheinlich nicht Schritt halten wird.
Sinkt die Fertilität anfangs sehr rasch und dann immer langsamer, hat die entsprechende Kurve einen hyperbelförmigen Verlauf; alternativ dazu haben wir noch eine Abnahme mit s-förmiger Verlaufskurve zugrunde gelegt, die in der Mitte des Zeitraums am stärksten und am Anfang und am Ende weniger sinkt, sowie eine konstante in Form einer Geraden (Bild 3, linke Spalte). Jedes Zieljahr ergibt in Kombination mit einer der drei Abnahmeformen einen bestimmten Zeitpfad der Fertilitätsabnahme, kurz Fertilitätspfad genannt, und einen zugehörigen Wachstumspfad der Bevölkerung (Bild 3, rechte Spalte).
Die Projektionen der Weltbank kommen beim Zieljahr 2060 auf eine Endbevölkerung von 12,1 Milliarden, unsere mit dem gleichen Zieljahr auf nur 10,7. Da das von der Weltbank angenommene Ersatzniveau der Fertilität niedriger ist als das von uns angenommene, erreicht der von ihr zugrunde gelegte Fertilitätspfad unser höheres Ersatzniveau von 2,13 schon im Jahre 2050, ihr niedrigeres von 2,06 aber erst 2060 (Bild 4). Der Zeitpfad der von uns gewählten Hyperbel, die am besten zu passen schien (Zieljahr 2060), verläuft ab dem Jahre 2035 oberhalb von dem, den die Weltbank annimmt. Deshalb wäre eigentlich zu erwarten, daß unser Bevölkerungsergebnis über ihrem liegt und nicht darunter. Zwar nimmt die Weltbank eine günstigere Entwicklung der Mortalität an als wir, doch wirken sich – wie später erläutert – Variationen der Mortalität wesentlich schwächer auf das Ergebnis aus als alternative Annahmen zur Entwicklung der Fertilität.
Der Grund für das auf den ersten Blick unerwartete Ergebnis ist der sogenannte Aggregationseffekt. Die Weltbank wie auch die DIESA haben ihre Projektionen für jedes der größeren 158 Länder getrennt berechnet und die Ergebnisse dann addiert. Man nennt das eine nach einzelnen Ländern disaggregierte Projektion. Unsere hingegen wurden von vornherein für die Welt als Ganzes – aggregiert – berechnet, und das hat Konsequenzen.
Angenommen, wir führten eine Vorausschätzung für die Gesamtpopulation der Erde durch und daneben eine zweite, bei der wir die Erdbevölkerung in zwei Teilpopulationen für die Industrieländer einerseits und für die Entwicklungsländer andererseits trennen. In beiden Fällen soll die Fertilitätsrate der Ausgangsgruppen der Einfachheit halber konstant bleiben, wobei die der Entwicklungsländer höher ist als die der Industrieländer. In der aggregierten Projektionsrechnung ändert sie sich für die Welt dann zwangsläufig nicht. In der disaggregierten Projektionsrechnung hingegen bedingt die vorausgesetzte Konstanz eine Zunahme der Weltrate, weil diese sich gemäß den Bevölkerungsanteilen beider Gruppen als das gewogene Mittel von deren Raten errechnet und weil der Anteil der Entwicklungsländer aufgrund ihrer höheren Fertilität wächst. Somit kann die globa-le Fertilitätsrate in der disaggregierten Bevölkerungsprojektion nicht konstant bleiben, sie muß vielmehr zunehmen.
Daraus ist nun im Umkehrschluß zu folgern, daß disaggregierten und aggregierten echten Bevölkerungsprojektionen unterschiedliche Annahmen zur Fertilität zugrunde liegen müssen, wenn sie in ihrem globalen Fertilitätspfad übereinstimmen. Weil dieser bei unserer aggregierten Projektion für das Zieljahr 2060 weitgehend dem aus den Länderergebnissen abgeleiteten der Weltbank gleicht, ist die Fertilität in unserem Falle geringer; entsprechend muß auch die projizierte Bevölkerungszahl kleiner sein, denn die Basisbevölkerung ist identisch, und die Sterblichkeitsannahmen unterscheiden sich nicht wesentlich.
Pfad-Effekte
Wir können aus diesen Überlegungen schließen, daß wir einen Fertilitätspfad mit höherer Fertilität – also mit einem späteren Zieljahr als 2060 –, wählen müssen, wenn wir unsere Projektionen mit denen von Weltbank oder DIESA vergleichen wollen. Als am besten geeignet erwies sich ein hyperbelförmiger Fertilitätspfad mit einem Zieljahr zwischen 2080 und 2090 (Bild 4). Dann entspricht die Fertilitätsentwicklung der in der Weltbank-Projektion, und auch die ermittelten Bevölkerungszahlen sind der Größenordnung nach gleich (Bild 3b).
Wählt man hingegen einen Pfad für das Zieljahr 2060, der s-förmig oder linear abnimmt, so liegt die Fertilität im Vergleich zum Wert der Weltbank zu hoch: Er ergäbe einen Endstand von 13,7 beziehungsweise 13,9 Milliarden Menschen statt von 12,1 (Bild 3 d und f). Gegenüber unserer Projektion mit dem hyperbelförmigen Verlauf für 2060 – Endstand 10,7 – ist das bei gleichem Zieljahr und ansonsten gleichen Annahmen also ein Unterschied von 3 Milliarden. Für das Zieljahr 2070 wächst die Differenz auf mehr als 4 und für 2080 auf fast 6 Milliarden. Für die Politik bedeutet dies, daß schnelle Erfolge bei der Fertilitätsreduktion doppelte Erfolge sind.
Fazit: Die Form der Fertilitätsabnahme ist wie das Zieljahr und das gewählte Ersatzniveau ein wichtiger eigenständiger Faktor des Bevölkerungswachstums, der bisher zu wenig beachtet wurde.
Wieso wird aber bei dem linearen Fertilitätspfad mit dem Zieljahr 2060 ein um gut 2 Milliarden höherer Endstand erreicht als bei dem hyperbelförmigen selbst mit dem Zieljahr 2080 (Bild 5 rechts oben)? Ein späteres Erreichen des Ersatzniveaus müßte – so könnte man meinen – eigentlich das Gegenteil bewirken. Entscheidend ist aber die Summe der Gesamtfertilitätsraten für die einzelnen Kalenderjahre: Sie ist beim linearen Pfad größer als beim hyperbelförmigen, obwohl der erst 20 Jahre später auf das angestrebte Niveau abgefallen ist (Bild 5 links oben).
Was geschieht, wenn sowohl das Zieljahr als auch die Summe der Gesamtraten weitgehend gleich sind, wie im Falle des linearen und des s-förmigen Pfads für 2060? Dann liegt die Bevölkerungskurve für eine s-förmige – also anfangs zögerlichere, dann raschere – Abnahme ab dem Jahre 2024 noch gut ein halbes Jahrhundert über der für eine lineare, obwohl ihre zugehörige Gesamtfertilitätsrate von da an die andere bis zum Zieljahr unterschreitet (Bild 5 unten). Die Erklärung für diesen Pfad-Effekt liegt wiederum in der Eigendynamik des Wachstums, die auf den kumulati-ven Auswirkungen der Altersstruktur auf die Bevölkerungsgröße beruht (Bilder 6 und 7).
Solche Pfad-Effekte unterstreichen die Bedeutung, die der Form der Fertilitätsabnahme für die künftige Bevölkerungsentwicklung zukommt. Sie wurden in der internationalen Diskussion bislang vernachlässigt. Das Ergebnis des geschilderten Szenarios hat aber wichtige Konsequenzen für die Politik: Geht bei der Reduktion der Fertilität Zeit verloren (s-förmiger Verlauf), resultiert selbst dann, wenn das Versäumte nachgeholt wird, jahrzehntelang eine größere Weltbevölkerung als bei anderem Verlauf.
Die Entwicklung der Lebenserwartung
Die Berechnungen der Lebenserwartung von DIESA und Weltbank sind recht optimistisch. Letztere nimmt an, daß die Menschen bis zum Ende des 21. Jahrhunderts eine Steigerung auf durchschnittlich 82 Jahre erhoffen dürfen – in den Industrieländern auf 85 und in den gegenwärtigen Entwicklungsländern auf 82 (um 2100 beträgt der Anteil der heutigen Entwicklungsländer an der Weltbevölkerung fast 90 Prozent, deshalb ist die Lebenserwartung der Weltbevölkerung praktisch identisch mit der der Entwicklungsländer). Das wäre ein Unterschied von nur noch drei Jahren; 1990 betrug er bei einer Lebenserwartung von 74,3 beziehungsweise 61,9 Jahren immerhin 12,4 Jahre.
Diesen Optimismus teilen wir nicht. Denn es ist eher anzunehmen, daß das starke Bevölkerungswachstum Ernährungsprobleme sowie demographisch und politisch bedingte Entwicklungskrisen mit sich bringt, die verhindern werden, daß die Gesundheitsbedingungen und der allgemeine Lebensstandard in der Mehrzahl der Entwicklungsländer das für eine hohe Lebenserwartung von 82 Jahren erforderliche Niveau überhaupt erreichen können. Zum Vergleich: In Deutschland haben Männer nach den aktualisierten Sterbetafeln von 1986/88 eine Lebenserwartung von 71,7, Frauen eine von 78,0 Jahren.
Aus den Trends in der Vergangenheit haben wir die Entwicklung der durchschnittlichen Lebenserwartung für die verschiedenen Geburtsjahrgänge der Weltbevölkerung nach Geschlechtern getrennt berechnet. Sie wird sich mit Verbesserungen der Gesundheitsbedingungen und des allgemeinen Lebensstandards – so unsere Annahme – beispielsweise von 68,5 Jahren zum Zeitpunkt der Geburt für den Jahrgang 1974, also für die heute Zwanzigjährigen, auf 73,8 beim Jahrgang 2030 erhöhen und dann konstant bleiben. Weil aber von den 2030 Geborenen ein Teil den Beginn des 22. Jahrhunderts erleben dürfte, sinkt die kalenderjahrbezogene Mortalität entsprechend bis Ende des 21. Jahrhunderts, wenn auch immer langsamer.
Die Lebenserwartung ist ein komplexes Maß, das sich aus den je 100 Überlebenswahrscheinlichkeiten für die 100 Altersgruppen an Männern und Frauen zusammensetzt. Die Mortalität, die Sterbewahrscheinlichkeit, ist einfach das Komplementäre zur Überlebenswahrscheinlichkeit (eine Mortalität von 3 Prozent bedeutet eine Überlebenswahrscheinlichkeit von 97 Prozent). Setzt man nun in einer Bevölkerungsprojektion die Lebenserwartung anders an, müssen dafür pro Kalenderjahr jeweils 100 männliche und 100 weibliche altersspezifische Sterbewahrscheinlichkeiten variiert werden.
Wir haben einmal für eine lineare Fertilitätsabnahme und das Zieljahr 2070 Bevölkerungsprojektionen für den Fall durchgespielt, daß sich das allgemeine Niveau der Mortalität (der Durchschnitt der 200 Mortalitätsraten) um 1 bis 10 Prozent senken ließe (Bild 8 links). Wie sich zeigt, ist der Einfluß der Mortalität gegenüber dem der Fertilität gering. Statt 15,011 Milliarden Menschen im Jahre 2100 erhält man bei einer fünfprozentigen Absenkung 15,263 und bei einer zehnprozentigen 15,523. Für das Zieljahr 2060 ergäben sich ähnliche Verhältnisse.
Diese Ergebnisse erklären, warum umgekehrt der Einfluß der AIDS-Pandemie das Weltbevölkerungswachstum zwar bremsen, aber nicht stoppen wird. Dies spiegelt sich auch in Projektionen der Weltbank für Afrika wider: In der jüngsten von 1992/93 ist der Faktor AIDS berücksichtigt, während er in der früheren Projektion von 1989/90 noch keine große Rolle spielte – trotzdem liegt die neue Bevölkerungszahl für das Jahr 2050 mit 2,079 Milliarden nur um knapp 9 Prozent unter der alten mit 2,275. Da die Fertilität in der jüngsten Projektion sogar geringfügig höher angesetzt ist als zuvor, wäre eigentlich kein kleinerer, sondern ein größerer Wert zu erwarten gewesen. Daraus läßt sich abschätzen, daß nach den Berechnungen der Weltbank im Jahre 2050 in Afrika durch AIDS 200 bis 250 Millionen Menschen weniger als früher berechnet leben dürften, die Seuche also eine Verringerung von etwa 10 Prozent gegenüber der ursprünglichen Zahl bewirkt. Und weil die Krankheit auf diesem Kontinent weit heftiger als anderswo grassiert, ist ihr Einfluß auf die Größe der Weltbevölkerung des Jahres 2050 in jedem Falle noch geringer: Die Reduktion der ohne diesen Faktor zu erwartenden Zahl beträgt weniger als 10, wahrscheinlich sogar weniger als 5 Prozent. Detaillierte Fallstudien der Bevölkerungsabteilung der Vereinten Nationen für 14 afrikanische Länder stützen diese Einschätzung.
Der Natur ihren Lauf lassen?
Vor einiger Zeit hat der englische Tropenmediziner Maurice King einen Aufruhr erregenden Artikel in der Fachzeitschrift "Lancet" veröffentlicht. Darin unterbreitete er die These, das zu hohe Bevölkerungswachstum triebe etliche Entwicklungsländer in eine unentrinnbare demographische Falle – und es sei dort nur noch durch Einstellen der medizinischen Hilfsprogramme für Kinder, also durch eine bewußt in Kauf genommene Erhöhung der Säuglings- und Kindersterblichkeit, zu bremsen. Dies müsse man den entsprechenden Ländern sogar empfehlen, weil sonst das Überleben der gesamten Menschheit durch die Folgen krasser Übervölkerung – beispielsweise ökologische Katastrophen und Vernichtungskriege – gefährdet würde (vergleiche "Umwelt-Konflikte" von Thomas F. Homer-Dixon, Jeffrey H. Boutwell und George W. Rathjens, Spektrum der Wissenschaft, April 1993, Seite 36).
King steht damit in der Tradition der klassischen Bevölkerungstheorie von Thomas R. Malthus (1766 bis 1834). Der britische Nationalökonom und Sozialphilosoph veröffentlichte 1798 ein Werk mit dem Titel "Das Bevölkerungsgesetz" (The Principle of Population). Darin vertrat er unter anderem die Ansicht, daß sich eine über die Subsistenzmittelschranke hinauswachsende Bevölkerung "naturgesetzlich" wieder vermindere, indem sich entweder die Mortalität dem zu hohen Fertilitätsniveau anpaßt, also steigt, oder die Menschen ihre Kinderzahl durch Einsicht und durch sittliche Enthaltsamkeit (moral restraint) freiwillig beschränken.
Die These von King basiert auf den sogenannten lifeboat ethics und gipfelt in der Maxime, Entwicklungs- und Gesundheitshilfe für die in der demographischen Falle gefangenen Länder sei unmoralisch. Hinter dem Begriff verbirgt sich eine von dem amerikanischen Biologen Garret Hardin so formulierte Anschauung: Würden die Insassen des Rettungsbootes (die Menschen in den Industrieländern) aus Großmut ihren Platz den Einlaß begehrenden Schiffbrüchigen (den Menschen in den Entwicklungsländern) überlassen, wäre das Boot voll mit Menschen, die weniger Skrupel hätten, auf Kosten anderer zu überleben, so daß sich der moralische Zustand der Welt(bevölkerung) verschlechterte. Ich möchte mich hier auf den demographischen Kern der These konzentrieren, daß nur noch die Erhöhung der Säuglings- und Kindersterblichkeit in bestimmten Entwicklungsländern – durch bewußtes, vorsätzliches Unterlassen aller Maßnahmen, Kinder am Leben zu erhalten – das Problem der Übervölkerung lösen könne.
Wir haben bei unseren Berechnungen einmal global die Säuglings- und Kindersterblichkeit schrittweise steigen lassen, und zwar für den Fall einer linearen Fertilitätsabnahme bis zum Zieljahr 2060 auf 2,13 Kinder je Frau (Bild 8 rechts). Das extreme Gedankenexperiment erbrachte folgendes Ergebnis: Selbst wenn sich die Sterblichkeit vervierfachte, würde die Weltbevölkerung – wenn auch in abgeschwächter Form – mindestens bis zum Jahre 2050 weiterwachsen. Danach begänne sie zwar langsam zu schrumpfen, aber erst 2135 hätte sie sich wieder auf den Bestand von 5,3 Milliarden des Jahres 1990 verringert.
Bei einer Erhöhung der Säuglings- und Kindersterblichkeit um 50 Prozent setzte sich das Wachstum sogar bis zum Jahre 2100 fort. Die Zahl der Menschen betrüge dann 12,2 Milliarden. Ohne eine solche Erhöhung käme man auf 13,8, also 1,6 Milliarden mehr. Das heißt, folgte man den grausamen Handlungsempfehlungen von King und seiner malthusianischen Denkschule, würde sich das Bevölkerungswachstum bei einer 50prozentigen Sterblichkeitserhöhung selbst im Falle einer weiteren linearen Abnahme der Zahl lebend geborener Kinder pro Frau lediglich um 12 Prozent und mithin nicht entscheidend verringern. Dabei ist zu bedenken, daß die Eltern wahrscheinlich versuchen würden, die wegsterbenden Kinder durch neue Nachkommen zu ersetzen, so daß die Fertilitätsrate stiege, statt fiele.
Im Gegensatz zu ihrem demographischen Effekt, der relativ minimal bliebe, wären die entmenschlichenden Wirkungen dieser Politik ungeheuerlich. Wenn wir zu diesem Mittel griffen, verfehlten wir nicht nur die damit angestrebten Ziele, sondern gäben auch alles andere preis, dessenthalben unser Leben überhaupt einen Sinn hat: Die malthusianische Politik führt sich so durch ihren inneren Widerspruch selbst ad absurdum.
Daß das malthusianische Denken trotzdem viele Anhänger hat, zeugt wohl in erster Linie von Unzulänglichkeiten bei der Analyse demographischer Probleme, weniger von einem ethischen Unvermögen. Jedenfalls möchte ich weder King noch seinen Anhängern den guten Willen absprechen, den sie für sich in Anspruch nehmen. Deshalb ist es der Mühe wert, durch rationales Argumentieren zu klareren Einsichten in die Dynamik der demographischen Prozesse beizutragen; sonst könnte tatsächlich ein von Panik diktierter amoralischer Pragmatismus um sich greifen, bei dem jeder sich selbst der Nächste wäre.
Resümee
Wie unsere Berechnungen zeigen, wirkt sich die Entwicklung der Fertilität wesentlich stärker als die der Mortalität auf das Wachstum der Menschheit aus. Wenn sich die Verwirklichung des Ziels, die Fertilität global von derzeit 3,3 Kindern je Frau auf 2,13 zu senken, um nur zehn Jahre hinausschiebt, bedeutet das 500 Millionen Menschen mehr in der Mitte des nächsten Jahrhunderts und sogar gut eine Milliarde mehr an dessen Ende. Die von der Weltbank berechnete Größe von 10,1 Milliarden im Jahre 2050 beziehungsweise 12,1 im Jahre 2150 wird überschritten, wenn es nicht durch eine konsequente Entwicklungs-, Gesundheits- und Familienpolitik gelingt, die Zahl der lebend geborenen Kinder pro Frau in den Entwicklungsländern von derzeit 3,6 bis spätestens 2030 auf 2,3 zu verringern.
Allerdings bin ich skeptisch, ob sich dies erreichen läßt. Denn die Menschen in den Entwicklungsländern werden feststellen, daß nur zwei Nachkommen in einem Staat ohne Arbeitslosen-, Kranken- und Altersversorgung die ökonomischen und sozialen Existenzrisiken der Eltern nicht ausreichend abzusichern vermögen – zumal die familiären und kommunalen Hilfssysteme infolge des gesellschaftlichen Wandels und der Modernisierung der Wirtschaft zerfallen. Der Fertilitätsrückgang könnte sich daher in Zukunft verlangsamen. Die Folge wäre ein stärkeres Bevölkerungswachstum als von Weltbank und DIESA berechnet. Somit ist es möglich, eher sogar wahrscheinlich, daß die Menschheit schließlich statt auf rund 12 auf 14 Milliarden anwächst. Der Unterschied ist auch deshalb bedeutsam, weil sich die Modelle der Klimatologen, der Ernährungswissenschaftler und der Ökonomen meist auf diese beiden Bevölkerungsprojektionen stützen.
Ohnehin gibt es erst unzureichende Instrumente für eine erdumgreifende Hilfs- und Entwicklungspolitik; zu optimistische Annahmen könnten noch die Meinung bestärken, entschiedenes Handeln sei gar nicht so dringlich. Was aber heute versäumt wird, um die Vermehrung unserer Art zu hemmen, läßt sich nicht einmal durch inhumane Maßnahmen nachholen.
Literaturhinweise
- World Population Projections, 1992-93 Edition. Von E. Bos, My T. Vu, A. Levin und R. A. Bulatao. The Johns Hopkins University Press, Baltimore und London 1992.
– World Population Prospects – The 1992 Revision. Herausgegeben von den Vereinten Nationen. New York 1993.
– Scenarios for the World Population in the Next Century: Excessive Growth or Extreme Aging. Von W. Lutz und Chr. Prinz. International Institute for Applied Systems Analysis. WP-91-22. Laxenburg 1991.
– Der Konflikt zwischen Spaceship Ethics und Lifeboat Ethics und die Verantwortung der Bevölkerungstheorie für die Humanökologie. Von H. Birg in: Dokumentationen. Informationen. Meinungen. Herausgegeben und verlegt von der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen. Nr. 40. Bonn 1991.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1994, Seite 38
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