Die Entstehung des Milchstraßensystems
Form, Dynamik und Aufbau der Galaxis lassen darauf schließen, daß vielfältige Prozesse bei ihrer Bildung beteiligt waren – der Kollaps einer Gaswolke ebenso wie Sternexplosionen und der Einfang von Materie älterer Sternsysteme.
Bildung und anfängliche Entwicklung des Milchstraßensystems zu rekonstruieren ähnelt dem Vorhaben, unter dem hektischen Zentrum einer sich unablässig wandelnden modernen Stadt die Spuren einer frühen Zivilisation zu erforschen. Anhand ausgegrabener Relikte wie Fundamente, Scherben und Knochen leiten Archäologen ab, wie unsere Ahnen lebten und auf welche Weise sie zur Entwicklung der heutigen Kultur beigetragen haben. Auch Astronomen sammeln und nutzen die unterschiedlichsten spärlichen Indizien, um zu enträtseln, wie die Galaxis und andere Sternsysteme ungefähr eine Milliarde Jahre nach dem Urknall entstanden sind und ihre heutige Gestalt annahmen. Dazu analysieren sie Intensität und spektrale Zusammensetzung des stellaren Lichtes und schließen daraus auf das Alter von Sternen und Sternhaufen sowie auf deren Verteilung und chemischen Aufbau; Formen und Eigenschaften anderer Galaxien liefern ebenfalls wichtige Hinweise auf die Entstehungsgeschichte unserer eigenen.
Auch wenn unsere Heimatgalaxie wohl infolge des Kollapses einer riesigen Gaswolke entstanden ist, kann dies kaum eine ausreichende Erklärung sein. Neuere Beobachtungen zwingen uns, unsere Vorstellung von einer einfachen, schnellen Materieverdichtung durch Massenanziehung in einigen wesentlichen Punkten zu modifizieren. Manche Forscher nehmen nun vielmehr an, daß mehrere Gaswolkenfragmente sich zur Protogalaxis zusammengelagert haben, die erst anschließend kollabierte. Auch verschiedene Varianten dieser Hypothese werden energisch verfochten.
Aber trotz unterschiedlicher Interpretationen der Beobachtungen wird wohl allgemein akzeptiert, daß die einsetzende Sternentstehung und auch Supernova-Explosionen an diesem Prozeß beteiligt waren. Tatsächlich zeigt sich, daß Bildung und Untergang von Sternen in dieser Phase den Aufbau einer Galaxie verändern und ihren weiteren Werdegang beeinflussen.
Aufbau der Galaxis
Einen Großteil der Information über die Entwicklung der Galaxis finden die Astronomen in zwei Bereichen des Milchstraßensystems: dem Halo und der Scheibe. Der nahezu kugelförmige Halo umgibt alle anderen Bereiche der Galaxis und rotiert vergleichsweise langsam; die Sterne und Sternhaufen, aus denen er besteht, sind sehr alt. Die schneller rotierende, abgeflachte Scheibe in der Äquatorebene der Galaxis enthält Sterne mittleren und jüngeren Alters sowie interstellares Gas und Staub. In ihr befinden sich die weit geschwungenen Arme, die ein Kennzeichen von Spiralgalaxien sind; zu einem davon gehört auch unser Sonnensystem (Bild 1).
Die Sonne, ein Stern mittleren Alters, ist etwa 25000 Lichtjahre vom galaktischen Zentrum entfernt, das am Nachthimmel in Richtung des Sternbilds Schütze (Sagittarius) liegt, dort, wo das leuchtende Band der Milchstraße besonders viele Sterne enthält. Für einen Umlauf um das Zentrum benötigt die Sonne ungefähr 200 Millionen Jahre.
Daß die Sonne ein Bestandteil der Milchstraße ist, hat man erst vor weniger als siebzig Jahren entdeckt. Damals vermuteten der Schwede Bertil Lindblad und der Holländer Jan H. Oort, daß die Galaxis ein flacher Diskus sei, der eine differentielle Rotation aufweise (das heißt, nicht wie eine starre Scheibe rotiere). Einige Jahre danach bestätigten John S. Plaskett und Joseph A. Pearce vom Dominion Astrophysical Observatory in Victoria (Kanada) diese Vorstellung anhand einer Auswertung von Stern-Eigenbewegungen, deren Daten innerhalb von dreißig Jahren gesammelt worden waren.
Außer der Scheibe und dem Halo gibt es noch zwei weitere Komponenten: ein verdicktes Zentralgebiet (in der Fachsprache englisch central bulge genannt), das überwiegend alte Sterne enthält, sowie in dessen Zentrum einen kleinen Kern (nucleus), über den sehr wenig bekannt ist, weil er vom dichten Gas des Zentralgebietes verdeckt wird. In den Kernen einiger Spiralgalaxien – so auch in unserer – könnte jeweils ein großes Schwarzes Loch verborgen sein; allerdings wäre ein solches im Kern der Galaxis weniger massereich als jene, die im Zentrum leuchtkräftiger Quasare zu stehen scheinen.
Diese vier Komponenten des Milchstraßensystems sind offenbar in einer ausgedehnten Hülle aus nichtleuchtendem und daher unsichtbarem Material eingebettet. Deren Masse übertrifft bei den meisten Spiralgalaxien die Masse des sichtbaren Gases und der leuchtenden Sterne um das Zehnfache. Woraus diese Dunkelmaterie besteht, wird derzeit noch intensiv diskutiert.
Erste Entwicklungsmodelle
Anhaltspunkte über die Entwicklung der Galaxis liefern ihre Komponenten. Vielleicht die einzige allgemein akzeptierte Vorstellung ist, daß sich das Zentralgebiet zuerst gebildet habe, und zwar infolge des Kollapses einer Gaswolke – immerhin enthält es überwiegend massereiche, alte Sterne. Weit schwieriger sind Aussagen darüber, wann und wie die Scheibe und der Halo entstanden sind.
Im Jahre 1958 schlug Oort ein Modell vor, demzufolge sich die Sternpopulation, die sich im Halo bildete, in eine dicke Scheibe abflachte, die anschließend immer dünner wurde. Währenddessen verdichtete sich der übriggebliebene Wasserstoff zu weiteren Sternen, so daß der Halo sich erneuerte.
Andere Astronomen bevorzugen hingegen ein Modell, nach dem sich diese Populationen getrennt entwickelten. Wie das vor sich gegangen sein könnte, haben insbesondere W.G. Berman und A.A. Sutschkow von der Staats-Universität Rostow am Don (Russische Föderation) aufgezeigt. Sie vermuten, daß die Sterne im Halo und die in der Scheibe zu unterschiedlichen Zeiten entstanden. Gemäß ihrem Modell unterbrach ein starker, von Supernova-Explosionen ausgehender Teilchenwind die Sternentstehung in der Scheibe für einige Milliarden Jahre. Dadurch wäre ein beträchtlicher Teil der Masse der Protogalaxie in den intergalaktischen Raum hinausgetrieben worden.
Ein solcher Vorgang scheint in der Großen Magellanschen Wolke, einer nahen Begleitgalaxie des Milchstraßensystems, noch anzudauern. Dort gibt es nämlich offensichtlich eine Lücke von nahezu zehn Milliarden Jahren zwischen der anfänglichen, überall einsetzenden Bildung kugelförmiger Haufen aus alten Sternen und der erst weit später begonnenen Sternentstehungsphase in der Scheibe.
Andere Befunde unterstützen die Vorstellung von unterschiedlichen Galaxien-Komponenten. So enthält die nahe Spiralgalaxie M33 einen Halo, aber keinen verdickten Zentralbereich. Dies weist darauf hin, daß ein Halo nicht einfach die äußere Fortsetzung einer inneren Struktur ist, wie viele Astronomen bis vor kurzem angenommen haben.
Im Jahre 1962 entwickelten Olin J. Eggen, der nun an den National Optical Astronomical Observatories der Vereinigten Staaten tätig ist, Donald Lynden-Bell von der Universität Cambridge in England und Allan R. Sandage von der Carnegie-Institution in Washington ein Modell, das für die meisten Forscher als Vorbild diente. Demnach bildete sich das Milchstraßensystem innerhalb weniger hundert Millionen Jahre aus einer großen, rotierenden Gaswolke, die sich unter dem Einfluß ihrer Gravitation zusammenzog. Je weiter der Kollaps voranschritt, desto schneller rotierte die Protogalaxie, wodurch sich die heute erkennbaren Spiralarme bildeten. Anfänglich bestand die Wolke vollständig aus Wasserstoff- und Heliumatomen, die während der Anfangsphase des noch heißen und dichten Universums entstanden waren. Im Laufe der Zeit bildeten sich in der Protogalaxie massereiche, kurzlebige Sterne aus. Diese veränderten durch Nukleosynthese die Zusammensetzung der galaktischen Materie, so daß die nachfolgenden Sterngenerationen (und damit auch unsere Sonne) größere Mengen an schwereren Elementen als Wasserstoff und Helium enthalten.
Wenngleich dieses Modell weitgehend akzeptiert wurde, zeigten einige Beobachtungen in den letzten drei Jahrzehnten eine Reihe von Problemen auf. Insbesondere fand man, daß viele der ältesten Sterne und Sternhaufen im galaktischen Halo eine retrograde Bewegung aufweisen – das heißt, sie kreisen entgegengesetzt zu den meisten anderen Sternen um das galaktische Zentrum. Solche Umlaufbahnen lassen vermuten, daß die Protogalaxie eine klumpige Struktur hatte und sich in turbulenter Bewegung befand oder daß sie größere Gaswolkenfragmente einfing, die sich in unterschiedlicher Richtung bewegten. Des weiteren zeigen feinere dynamische Modelle, daß die Protogalaxie nicht auf so homogene Weise kollabieren konnte, wie das einfache Modell voraussagt; vielmehr sollten die dichtesten Bereiche weit schneller nach innen gestürzt sein als die weniger dichten.
Schließlich könnte die Zeitskala zur Bildung von Galaxien durchaus länger gewesen sein, als Eggen und seine Kollegen abgeleitet hatten. Beeinflussende Faktoren sind zum Beispiel Supernova-Explosionen und der von massereichen, kurzlebigen Sternen ausgehende Strom aus Plasmateilchen sowie die in einem aktiven galaktischen Kern erzeugte Energie. Auch könnte sich das Milchstraßensystem anschließend gleichsam verjüngt haben, indem es sich große Mengen noch unveränderter intergalaktischer Materie oder kleine, gasreiche Begleitgalaxien einverleibte.
Mehrere Wissenschaftler haben Szenarien zu entwickeln versucht, die mit diesen Befunden verträglich sind. So mutmaßte Alar Toomre vom Massachusetts Institute of Technology in Cambridge 1977, daß die meisten Galaxien sich aus der Vereinigung mehrerer großer Materieschwaden bildeten und nicht durch den Kollaps einer einzelnen protogalaktischen Gaswolke (Bild 2). Dieser Vorstellung gemäß wäre das Konglomerat erst nach der Vereinigung kollabiert und hätte sich dann zur heutigen Galaxis entwickelt. Leonard Searle von der Carnegie-Institution und Robert J. Zinn von der Yale-Universität in New Haven (Connecticut) haben ein etwas anderes Bild vorgeschlagen, demzufolge sich viele kleine Wolkenteile vereinigten.
Beide Szenarien haben eine Konsequenz: Wenn Sternbildungsprozesse und Supernova-Explosionen in verschiedenen Komponenten der Protogalaxie zu unterschiedlichen Zeiten einsetzten, würde jede sozusagen eine eigene chemische Signatur aufweisen. Kürzlich konnte einer von uns (van den Bergh) zeigen, daß es solche Unterschiede innerhalb der Halo-Populationen der Galaxis tatsächlich gibt.
Neue Beobachtungsdaten
Dies war etwa der Stand der Diskussionen über die galaktische Entstehungsgeschichte, als in den achtziger Jahren moderne Techniken auch extrem lichtschwache Objekte erfaßten. Dies erweiterte die Untersuchungsmöglichkeiten erheblich, da nun auch sogenannte Hauptreihensterne im Halo beobachtet werden konnten – solche, die in ihrem Inneren Wasserstoff thermonuklear umsetzen. (Diese Sterne liegen im Hertzsprung-Russel-Diagramm, in dem die Leuchtkraft von Sternen gegen ihren Spektraltyp aufgetragen ist, auf einem gut definierten Band, der Hauptreihe.) Für diese Art der Energieerzeugung in Sternen, und damit auch für die Dauer ihrer Existenz und ihr Alter, sind die physikalischen Theorien am zuverlässigsten: Je massereicher ein Hauptreihenstern ist, desto leuchtkräftiger ist er und desto schneller verläßt er im allgemeinen die Hauptreihe, das heißt, die Phase des Wasserstoff-Brennens.
Dies bedeutet aber, daß heute lediglich noch solche Hauptreihensterne im Halo vorhanden sind, die ihren Wasserstoffvorrat nur sehr langsam aufbrauchen und darum äußerst lichtschwach sind. Die massereichsten und hellsten von ihnen haben ihr Hauptreihen-Stadium bereits vor langer Zeit verlassen.
Für die Altersbestimmung benutzt man dabei im allgemeinen Sternhaufen, da sich ihre Entfernung zur Erde (und damit die Leuchtkraft der darin enthaltenen Sterne) viel genauer bestimmen läßt als bei Einzelsternen (Bild 3). Mit hochempfindlichen elektronischen Detektoren, sogenannten CCDs (nach englisch charge-coupled device), die das einfallende Licht in elektrische Signale umwandeln, vermag man nun aber lichtschwache Halosterne zu beobachten. CCDs sind herkömmlichen photographischen Emulsionen weit überlegen, auch wenn man aufwendige Software braucht, um ihre Vorteile voll nutzen zu können. Farbe und Leuchtkraft schwacher Sterne in Kugelsternhaufen lassen sich mit CCDs zehnmal genauer bestimmen als zuvor.
Zu den wichtigsten Fortschritten, die durch CCD-Beobachtungen ermöglicht wurden, gehören präzisere Altersbestimmungen. Relative Altersvergleiche haben enthüllt, daß diejenigen Sternhaufen, die ihrer chemischen Zusammensetzung nach als erste nach dem Urknall entstanden sind, sich alle innerhalb eines Zeitraums von 500 Millionen Jahren gebildet haben. Das Alter anderer Sternhaufen variiert weit stärker.
Anhand dieser Altersbestimmungen vermochte man zu ermitteln, wie lange der galaktische Halo zur Bildung brauchte. Michael J. Bolte etwa, nun am Lick-Observatorium (Kalifornien), bestimmte sorgfältig Farbe und Helligkeit von Einzelsternen in den Kugelsternhaufen NGC288 und NGC362 (Bild 4). Vergleiche zwischen diesen Daten und Berechnungen zur Sternentwicklung zeigten, daß NGC288 ungefähr 15 Milliarden, hingegen NGC362 lediglich 12 Milliarden Jahre alt ist. Dieser Unterschied ist größer als der Meßfehler und weist darauf hin, daß der Kollaps des äußeren Halos wahrscheinlich zehnmal länger dauerte, als im einfachen Modell von Eggen, Lynden-Bell und Sandage angenommen.
Es ist durchaus möglich, daß sich die Bildung der Galaxis durch mehr als ein Modell beschreiben läßt. Das Szenario von Eggen, Lynden-Bell und Sandage mag auf das Zentralgebiet und den inneren Halo zutreffen; die weniger dichten äußeren Bereiche der Galaxis aber könnten sich durch die Vereinigung von Materieschwaden entwickelt haben, so wie es Toomre oder Searle und Zinn vermuten. Trifft dies zu, dann hätten sich die Sternhaufen im inneren Halo eher gebildet als diejenigen in den dünneren Außenbereichen, was einigen der beobachteten Altersunterschiede von Kugelsternhaufen Rechnung trüge. Präzisere Modelle können wohl erst anhand von Aufnahmen des Hubble-Weltraumteleskops erarbeitet werden, wenn dessen Optik korrigiert ist.
Alter von Halo und Scheibe
Für ein Szenario der Galaxienentstehung muß freilich außer dem Alter des Halos auch das der galaktischen Scheibe bekannt sein. Es läßt sich anhand von Weißen Zwergen ermitteln – kleinen, kompakten Sternen, die keine Strahlungsenergie mehr erzeugen und nur sehr langsam abkühlen.
Daraus, daß solche Objekte in der näheren Umgebung der Sonne fehlen, kann man schließen, daß die Sternpopulation in der Scheibe recht jung ist – jünger als etwa 10 Milliarden Jahre. Dieses Alter ist erheblich geringer als das der Sternhaufen im Halo und damit verträglich mit der Vorstellung, daß die galaktische Scheibe sich nach dem Halo entwickelt hat.
Es ist aber bisher nicht eindeutig erwiesen, ob es tatsächlich eine Zeitlücke gibt zwischen der Phase, in der die Bildung des Halos abgeschlossen war, und derjenigen, in der die galaktische Scheibe zu entstehen begann. Um die Dauer einer solchen Übergangsphase abzuschätzen, haben verschiedene Forscher das Alter der ältesten Scheibensterne mit dem der jüngsten Halosterne verglichen. Die ältesten bekannten Sternhaufen in der galaktischen Scheibe, NGC188 und NGC6791, sind Untersuchungen von Pierre Demarque und David B. Guenther von der Yale-Universität sowie Elizabeth M. Green von der Universität von Arizona in Tucson zufolge ungefähr acht Milliarden Jahre alt; und eine Arbeitsgruppe um Peter P. Stetson in meinem Institut sowie Roberto Buonanno vom Astronomischen Observatorium in Rom ermittelten für die jüngsten Haufen in der Halo-Population – Palomar-12 und Ruprecht-106 – etwa elf Milliarden Jahre. Sollte sich diese Altersdifferenz bestätigen, könnten die jungen Kugelsternhaufen die gesuchten Bindeglieder zwischen der Scheiben- und der Halo-Population sein.
Indes ist bis jetzt das relative Alter nur für wenige Kugelsternhaufen genau bekannt. Solange keine bessere Datenbasis zur Verfügung steht, könnte man zum Beispiel einwenden, daß das Milchstraßensystem Palomar-12 und Ruprecht-106 durch Gezeitenkräfte aus den Magellanschen Wolken eingefangen habe. Ein solcher Prozeß, den Douglas N.C. Lin von der Universität von Kalifornien in Santa Cruz und Harvey B. Richer von der Universität von Britisch-Kolumbien in Vancouver vorgeschlagen haben, würde die Bedingung einer langen Kollapsdauer beseitigen. Auch könnte die augenscheinliche Alterslücke zwischen Scheibe und Halo lediglich durch bisher unentdeckt gebliebene systematische Fehler bei der Altersbestimmung vorgetäuscht sein. Des weiteren ist denkbar, daß die gravitative Wechselwirkung mit massereichen interstellaren Wolken die ältesten Sternhaufen in der Scheibe auseinandergerissen und nur jüngere zurückgelassen hat.
Bei der Bestimmung des relativen Alters von Halo und Scheibe lernt man viel über die Reihenfolge, in der die Komponenten der Galaxis entstanden sind. Offen bleibt jedoch das tatsächliche Alter der gesamten Galaxis. Ein verläßlicher Wert würde so etwas wie einen absoluten Rahmen geben, aus dem sich die Reihenfolge der einzelnen Bildungsschritte entnehmen ließe.
Die meisten Astronomen, die Sternhaufen untersuchen, glauben, daß die ältesten Sternhaufen – und damit auch die Galaxis – etwa 15 bis 17 Milliarden Jahre alt sind. Daß dies recht realistisch ist, ergibt sich aus der Häufigkeit von radioaktiven Isotopen in Meteoriten: Nach den Konzentrationsverhältnissen von Thorium-232 zu Uran-235, Uran-235 zu Uran-238 sowie Uran-238 zu Plutonium-244 sollte die Galaxis zwischen 10 und 20 Milliarden Jahren alt sein. Wenngleich diese radiometrische Altersbestimmung wohl weniger genau ist als die anhand stellarer Beobachtungen und Theorien, ist die Übereinstimmung der Werte ermutigend.
Befunde an anderen Galaxien
Aus der Beobachtung anderer Galaxien können wir viel über die bis zu einem gewissen Grade analoge Entwicklung des Milchstraßensystems lernen. Insbesondere wird dadurch eine Perspektive zugänglich, die uns für unser eigenes Sternsystem verwehrt ist – der Blick von außen (Bild 6). Auch läßt sich so feststellen, ob die Vorgänge, durch die sich die Galaxis entwickelt hat, einzigartig sind oder nicht.
Es fällt unmittelbar auf, daß Galaxien mannigfaltige Formen aufweisen (Bild 5 oben). Der amerikanische Astronom Edwin P. Hubble ordnete sie 1925 in einem Klassifikationsschema; dabei läßt sich jeder Grundtyp – elliptisch, spiralförmig und irregulär – noch feiner unterteilen.
Hinsichtlich ihrer Entwicklungsphase sind elliptische Galaxien am weitesten fortgeschritten. Sie haben ihr gesamtes (oder nahezu alles) Gas für die Sternbildung verbraucht, die etwa 10 bis 15 Milliarden Jahre andauerte. Im Gegensatz zu Spiralgalaxien fehlen den elliptischen Sternsystemen scheibenförmige Strukturen. Irreguläre Systeme weisen weder Spiralarme noch einen kompakten Kern auf.
Die Ursache der unterschiedlichen Strukturierung ist in der Geschwindigkeit zu suchen, mit der das Gas zur Sternentstehung verbraucht wurde. Anhand dieser Verbrauchsrate ließen sich Abschätzungen über das Alter und den Entwicklungsweg des Milchstraßensystems bestätigen.
Die Sternbildung in elliptischen Galaxien scheint vor etwa 15 Milliarden Jahren schnell und vehement eingesetzt und danach rasch abgenommen zu haben (Bild 5 unten). In den meisten irregulären Galaxien ging sie hingegen weit langsamer und mit nahezu gleichbleibender Geschwindigkeit vor sich; deshalb verfügen sie noch über einen beträchtlichen Teil ihres ursprünglichen Gases. Die Sternbildungsrate in Spiralgalaxien scheint nun gleichsam einen Kompromiß zwischen denen in den beiden anderen Hauptsystemen darzustellen – die Sternbildung setzte weniger vehement ein als in elliptischen Galaxien, dauert aber bis heute an.
Spiralgalaxien unterteilt man weiter in die Unterkategorien Sa, Sb und Sc, um der relativen Größe ihres Zentralbereichs und der Krümmung der Spiralarme Rechnung zu tragen. Objekte vom Typ Sa haben die ausgedehntesten Zentralbereiche und die am stärksten gewundenen Spiralarme; sie enthalten zudem viel neutrales Wasserstoffgas und sind von jungen blauen Sternen durchsetzt. Sb-Spiralgalaxien weisen relativ große Populationen dieser Sterne in ihren Spiralarmen auf; der Zentralbereich aus alten roten Sternen ist weniger ausgeprägt als beim Typ Sa. Bei Sc-Spiralgalaxien schließlich stammt das Licht zumeist von jungen blauen Sternen in den Spiralarmen; ein Zentralbereich ist wenig auffällig oder fehlt völlig. Das Milchstraßensystem ist vermutlich zwischen die Unterkategorien Sb und Sc einzuordnen.
Die Befunde an anderen Galaxien scheinen mit den für das Milchstraßensystem gewonnenen Daten konsistent zu sein: Die Sterne in den Zentralbereichen sind am frühesten entstanden, und die dichten inneren Bereiche der Gaswolke müssen zuerst kollabiert sein. Infolgedessen wurde der größte Teil des anfänglich vorhandenen Gases nahe den Kernen für die Sternbildung verbraucht oder von Supernova-Explosionen davongeblasen.
Schlüsse aus dem Chemismus der Sterne
Auch aus der chemischen Zusammensetzung der Sterne läßt sich auf die Entstehungsgeschichte des Milchstraßensystems schließen, denn daraus kann man das relative Alter der Sternpopulationen ermitteln. Die ersten Sterne begannen die Protogalaxis mit schwereren Elementen als Helium, die sie in ihrem Inneren oder auch bei Supernova-Explosionen erzeugt hatten, gleichsam zu verunreinigen. Nachfolgende Sterngenerationen nahmen anschließend die Metalle, wie die Astronomen alle Elemente außer den aus dem Urknall hervorgegangenen – eben Wasserstoff und Helium – bezeichnen, auf. Somit hängt die chemische Zusammensetzung eines Sterns vom Zeitpunkt seiner Entstehung ab und liefert Hinweise auf seine Entwicklungsgeschichte, die man mit Altersschätzungen vergleichen kann.
Mit welcher Häufigkeit die einzelnen Metalle erzeugt worden sind, hängt davon ab, welche Stern- und Supernova-Typen an diesem Prozeß beteiligt waren. Die meisten Elemente, die im Periodensystem nahe dem Eisen liegen, entstanden der gängigen Meinung nach in Supernovae des Typs Ia, deren Vorläufersterne Komponenten eines Doppelsternsystems waren und beide das Mehrfache der Sonnenmasse aufwiesen. Andere schwere Elemente – zum Beispiel Sauerstoff, Neon, Magnesium, Silicium und Calcium – entstanden durch Supernovae der Typen Ib, Ic oder II; deren Vorläufer sind entweder Einzel- oder Doppelsterne mit dem Zehn- bis Hundertfachen der Sonnenmasse und kurzer Lebensdauer.
Sterne, die sich in der Folgezeit bildeten, enthielten von Anfang an eine gewisse Menge Metalle. Die Sonne zum Beispiel besteht zu 1 bis 2 Prozent aus solchen schweren Elementen. Sterne im Zentralbereich der Galaxis enthalten davon einen höheren Anteil als solche in der äußeren Scheibe oder im Halo. Mit jedem Kiloparsec (rund 3300 Lichtjahren) Abstand vom Zentrum des Milchstraßensystems nimmt die Häufigkeit schwerer Elemente in den Sternen jeweils um den Faktor 0,8 ab. Der mittlere Metallgehalt von etwa 70 Prozent der rund 150 bekannten galaktischen Kugelsternhaufen beträgt nur ein Zwanzigstel, derjenige der übrigen ungefähr ein Drittel des solaren Wertes.
Genauere Analysen zeigen, daß in Halosternen das Häufigkeitsverhältnis von Sauerstoff zu Eisen größer ist als in der metallreichen Scheibenpopulation (Bild 8). Dieser Unterschied weist darauf hin, daß während der Halophase der galaktischen Evolution schwere Elemente hauptsächlich durch Supernovae des Typs Ib, Ic und II entstanden sind. Es ist freilich rätselhaft, warum die eisenproduzierenden Supernovae des Typs Ia, deren Vorläufersterne zum Teil wohl nicht mehr als wenige hundert Millionen Jahre existierten, die chemische Zusammensetzung des Gases, aus dem sich dann die Halosterne und einige Kugelsternhaufen bildeten, nicht stärker beeinflußt haben. Womöglich war der Halo so schnell kollabiert, daß keine Supernovae vom Typ Ia Eisen zu seinem Gas beisteuern konnten.
Diese Vorstellung steht jedoch im Widerspruch zu dem beobachteten Altersunterschied bis zu vier Milliarden Jahren bei galaktischen Kugelsternhaufen, der auf einen langsamen Kollaps des Halos hinweist. Es ist daher denkbar, daß von Supernova-Explosionen herrührende galaktische Winde bevorzugt das eisenhaltige Material in den intergalaktischen Raum hinausgeblasen haben. Ein solcher Ausleseprozeß wäre möglich gewesen, wenn die meisten Supernovae der Typen Ib, Ic und II in dichten und diejenigen vom Typ Ia überwiegend in weniger dichten Gaswolken explodierten; das Material der weniger dichten Wolken wäre dann zusammen mit dem von Ia-Supernovae stammenden Eisen leichter von den galaktischen Winden fortgetragen worden als das Auswurfmaterial der anderen Supernovae.
Trotz der Datenfülle reicht die bisherige Information über den Metallgehalt noch nicht aus, den Zeitpunkt der Bildung von Scheibe und Halo zu bestimmen. Sandage und sein Kollege Gary A. Fouts vom Santa-Monica-College (Kalifornien) fanden Indizien dafür, daß sich beide Galaxis-Komponenten doch fast synchron in einem Zusammensturz von Materie bildeten. Demgegenüber glauben John E. Norris und seine Mitarbeiter vom Australian National Observatory in Canberra sowie andere, daß sich Halo und Scheibe getrennt voneinander entwickelten und – ähnlich wie Searle und Zinn vermuten – die Bildung des gesamten Milchstraßensystems viel chaotischer ablief.
Solche Unterschiede in den Schlußfolgerungen beruhen oft darauf, welche Sterne man für eine Untersuchung auswählt. Beispielsweise können manche eine chemische Zusammensetzung haben, die sie als Halosterne auszuweisen scheint; ihrem Bewegungsmuster nach sind sie aber zu einer der Subkomponenten der Scheibe zu zählen. Bernard Pagel vom Nordischen Institut für Theoretische Physik in Kopenhagen sagte es so: „Katzen und Hunde mögen das gleiche Alter und den gleichen Metallgehalt haben, sie bleiben aber dennoch Katzen und Hunde.“
Künftige Entwicklung der Galaxis
Aus der beobachteten Sternbildungsrate in den Scheiben anderer Spiralgalaxien läßt sich – wenn man annimmt, daß diese Rate sich mit der Zeit nicht ändert – leicht ausrechnen, daß nahezu das gesamte noch verbliebene Gas des Milchstraßensystems in wenigen Milliarden Jahren verbraucht sein wird. Danach können sich keine Sterne mehr bilden, und die Scheibe der Galaxis wird immer lichtschwächer, bis sie nur noch aus Weißen Zwergen und Schwarzen Löchern besteht, die in eine Hülle aus dunkler Materie eingebettet sind.
Es gibt mehrere Indizien für ein solches Szenario der künftigen Entwicklung. Im Jahre 1978 entdeckten Harvey Butcher vom Kapteyn-Laboratorium in den Niederlanden und Augustus Oemler von der Yale-Universität, daß in dichten, etwa sechs Milliarden Lichtjahre entfernten Galaxienhaufen noch zahlreiche Spiralgalaxien zu finden sind, in nahen hingegen kaum oder gar nicht. Dies zeigt, daß die Scheiben der meisten Spiralgalaxien in dichten Haufen während der letzten sechs Milliarden Jahre verblaßt sind, denn es ist nicht anzunehmen, daß ausgerechnet dieser Typus nicht vertreten wäre. Ein noch direkterer Hinweis auf eine solch rasche Entwicklung ist, daß blaue Galaxien – so genannt, weil sich in ihnen sehr schnell große, bläulich leuchtende Sterne bilden – heute weniger häufig zu sein scheinen als noch vor einigen Milliarden Jahren.
Allerdings können in den Scheiben von Spiralgalaxien auch länger neue Sterne entstehen, wenn ihnen reichlich Wasserstoff zuströmt, etwa von einer großen Gaswolke oder einer anderen Galaxie mit größerem Gasvorrat in der Nähe. Auf diese Weise wird sich auch das Milchstraßensystem sozusagen verjüngen – wenn die Magellanschen Wolken aufgrund der Massenanziehung so nahe gekommen sind, daß es diese Satelliten verschlingen kann (Bild 7). Dennoch wird die Galaxis einmal nicht mehr am kosmischen Geschehen des Aufblühens von Sonnen und der dynamischen Umwandlung von Materie teilhaben, sondern ähnlich wie frühe Kulturen auf der Erde nur noch unscheinbare Relikte hinterlassen.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1993, Seite 34
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