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Astrophysik: Die Entstehung der Galaxis

Mit dem Spürsinn von Kriminologen erschließen Astrophysiker, wie sich unser Milchstraßensystem einst aus einer diffusen Gaswolke herausgebildet hat. Als wichtigstes Indiz dient ihnen die räumliche Verteilung der chemischen Elemente.


Unser Milchstraßensystem, die Galaxis, ist wie Abermilliarden anderer Welteninseln im All eine flache Scheibe mit prächtig leuchtenden Spiralarmen. Offenbar nehmen die meisten Sternsysteme unter dem Einfluss der Naturgesetze diese Form an. Die komplexe Struktur der Spiralgalaxien hat sich im Laufe ihrer über zehn Milliarden Jahre langen Entwicklungsgeschichte herausgebildet und ist sowohl von Ordnung als auch von Chaos geprägt. Dies ist umso erstaunlicher, als am Anfang dieses Prozesses sehr wahrscheinlich nur eine diffuse, strukturlose Ansammlung von Gas stand. Was sich im Laufe der Entwicklung genau ereignet hat, ist noch nicht völlig geklärt. Astrophysiker wie ich konstruieren theoretische Modelle, um aus dem heutigen Erscheinungsbild der Galaxis auf ihre Entwicklungsgeschichte schließen zu können.

Diese Modelle müssen nicht nur die Gravitationskräfte mit ihrer unendlichen Reichweite berücksichtigen, sondern auch die auf atomarer Ebene ablaufenden Wandlungsprozesse. Das Gas, aus dem unser Milchstraßensystem hervorgegangen ist, bestand aus Wasserstoff und Helium sowie einer Spur Lithium – aus jenen Elementen also, die der Urknall hinterlassen hat. Alle anderen Atomsorten sind erst im Laufe der Zeit durch Kernfusionsprozesse in Sternen entstanden. Diesen Glutöfen gelingt seit Urzeiten, woran die mittelalterlichen Alchimisten scheiterten: die Erzeugung neuer Elemente aus einfachen Grundstoffen. Bis heute haben die Sterne erst zwei Prozent des kosmischen Wasserstoff- und Heliumvorrats in schwerere Elemente umgewandelt und daraus ihre Leuchtkraft gespeist. Aber die räumliche Verteilung dieser zwei Prozent birgt, so hoffen wir, den Schlüssel zu den Geheimnissen der Entstehung und Entwicklung des Milchstraßensystems.

Allerdings müssen die Forscher noch eine Vielzahl weiterer empirischer Befunde als Randbedingungen in ihre Modelle einfließen lassen, um die Entwicklung einer Galaxie beschreiben zu können: etwa die Gasdichte in den verschiedenen Komponenten der Scheibe, die Häufigkeit, mit der Sterne entstehen und vergehen, die genaue chemische Zusammensetzung unserer Sonne sowie die Entstehungsrate schwerer Elemente in den Sternen. Die schwierige Aufgabe liegt darin, ein Modell zu finden, das möglichst viele dieser Randbedingungen erfüllt.

Anatomie-Stunde

In diesem Artikel stelle ich ein neues Modell vor, das die meisten der jüngsten Beobachtungen berücksichtigt. Aber wenngleich neue Technologien die Qualität der Beobachtungen stetig verbessern und so die Randbedingungen verfeinern, sind wir doch noch weit davon entfernt, die Entwicklung der Galaxis vollständig zu verstehen.

Ähnlich wie wir den Körper des Menschen in Torso, Kopf und Gliedmaßen unterteilen, so können wir auch das Milchstraßensystem in eine Reihe von Komponenten gliedern. Der auffälligste Teil der Galaxis ist die Scheibe mit ihren Spiralarmen. Im Zentralbereich weist sie eine Verdickung auf, die von den Forschern Bulge(englisch für "Wulst") genannt wird. Die Scheibe selbst lässt sich wiederum in eine so genannte dünne Scheibe von etwa 2000 Lichtjahren Stärke und in eine 7000 Lichtjahre starke dicke Scheibe untergliedern. Da die Scheibe einen Durchmesser von rund 120000 Lichtjahren hat, handelt es sich insgesamt um ein ausgesprochen flaches Gebilde. Unsere Sonne befindet sich in der dünnen Scheibe, und zwar in einer Entfernung von etwa 28000 Lichtjahren vom galaktischen Zentrum.

Der Halo, eine sphärische Komponente, welche die Scheibe und ihre zentrale Verdickung komplett umhüllt, ist auf Bildern von Spiralgalaxien meist nicht oder nur sehr schwach zu erkennen. Das liegt einerseits daran, dass der überwiegende Teil des Halos aus Dunkler Materie besteht – Material unbekannter Zusammensetzung, das kein Licht aussendet oder absorbiert, sich aber durch seine starke Schwerkraft verrät. Trotzdem besitzt der Halo eine stellare Komponente, oft stellarer Halo genannt, die aber zu leuchtschwach ist, um leicht erkennbar zu sein. Innerhalb des Halos gibt es jedoch Objekte, die sehr wohl im Teleskop sichtbar sind: etwa 200 Kugelsternhaufen mit jeweils etwa einer Million Mitgliedern. Diese sphärischen Ansammlungen von Sternen gehören zu den ältesten Gebilden in der Galaxis.

Viele Jahrzehnte sorgfältiger Studien waren nötig, um die verschiedenen Komponenten des Milchstraßensystems voneinander zu unterscheiden, und noch immer gibt es feinere Substrukturen zu entdecken. Warum ist es so aufwendig, unsere Heimatgalaxie zu erkunden? Es liegt an ihrer schieren Größe: Einen genauen Blick können die Astronomen nur auf die Sterne in der Sonnenumgebung werfen. Und da wir in der dünnen Scheibe residieren, entziehen sich die Sterne der dicken Scheibe und des Halos überwiegend einer detaillierten Untersuchung. Nur solche Objekte der galaktischen Außenregionen, die auf Grund ihrer Bahnbewegung um das galaktische Zentrum zufällig gerade die dünne Scheibe passieren, offenbaren ausreichend viele Informationen.

Auf solchen mühsam zusammengetragenen Beobachtungen fußen die Entwicklungsmodelle. Für diese wird als Sonnenumgebung meist ein Zylinder mit einem Radius von 3000 Lichtjahren verwendet, in dessen Zentrum sich unsere Sonne befindet. Die Höhe des Zylinders ist unbegrenzt, damit er nicht nur einen Ausschnitt der dünnen Scheibe, sondern auch Teile der dicken Scheibe und des Halos enthält.

Es sind gerade die unterschiedlichen Umlaufbahnen, die kinematischen Eigenschaften der Sterne also, die ihre Zuordnung zu den unterschiedlichen Komponenten der Galaxis ermöglichen. Die Bahnbewegung eines Sterns wird durch drei Geschwindigkeitskomponenten beschrieben:

- seine Radialgeschwindigkeit (U) in der Scheibenebene vom galaktischen Zentrum fort,

- seine Rotationsgeschwindigkeit (V) in Richtung der allgemeinen galaktischen Drehbewegung und

- seine Vertikalgeschwindigkeit (W) senkrecht zur galaktischen Ebene.

Sterne der dünnen Scheibe, wie etwa unsere Sonne, haben eine geringe Vertikalgeschwindigkeit und bleiben deshalb zumeist in der galaktischen Ebene. Sterne der dicken Scheibe weisen etwas höhere und Halosterne noch höhere Vertikalgeschwindigkeiten auf. Dafür ist die Rotationsgeschwindigkeit der Halosterne fast null. Anhand der kinematischen Eigenschaften eines Sterns kann ein Astronom also erkennen, ob dieser Himmelskörper wirklich zu der Komponente des Milchstraßensystems gehört, in der er sich gerade befindet, oder ob es sich quasi um einen "Durchreisenden" aus einer anderen Gegend der Galaxis handelt.

Die Sterne der Scheibe und diejenigen des Halos unterscheiden sich aber noch in anderer Hinsicht, weshalb die Astronomen auch von verschiedenen Sternpopulationen sprechen. Diesen Begriff prägte 1944 der deutsche Astronom Walter Baade, der seit 1931 am Mount-Wilson-Observatorium in Kalifornien arbeitete. Mit dem dortigen 2,5-Meter-Teleskop gelang es ihm erstmals, die Zentralregion des Andromeda-Nebels – einer dem Milchstraßensystem benachbarten Galaxie – in Einzelsterne aufzulösen. Dabei erkannte Baade, dass dort sowie im Halo und in den Kugelsternhaufen überwiegend rötliche Sterne vorhanden sind, während die meisten Sterne in den Spiralarmen bläulich leuchten. Die blauen Sterne ordnete er einer Population I zu, die roten einer Population II.

Baades einfaches Schema – das inzwischen verfeinert worden ist, um diverse Übergangspopulationen zu berücksichtigen – revolutionierte damals die stellare Astronomie und gab diesem Forschungsfeld enormen Aufschwung. Und zwar deshalb, weil sich hinter dem Farbunterschied ein grundlegender Unterschied in der Art und der Entwicklung der Sterne verbirgt. Die Analyse des Sternenlichts zeigte, dass Sterne der Population I relativ reich an Elementen schwerer als Helium sind. Sterne der Population II, insbesondere jene des Halos und der Kugelsternhaufen, sind dagegen relativ arm an schweren Elementen (von den Astronomen häufig, aber unzutreffend "Metalle" genannt).

Das Ausmaß der Anreicherung schwerer Elemente in der äußeren Schicht eines Sterns lässt sich aus seinem Spektrum ermitteln. Die Astronomen nehmen an, dass die äußere Schicht die chemische Zusammensetzung der Gaswolke widerspiegelt, aus welcher der Stern entstanden ist. Denn die vom Stern selbst im Innern erzeugten schweren Elemente dringen üblicherweise kaum nach außen vor. Diese Annahme konnten die Forscher für jene Sterne empirisch bestätigen, bei denen zusätzlich die Anreicherung schwerer Elemente im interstellaren Gas der Sternumgebung direkt gemessen wurde.

Die Asche von Sternen verändert die Chemie der Galaxis

Ein ungefähres Maß für die Anreicherung eines Sterns mit schweren Elementen ist die Häufigkeit des Elementes Eisen (Fe) im Vergleich zur Häufigkeit von Wasserstoff (H). Der metallärmste Stern, der in der Galaxis bislang bekannt ist, befindet sich im Halo. Er ist alt und enthält nur ein Zehntausendstel des Eisenanteils in unserer Sonne. Dass es sich dabei um einen uralten Stern handelt, ist kein Zufall. Als er entstand, hatte die Synthese schwerer Elemente erst kurz zuvor eingesetzt; es gab also schlicht noch keine großen Mengen davon, die der Stern bei seiner Entstehung hätte aufnehmen können. Als Faustregel gilt: Die Eisenhäufigkeit im interstellaren Gas hat im Zuge der Entwicklung unserer Galaxis zugenommen, alte Sterne sind demnach in ihren äußeren Schichten eisenärmer als junge.

Wie Sterne schwere Elemente herstellen, ist heute weitgehend bekannt. Die meisten werden durch eine Kette von Fusionsreaktionen aus leichteren Elementen aufgebaut. Es gibt dabei eine ganze Reihe von physikalischen Vorgängen, aus denen jeweils ein anderes Sortiment an Elementen hervorgeht. Wann und mit welcher Intensität diese Prozesse jeweils ablaufen, hängt hauptsächlich von der Masse des Sterns ab. Die leichtesten Sterne – von denen einige nur ein Zehntel der Masse unserer Sonne aufweisen – haben die höchste Lebenserwartung, bis zu einigen hundert Milliarden Jahren. Im Gegensatz dazu sehen schwere Sterne, die bis zu 150 Sonnenmassen enthalten können, nur einem vergleichsweise kurzen Leben von wenigen Millionen Jahren entgegen. Dieser Unterschied ist wichtig, weil Sterne am Ende ihres Daseins einen wesentlichen Anteil der neu erschaffenen Elemente an die interstellare Materie abgeben.

Die Masse eines Sterns bestimmt nicht nur seine Lebensdauer, sondern auch die Art von chemischen Elementen, die er an das interstellare Gas abgibt und damit der nachfolgenden Sterngeneration zur Verfügung stellt. Da die Lebenserwartung der extrem massearmen Sterne das Alter des Milchstraßensystems – etwa 14 Milliarden Jahre – weit übersteigt, haben sie bisher kaum zur chemischen Evolution der Galaxis beigetragen. Sterne niedriger und mittlerer Masse wie unsere Sonne blähen sich gegen Ende ihres Entwicklungsweges zu Roten Riesen auf, um sodann ihre äußere Hülle in das interstellare Medium hinauszublasen. Solche ehemaligen Sternenhüllen sind als so genannte Planetarische Nebel sichtbar. Sie enthalten vor allem Helium-4, Kohlenstoff und Stickstoff. Diese Nebel dehnen sich immer weiter aus, bis sie sich bereits nach weniger als einer Million Jahren mit dem interstellaren Gas vermischt haben (siehe "Planetarische Nebel", Spektrum der Wissenschaft 7/92, Seite 60).

Sterne mit mehr als der achtfachen Sonnenmasse entwickeln sich zunächst ebenfalls zu Roten Riesen, aber ihr Dasein beenden sie auf noch spektakulä-rere Weise: Sie explodieren als Super-novae vom Typ II. Die Explosionswolken reichern das Milchstraßensystem mit einer Vielzahl von Elementen an, darunter hauptsächlich Sauerstoff und andere so genannte Alpha-Elemente: Neon, Magnesium, Silizium und Schwefel, die aus der Verschmelzung von Alpha-Teilchen, also Helium-4-Kernen, entstanden waren.

Es gibt noch andere Supernovae, solche vom Typ Ia, die das interstellare Gas signifikant mit Elementen anreichern. Im Unterschied zum Typ II, wo sich ein einzelner massereicher Stern aufbläht und explodiert, handelt es sich beim Typ Ia um ein Doppelsternsystem, bei dem sich ein Weißer Zwerg und ein Stern mittlerer Masse auf engen Bahnen umkreisen. Sobald der zweite Stern allmählich zu einem Roten Riesen anschwillt, entzieht die Schwerkraft des Weißen Zwerges der äußeren Hülle seines Begleiters nach und nach einen beträchtlichen Teil der Materie. Irgendwann hat der Weiße Zwerg so viel zusätzliches Gas aufgenommen, dass er unter seinem eigenen Gewicht kollabiert. Dadurch kommt es zu einer thermonuklearen Explosion, eben der Supernova vom Typ Ia, die den größten Teil der Sternmaterie in das Weltall schleudert: hauptsächlich Eisen, aber auch Schwefel, Silizium und Kalzium.

Solche Explosionen haben etwa siebzig Prozent des Eisens geliefert, das heute in der Galaxis nachweisbar ist. Will man die allmähliche Anreicherung der interstellaren Materie mit Eisen im Modell nachvollziehen, so ist zu berücksichtigen, dass die Entstehungsrate des Eisens entscheidend von zwei Größen abhängt: von der Gesamtzahl solcher Doppelsternsysteme und von den typischen Massen der Roten Riesen darin. Denn diese Massenwerte bestimmen, nach welcher Zeit das Eisen freigesetzt wird: Sterne mit dem Achtfachen der Sonnenmasse blähen sich schon nach rund 30 Millionen Jahren zu einem Roten Riesen auf. Sonnenähnliche Sterne hingegen erreichen diese Phase erst nach etwa zehn Milliarden Jahren.

Weil Sterne unterschiedlicher Masse nicht mit gleicher Wahrscheinlichkeit entstehen, muss dies in den Modellrechnungen berücksichtigt werden. Sterne ähnlich unserer Sonne beispielsweise sind 150-mal häufiger als solche mit der 30fachen Sonnenmasse. Berücksichtigt man diese Wahrscheinlichkeitsverteilung, so folgt, dass Doppelsternsysteme im Mittel eine Milliarde Jahre benötigen, bis es zu einer Supernova-Explosion vom Typ Ia kommt. Folglich reichert sich die Galaxis eher langsam mit Eisen an.

Die unterschiedlichen Zeitskalen, mit denen die drei beschriebenen Prozesse – Bildung Planetarischer Nebel, Supernovae der Typen Ia und II – neugebildete Elemente im Raum verteilen, liefern uns nun wichtige Anhaltspunkte für die Entwicklung des Milchstraßensystems.

Was die Chemie über Halo und Scheibe verrät

Wir wissen jetzt, dass sich das interstellare Medium recht schnell mit solchen Elementen anreichert, die kurzlebige, also massereiche Sterne produzieren. Die Anreicherung mit Elementen, die von Typ-Ia-Supernovae und von Sternen niedriger oder mittlerer Masse stammen, erfolgt langsamer. Deshalb lässt sich das Verhältnis zweier Elemente, etwa Sauerstoff (O) und Eisen (Fe), die dem interstellaren Medium auf unterschiedlichen Zeitskalen zugeführt werden, als Indikator für das Alter der betreffenden Komponente der Galaxis nutzen.

Durch die Messung der Eisenhäufigkeit einer untersuchten Sternpopulation erschließt sich, wie oben dargestellt, in welchem Ausmaß sich die schweren Elemente bereits angereichert haben. Das gemessene Verhältnis Sauerstoff zu Eisen enthüllt dann, wann sich diese Population gebildet hat.

In der frühen Entwicklungsphase der Galaxis hatten die Hauptproduzenten des Eisens, die Supernovae vom Typ Ia, ihren Beitrag noch nicht geleistet, denn die zugehörigen Doppelsternsysteme brauchen im Mittel eine Milliarde Jahre, bis sie ihr Endstadium erreicht haben. Für das Verhältnis Sauerstoff zu Eisen erwarten wir also in der Frühphase der Galaxis einen nahezu konstanten Wert, weil diese Elemente anfangs mit gleicher Rate in Supernovae vom Typ II entstehen. Wenn aber die Supernovae vom Typ Ia ebenfalls Eisen zu produzieren beginnen, dann sollte das Verhältnis Sauerstoff zu Eisen sinken.

Und was ergibt sich nun, wenn wir uns die Beobachtungsergebnisse ansehen? Das Resultat ist interessant: Ein etwa konstantes Niveau zeigen die Sterne im Halo und diejenigen in der dicken Scheibe, während die Sterne der dünnen Scheibe den abfallenden Ast der Relation besetzen. Der Punkt, an dem die Kurve abknickt, das so genannte Knie, ist ein wichtiger Indikator für die Epoche, in der die Typ-Ia-Supernovae mit der Produktion von Eisen begonnen haben. Weil es gut eine Milliarde Jahre bis zu dieser Epoche gedauert hat, wissen wir, dass sich der Halo bereits bis zu diesem Zeitpunkt gebildet haben muss; die Sterne in der dünnen Scheibe hingegen sind wesentlich später entstanden. Für Sterne im Zentralgebiet der Galaxis, dem Bulge, gibt es bisher nur wenige Messungen der Elementhäufigkeiten, aber diese Messpunkte liegen ebenfalls auf dem konstanten Ast der Kurve. Auch die zentrale Verdickung des Milchstraßensystems ist demnach bereits in der Frühzeit der Galaxis entstanden.

Der Halo ist also alt und wird von alten, metallarmen Sternen bevölkert. Warum aber gibt es dort keine jungen Sterne wie diejenigen der Population I? Sie fehlen im Halo, weil ihr Rohstoff, das interstellare Gas, bereits aufgebraucht ist. In der galaktischen Scheibe hingegen gibt es noch Unmengen an Gas, und deshalb entstehen dort noch heute beständig neue Sterne. Dieser Unterschied ist wichtig für die Modelle der chemischen Evolution des Milchstraßensystems.

Allerdings verstehen wir nicht ganz, weshalb die galaktische Scheibe noch immer in einer Phase der Sternentstehung ist. Ein Erklärungsversuch ist die Annahme, dass kontinuierlich Gas von außen in die Scheibe einfällt – und so Material zur Sternentstehung nachliefert.

Die entgegengesetzte Vorstellung, zumeist "einfaches Modell" genannt, sieht die Galaxis als eine Art geschlossenes System, in das weder etwas hinein noch etwas aus ihm heraus kann. Das einfache Modell kennt also keinen Gaszustrom. Es steht allerdings im Widerspruch zu dem, was die Astronomen das G-Zwerg-Problem nennen. G-Zwerge sind, wie ihr Name schon andeutet, kleine Sterne. Wegen ihrer geringen Masse können sie viele Milliarden Jahre leuchten. Einige stammen aus der frühesten Epoche des Milchstraßensystems. Falls nun die Masse der galaktischen Scheibe im Laufe der Entwicklung der Galaxis konstant geblieben wäre, sollte es in der Sonnenumgebung eine recht große Anzahl metallarmer G-Zwerge geben – einfach, weil das Gas, aus dem diese Sterne hervorgingen, anfangs kaum schwere Elemente enthielt. Tatsächlich gibt es jedoch nur wenige gering angereicherte G-Zwerge in der Umgebung der Sonne. Ein Weg, diesen Widerspruch zu lösen, ist die Annahme, dass die galaktische Scheibe ursprünglich weniger Masse enthielt als heute. Mit der Zeit wuchs ihre Masse durch den Einfall von Gas an.

Das einfache Modell scheitert also an den G-Zwergen; realistische Modelle der Entwicklung des Milchstraßensystems müssen demnach komplizierter sein und den Zustrom von Materie in die galaktische Scheibe berücksichtigen.

Den Urtyp aller Modelle zur Entstehung des Milchstraßensystems entwickelten Anfang der 60er Jahre die drei Astronomen Olin Eggen, Donald Lynden-Bell und Allan Sandage. Ihre Veröffentlichung von 1962 wird heute nach den Initialen der Autoren kurz mit ELS bezeichnet. Das ELS-Modell basiert auf den relativen Geschwindigkeiten und der chemischen Zusammensetzung der Sterne der Populationen I und II. Wie ich schon beschrieben habe, sind die Sterne der Population I relativ reich an schweren Elementen, und sie bewegen sich auf Umlaufbahnen innerhalb der galaktischen Scheibe. Im Gegensatz dazu folgen die gering angereicherten Sterne der Population II elliptischen Bahnen, welche die Ebene der Galaxis kreuzen.

Dieser Unterschied lässt sich dem ELS-Modell zufolge durch die Entstehungsgeschichte der Galaxis erklären. Demnach begann das Milchstraßensystem als sphärische Gaswolke, der Protogalaxis, die langsam in Richtung auf ihr Zentrum kollabierte. Das ursprüngliche Gas enthielt kaum schwere Elemente, deshalb sind auch die Sterne, die sich während dieses Kollapses formten, arm an Metallen. Diese ersten Sterne behielten die kinematischen Eigenschaften des Gases der zusammenfallenden Wolke bei. Deswegen umkreisen die Halosterne der Population II und die Kugelsternhaufen noch heute das Zentrum der Galaxis auf exzentrischen Bahnen. Ein Teil der Gravitationsenergie der Wolke wandelte sich bei der Kontraktion in Wärme um. Außerdem nahm die Rotationsgeschwindigkeit der Wolke wegen der Erhaltung des Drehimpulses zu. Diese Umstände ließen die Wolke bevorzugt entlang ihrer Rotationsachse kollabieren. Sie wurde also immer flacher und formte schließlich eine Scheibe. All dies, so beschreiben es ELS, spielte sich in einem Zeitraum von 300 Millionen Jahren ab. Da nach dieser Ära die massereichen Sterne der ersten Generation bereits in Supernova-Explosionen vergangen waren, enthielt das Gas der Scheibe bereits schwere Elemente. Wie die Sterne im Halo, so spiegeln auch die in der Scheibe entstandenen Sterne der Population I die Kinematik und die chemische Zusammensetzung des Gases zur Zeit ihrer Geburt wieder.

Beobachtungen in den nachfolgenden Jahrzehnten zeigten jedoch, dass sich die Galaxis nicht in einem so raschen Kollaps gebildet haben konnte. Das ELS-Modell in seiner ursprünglichen Form war also nicht korrekt. Die Amerikaner Leonard Searle und Robert Zinn schlugen 1978 eine Alternative vor. Die beiden Astronomen hatten in Kugelsternhaufen des Halos große Unterschiede in den Häufigkeiten schwerer Elemente beobachtet. Demnach waren manche dieser Kugelsternhaufen erheblich älter als andere – und konnten keineswegs gemeinsam in der kurzen Zeitspanne entstanden sein, die das ELS-Modell dafür vorsah.

Statt des Kollapses einer einzigen Wolke schlugen Searle und Zinn deshalb vor, der Halo habe sich aus der Ansammlung vieler Wolkenfragmente gebildet, in denen bereits zuvor Sterne und Kugel-sternhaufen entstanden waren. Wenn solche Fragmente unterschiedliche Entwicklungsgeschichten haben, können sich in ihnen auch Objekte unterschiedlichen Alters befinden. Das Modell von Searle und Zinn wird in gewisser Weise durch den Befund gestützt, dass bis zum heutigen Tag kleine Zwerggalaxien mit dem Milchstraßensystem kollidieren. Diese Zwerggalaxien könnten sich aus übrig gebliebenen Wolkenfragmenten gebildet haben, die in der Frühphase der Galaxis noch nicht zu einem Teil von ihr wurden. Ein Beispiel dafür ist die 1996 entdeckte Sagittarius-Zwerggalaxie. Im Verlauf der Jahrmilliarden pendelt sie immer wieder durch die Ebene des Milchstraßensystems hindurch und verliert jedes Mal einen Teil ihrer Masse. Irgendwann wird sie sich völlig aufgelöst haben (vergleiche "Verborgene Galaxien", Spektrum der Wissenschaft 1/99, S. 54).

Aussetzer in der Sternentstehung

Andere Forscher haben mehrere so genannte serielle oder parallele Modelle für die Entstehung der Galaxis vorgeschlagen. In einem seriellen Modell bildet sich das Milchstraßensystem kontinuierlich im Verlauf eines einzigen Einfall-Ereignisses. Der Halo repräsentiert dabei die frühesten Stadien dieses Vorgangs, die Scheibe formt sich erst, wenn der Halo bereits fertig ist. Das ELS-Modell ist in diesem Sinne auch seriell, allerdings läuft in ihm alles sehr schnell ab. Im Gegensatz dazu formen sich in den parallelen Modellen alle galaktischen Komponenten mehr oder weniger zur gleichen Zeit aus dem gleichen Gas, entwickeln sich dann aber mit unterschiedlicher Geschwindigkeit gemäß ihrer eigenen Sternentstehungsgeschichte.

Neuere Beobachtungen deuten da-rauf hin, dass keines der frühen Modelle die Entstehung der Galaxis vollständig zu erklären vermag. In Modellen wie jenem von ELS bildet sich die Scheibe durch einen gleichmäßigen, dissipativen Kollaps des Halos. Dabei wird für die Entstehung der dicken und der dünnen Scheibe ebenfalls ein gleichmäßiger Übergang angenommen – was aber vermutlich nicht der Fall war.

Folgt man den Argumenten von Rosemary Wyse von der Johns-Hopkins-Universität in den USA und Gerard Gilmore vom Institute of Astronomy in Großbritannien, dann sind Halo und dünne Scheibe deutlich unterschiedliche Einheiten, die nicht aus ein und derselben Gaswolke entstanden sein können. Dies schließen die beiden Forscher aus den Drehimpulsen der Sternpopulationen. Wyse und Gilmore konnten zeigen, dass sowohl der Halo als auch die zentrale Verdickung der Scheibe überwiegend aus Sternen mit niedrigem Drehimpuls bestehen, während die dicke und die dünne Scheibe überwiegend Sterne mit großem Drehimpuls enthalten. Weil aber der Drehimpuls eine physikalische Erhaltungsgröße ist, muss diese Eigenschaft der Sterne eine Eigenschaft des ursprünglichen Gases widerspiegeln. Die unterschiedlichen Komponenten der Galaxis müssen also aus unterschiedlichen Gaswolken mit verschiedenen Drehimpulsen entstanden sein.

Es gibt außerdem Hinweise darauf, dass die Sternentstehung über die Äonen hinweg nicht stetig verlaufen ist. Beobachtungen von Raffaele Gratton vom Astronomischen Observatorium in Padua (Italien) und seinen Kollegen deuten da-rauf hin, dass die Sternentstehungsrate in der Sonnenumgebung relativ früh in der Geschichte der Galaxis rapide nachließ. Das Team um Gratton hat die Häufigkeit von Eisen (Fe) relativ zu zwei Alpha-Elementen (alpha), Sauerstoff und Magnesium, bestimmt, und zwar für Sterne im Halo sowie in der dicken und der dünnen Scheibe. In einer bestimmten Phase der galaktischen Geschichte, deren zeitlicher Verlauf sich im Anstieg von [alpha/H] widerspiegelt, taucht plötzlich eine Lücke auf, in der praktisch keine Alpha-Elemente produziert worden sind. Im Schaubild zeigt sich diese Lücke als unvermittelter Anstieg von [Fe/alpha], während [alpha/H] konstant bleibt. Schaut man nach, welche Sterne auf beiden Seiten der Lücke stehen, so lässt sich folgern, dass die Sternentstehung irgendwann nach der Bildung des Halos und der dicken Scheibe, aber vor der Entstehung der dünnen Scheibe aufhörte.

Auch die zeitliche Dauer der Lücke lässt sich ermitteln. Da die Alpha-Elemente von Typ-II-Supernovae freigesetzt werden, also von Explosionen kurzlebiger Sterne, ist deren Produktionsrate ein Maß für die allgemeine Sternentstehungsrate. Da andererseits die Doppelsternsysteme der Typ-Ia-Supernovae bereits lange vor der Lücke entstanden sind, konnte die Häufigkeit von Eisen in dieser Zeitspanne weiter anwachsen. Ausgehend von der typischen Entwicklungszeit der Typ-Ia-Supernovae ergibt sich, dass die Lücke nicht länger als eine Milliarde Jahre gedauert haben kann.

Gratton und seine Kollegen konnten die von ihnen untersuchten Sterne anhand der Geschwindigkeiten in drei verschiedene Populationen unterteilen. Eine Population bildet den Halo, einen Teil der dicken Scheibe und möglicherweise den zentralen Wulst, der aus dem dissipativen Kollaps eines Teils des Halos entstanden ist. Eine weitere Population bildet die dünne Scheibe, die sich aus einem extrem dissipativen Kollaps der Scheibe gebildet hat. Die dritte Population schließlich besteht aus einer relativ kleinen Zahl von Sternen der dicken Scheibe, die einen besonderen Ursprung haben. Diese Population metallarmer Sterne, deren Eisenhäufigkeit weniger als ein Zehntel des solaren Wertes beträgt, ist vermutlich in Satellitengalaxien entstanden und im Zeitintervall der Lücke in das Milchstraßensystem eingedrungen. So gesehen besitzt also die dicke Scheibe zwei unterschiedliche Komponenten.

Auch andere Wissenschaftler haben herausgefunden, dass die dicke und die dünne Scheibe sich kinematisch unterscheiden. Timothy Beers von der Michigan State University in den USA und Jesper Sommer-Larsen von der Universität Kopenhagen haben die Kinematik und die Zusammensetzung einer großen Zahl metallarmer Sterne untersucht. Ihre Analyse scheint zu zeigen, dass die meisten metallarmen Sterne der dicken Scheibe in einem großen Akkretionsereignis, dem plötzlichem Zustrom einer großen Menge an Materie also, entstanden sind.

Wie lässt sich ein derartiges Ereignis erklären? In einem der Szenarien kollidierte eine Begleitgalaxie mit der galaktischen Scheibe zu einer Zeit, als diese hauptsächlich Gas enthielt. Die dünne Scheibe heizte sich durch die Kollision auf, und ein Teil ihrer Materie wurde herausgeschleudert – Baustoff für die metallarmen Sterne der dicken Scheibe. Der Hauptteil der dünnen Scheibe beruhigte sich wieder und bildete in der galaktischen Ebene eine "neue" dünne Scheibe. Der spätestmögliche Zeitpunkt dieses Ereignisses wird durch die ältesten Sterne der dünnen Scheibe bestimmt, die in der Sonnenumgebung etwa zehn Milliarden Jahre alt sind. Möglicherwei-se ist die Lücke in der Sternentstehungsrate, die Grattons Team gefunden hatte, ein Ergebnis dieser Kollision und markiert eine Unstetigkeit in den Bildungsprozessen von Halo und Scheibe.

Zusammenfassend ergibt sich folgendes plausible Bild: Das Material mit geringem Drehimpuls brachte in einem raschen Kollaps den stellaren Halo und zudem durch dissipative Vorgänge den zentralen Wulst der Galaxis hervor. Insofern bleibt das ELS-Modell richtig. Wie Searle und Zinn vorschlugen, trugen später auch Verschmelzungen mit Zwerggalaxien zum stellaren Halo bei. Doch müssten sich diese Vorgänge weitgehend vor Bildung der dünnen Scheibe ereignet haben, die relativ fragil ist. Deshalb können zerstörerische Kollisionen während der letzten fünf Milliarden Jahre nur in geringem Umfang zu ihrer Sternpopulation beigetragen haben. Ganz anders als im ELS-Modell vorgeschlagen entwickelte sich die dünne Scheibe weitgehend unabhängig vom Halo aus Gas mit einem hohen Drehimpuls. Die Dicke der anfänglichen Scheibe erhöhte sich durch die letzte Verschmelzung mit einer Zwerggalaxie vor etwa zehn Milliarden Jahren. Da die Gasmenge der Scheibe dadurch zunahm, bildete sich dort eine zweite Sternpopulation aus, zu der auch unsere Sonne gehört.

Dieses Bild von der Geschichte der Galaxis ist noch heiß umstritten.

Das Alter der dünnen Scheibe

Angesichts der jüngsten Beobachtungsbefunde haben meine Kollegen und ich ein neues Modell entwickelt, das die Verteilung der Sterne im Halo und in der Scheibe zu erklären versucht. Dieses Modell eines "doppelten Einfalls" setzt voraus, dass ein anfänglicher Kollaps den Halo – und vermutlich auch einen Teil der dünnen Scheibe – hervorbrachte. Die Sternbildung im Halo dauerte an, bis die Gasdichte unter einen kritischen Wert gesunken war. In unserem Modell geht dem Halo das Gas einerseits auf Grund eines sehr effektiven Sternbildungsprozesses aus; andererseits sammelt sich ein Teil des Gases im Zentrum und lässt den Wulst des Milchstraßensystems entstehen. In einer anschließenden zweiten Phase fällt erneut Gas ein, aus der schließlich die dünne Scheibe hervorgeht. Dieses Ereignis könnte durch die Verschmelzung mit einer kleinen Begleitgalaxie ausgelöst worden sein oder durch Gas mit einem hohen Drehimpuls, das einfach länger braucht, um nach innen zu strömen. Jedenfalls entwickeln sich unseren Überlegungen zufolge Halo und Scheibe weitgehend unabhängig voneinander, wie es bereits Wyse und Gilmore vorgeschlagen hatten.

Aus unserem Modell können wir auch das Alter der dünnen Scheibe abschätzen. Bisher wussten die Astrophysiker nur, dass diese Komponente des Milchstraßensystems länger als eine Milliarde Jahre brauchte, um sich zu bilden. Unbekannt war jedoch, ob die meisten Sterne in der Sonnenumgebung innerhalb von vielleicht zwei oder doch eher acht Milliarden Jahren entstanden. Der zuverlässigste Weg zu einer Altersbestimmung scheint über die in den G-Zwergsternen der Sonnenumgebung beobachtete Häufigkeit schwerer Elemente zu führen.

Denn in jeder neu entstandenen Sterngeneration sind einige G-Sterne dabei. Deren Metallgehalt ist höher als der von älteren G-Sternen, weil das interstellare Medium zwischenzeitlich stärker mit schweren Elementen angereichert wurde. Weil aber diese Zwergsterne so langlebig sind, sollten alle jemals gebildeten noch zu beobachten sein. Wenn wir also Randbedingungen wie die Sternentstehungsraten und die allmähliche Anreicherung des interstellaren Gases in unseren Entwicklungsmodellen korrekt berücksichtigen, sollten wir aus den beobachteten Elementhäufigkeiten in den G-Sternen auf die Entstehungsgeschichte der dünnen Scheibe in der Sonnenumgebung schließen können.

Die bis 1995 durchgeführten Modellrechnungen stützten sich auf G-Stern-Beobachtungen, die überwiegend von 1975 stammen. Demnach sollte sich die dünne Scheibe innerhalb von drei Milliarden Jahren gebildet haben. Da dies nicht wesentlich länger ist als die eine Milliarde Jahre für die Entstehung des Halos, machten die alten Modelle die plausible Annahme, dass sich die dünne Scheibe aus dem Halogas gebildet habe. Störend an diesem einfachen Einfall-Modell war allerdings, dass aus dieser Annahme für das Massenverhältnis von Halo zu Scheibe ein Wert von etwa 1:5 folgt, während der empirische Wert bei ungefähr 1:20 liegt.

Basierend auf neuen, präziseren Messungen überarbeiteten nach 1995 zwei Forschergruppen unabhängig voneinander das Datenmaterial über die Elementhäufigkeiten in G-Sternen. Nun ergaben sich weitere Widersprüche zum einfachen Einfall-Modell, die sich nur durch die Annahme einer längeren Bildungsdauer der dünnen Scheibe überwinden ließen.

Unser doppeltes Einfall-Modell, das einen späteren zweiten Gaszustrom vo-raussetzt, ist mit dieser Annahme verträglich. Mit dem neuen Datenmaterial über die G-Sterne finden wir, dass es etwa sieben Milliarden Jahre dauerte, bis sich die dünne Scheibe in der Sonnenumgebung herausgebildet hatte. Dies bedeutet wiederum, dass das Material für die dünne Scheibe nicht aus dem Halo stammt, sondern aus Bereichen außerhalb der Galaxis zugeführt wurde.

Die Entwicklungswege von Halo und Scheibe verliefen demnach weitgehend unabhängig voneinander. Einige Beobachtungen weisen auf verschiedene Bildungsetappen der dünnen Scheibe hin. So legen Messungen der Elementhäufigkeiten in verschiedenen Regionen der Scheibe eine Abnahme des Metallgehalts in Richtung auf das galaktische Zentrum nahe. Dort befinden sich also die ältesten Sterne, und die Sternbildung der Scheibe scheint sich von innen nach außen fortgepflanzt zu haben.

Wächst die Scheibe noch immer?

Meine Kollegen und ich sind dieser Vermutung nachgegangen. Dabei zeigte sich, dass die Sternbildung im inneren Bereich der Scheibe nahezu unabhängig vom Halo verlief, während außen eine Vermischung von Scheiben- und Halogas vor Bildung der Sterne eine Rolle spielte. Wir vermuten, dass diese Vermischung in den Außenregionen der Scheibe sogar heute noch stattfindet.

Sollte die Scheibenbildung weiter außen tatsächlich noch andauern, müsste sich dies eigentlich direkt beobachten lassen. Leo Blitz von der Universität von Kalifornien in Berkeley vermutet, dass die bereits seit über vierzig Jahren bekannten, vergleichsweise kompakten Hochgeschwindigkeitswolken Indizien für diesen Vorgang sind. Demnach müsste das Gas auf die Scheibe zufallen und sich irgendwann mit ihr vermischen. Andere Forscher vermuten allerdings, die Wolken bestünden aus Material, das ursprünglich von Supernovae aus der Scheibe herausgeschleudert wurde, so wie es bei den so genannten galaktischen Fontänen zu beobachten ist (vergleiche "Das Gas zwischen den Sternen", Spektrum der Wissenschaft 3/2002, S. 30).

Um zwischen den beiden Vermutungen unterscheiden zu können, müssen wir die Elementhäufigkeiten in den Hochgeschwindigkeitswolken messen: Sollte es sich um frisches einfallendes Gas handeln, das noch nicht von Sternbildung beeinflusst ist, dürften kaum schwere Elemente nachzuweisen sein. Sind die Wolken hingegen zurückfallende Fontänen, so müssten sie reich an schweren Elementen sein.

Unabhängig von ihrem Ursprung vermehren die Wolken auf jeden Fall die Masse der Scheibe. Ihr Material reicht aus, um durchschnittlich jedes Jahr einen neuen Stern in der Scheibe aufleuchten zu lassen, was im Einklang mit der in der Sonnenumgebung beobachteten Sternentstehungsrate steht.

Um die galaktischen Evolutionsmodelle weiter verfeinern zu können, brauchen wir weiteres Beobachtungsmaterial. So können wir über die Bildungsdauer der dünnen Scheibe außerhalb der direkten Sonnenumgebung nichts aussagen, weil uns von dort keine Daten vorliegen. Wir kämen erheblich weiter, wenn wir zum Beispiel die Verteilung von Deuterium in der Galaxis kennen würden. Dieses schwere Wasserstoff-Isotop ist nämlich ein empfindlicher Indikator für den Gasverbrauch einer betrachteten Region. Denn das gesamte heute vorhandene Deuterium stammt noch aus dem Urknall, da es keinen stellaren Prozess gibt, der es erzeugen würde – nur solche, die es verbrauchen. Der Deuteriumgehalt des interstellaren Gases sinkt also mit fortschreitender Sternbildung. Eine Kartierung des Deuteriumgehalts für die gesamte Galaxis würde so zum Beispiel Unterschiede zwischen innerer und äußerer Scheibe aufdecken können.

Bisher gibt es nur eine einzige Deuterium-Messung für eine Region außerhalb der Sonnenumgebung. Donald Lubowich vom Amerikanischen Institut für Astrophysik in New York und seine Kollegen fanden im galaktischen Zentrum den niedrigsten Deuteriumgehalt, der jemals beobachtet wurde – nur ein Neuntel des Wertes in der Sonnenumgebung. Dieser Befund deckt sich mit der Hypothese, dass die Sternbildung von innen nach außen verlief. Doch vom Außenbereich der Galaxis liegen uns noch keine Messungen vor. Das wird sich freilich in Bälde ändern, denn der Satellit Fuse (Far Ultraviolet Spectroscopic Explorer), der sich bereits in einer Erdumlaufbahn befindet, soll die Deuteriumhäufigkeit in der gesamten Galaxis kartieren.

In fernerer Zukunft wird der europäische Satellit Gaia, der 2012 starten soll, äußerst wertvolle Daten liefern. Gaia wird von mehr als einer Milliarde Sterne mit bisher unerreichter Genauigkeit die Positionen, Geschwindigkeiten und Elementhäufigkeiten messen. Vorerst müssen wir uns mit unserem unvollständigen Kenntnisstand begnügen. Der Astrophysiker Alan Sandage hat dies kürzlich so ausgedrückt: "Die Untersuchung unserer kosmischen Ursprünge ist die Kunst, aus unbefriedigenden Indizien befriedigende Schlussfolgerungen zu ziehen."

Literaturhinweise


Wir sind Kinder der Milchstraße. Entstehung und Geschichte unserer Heimatgalaxie. Von K. Croswell. Scherz, 1999.

Die Milchstraße. Von A. Burkert und R. Kippenhahn. C. H. Beck, 1996.

Die Entstehung des Milchstraßensystems. Von S. van den Bergh und J. E. Hesser in: Spektrum der Wissenschaft, Heft 3/1993, S. 34.

The Chemical Evolution of the Galaxy: The Two-Infall Modell. Von C. Chiappini et al. in: The Astrophysical Journal, Bd. 477, S. 765, 1997.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 2002, Seite 38
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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