Die Entwicklung der Atmosphäre aus dem Erdmantel
Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hat auf vielen wissenschaftlichen Gebieten und insbesondere in den Erdwissenschaften bedeutende neue Erkenntnisse gebracht. So löste die Theorie der Plattentektonik in den fünfziger Jahren eine Revolution in der Vorstellung von Aufbau und Dynamik der Erde aus, die sämtliche Bereiche der Geowissenschaften erfaßte. Außerdem ermöglichten immer raffiniertere physikalische und chemische Meßmethoden, unseren Planeten gründlicher denn je zu durchleuchten. Mit am wichtigsten und aussagekräftigsten sind Verfahren, die sich zunutze machen, daß von den meisten chemischen Elementen mehrere Isotope (Atome unterschiedlicher Masse) existieren, die als Markierungsstoffe oder – wie man nach dem englischen Wort sagt – Tracer vielfache Rückschlüsse auf Stoffkreisläufe und die Entwicklungsgeschichte unseres Planeten erlauben.
Beispielsweise können gewisse radiogene Isotope, die beim radioaktiven Zerfall entstehen, als erdgeschichtliche Chronometer dienen. Ihnen ist es zu verdanken, daß sich die relative Zeitskala, die früher anhand von Schichtfolgen und Fossilien aufgestellt worden war, in eine absolute umwandeln ließ. Durch sie kennen wir auch das Alter der Erde von 4,55 Milliarden Jahren. Isotope liefern aber noch weitaus mehr Informationen.
Genauso wie in der Medizin mit radioaktiv markierten Molekülen als Tra-cern beispielsweise Stoffwechselprozesse im menschlichen Körper erforscht und verfolgt werden, dienen Isotope den Geochemikern als Indikatoren, um Vorgänge im Inneren des ansonsten unzugänglichen Erdballs aufzuklären. Pionier dieser Methoden war Gerald Wasserburg am California Institute of Technology in Pasadena. In Europa wurden sie unter anderem von Claude J. Allègre am Laboratoire de Géochimie et Cosmochimie des Institut de Physique du Globe in Paris weiterentwickelt.
Anders als in der Medizin können Isotope allerdings nicht als Markierungsstoffe ins Erdinnere gebracht werden. Vielmehr sind Geochemiker für ihre Untersuchungen auf Paare von radioaktiven Mutter- und radiogenen Tochter-Isotopen angewiesen, die von Natur aus in irdischen Materialien vorkommen.
Solche Tracer-Paare erlauben es, die verschiedenen Erdschichten – im wesentlichen die starre Schale oder Lithosphäre, den Mantel und den Kern – gleichsam mit einer isotopischen Farbe zu kennzeichnen, die sich als charakteristisches Isotopenverhältnis darstellt. Sie geben aber auch Aufschluß darüber, wie und wann die Schichten sich trennten und wie lange dieser Vorgang dauerte.
Nach allgemeiner Überzeugung entstanden die inneren Planeten des Sonnensystems – Merkur, Venus, Erde und Mars – durch die Kollision einer Unzahl kleiner Körper, wie sie auch heute noch in Form von Meteoriten mit der Erde zusammenstoßen (siehe „Planetesimals – Urstoff der Erde“ von George Wetherill, Spektrum der Wissenschaft, August 1981, Seite 106). Unter dem Einfluß der kinetischen Energie, die bei der Kollision der Kleinkörper frei wurde, und der Wärme, die beim Zerfall radioaktiver Elemente entsteht, schieden sich die Bestandteile der Urplaneten und sammelten sich in getrennten Reservoiren (Bild 2).
Bei dieser Differenzierung wurden insbesondere auch die chemischen Elemente umverteilt. So ballten sich im Inneren unseres Planeten die besonders schweren Elemente Eisen und Nickel zu einer metallischen Phase zusammen und bildeten den Erdkern. Elemente, die sich zu zunächst schmelzflüssig vorliegenden Gesteinen geringer Dichte wie Granit verbanden, häuften sich in den auf der Oberfläche erstarrenden Kontinenten an. Diese schwammen gleichsam auf dem etwas schwereren, zähplastischen Gesteinsmaterial des Erdmantels.
Bei diesem Umschichten und Seigern der Urerde entwich ein großer Teil der in den Planetesimals enthaltenen leichtflüchtigen Stoffe und umgab den Planeten mit einer Gashülle. Diese Uratmosphäre war also ein Sekundärprodukt und hatte als solches eine ganz andere Zusammensetzung als der solare Nebel, aus dem das Sonnensystem kondensierte, oder die äußeren Gasplaneten Saturn, Jupiter und Uranus, die hauptsächlich aus Wasserstoff und etwas Helium bestehen. Hauptkomponenten der Gashüllen um die inneren Planeten waren Kohlendioxid, Stickstoff und Wasserdampf.
Auf der Erde kondensierte, als sie abzukühlen begann, der Wasserdampf und sammelte sich in den Meeren. Durch den entstehenden meteorologischen Wasserkreislauf wurde dann allmählich das Kohlendioxid aus der Atmosphäre ausgewaschen und als Carbonat im Boden gebunden. Schließlich assimilierten die pflanzlichen Lebewesen bei der Photosynthese atmosphärisches Kohlendioxid und gaben statt dessen Sauerstoff ab. So nahm die Erdatmosphäre erst im Laufe der Zeit ihre heutige Zusammensetzung an (siehe „Die Geschichte der Erdatmosphäre“ von Manfred Schidlowski, Spektrum der Wissenschaft, April 1981, Seite 16).
Außer Kohlendioxid, Stickstoff und Wasserdampf, deren Mengen sich seither teils beträchtlich verändert haben, enthielt die Uratmosphäre allerdings auch Spuren der Edelgase Helium, Neon, Argon, Krypton und Xenon. Im Unterschied zu den Hauptbestandteilen der einstigen Lufthülle gehen diese Gase in der Natur keine chemischen Verbindungen ein. Da sie sich somit unverändert in der Atmosphäre erhalten haben und zudem relativ leicht aus allen Materialien entweichen, bilden sie ideale Tracer für die Erforschung des Gasaustausches zwischen fester Erde und Atmosphäre.
Orte dieses Gasaustausches sind insbesondere die mittelozeanischen Rücken, wo sich jeweils zwei Lithosphärenplatten trennen und Gesteinsschmelze, die aus dem Mantel in die entstehende Lücke aufsteigt, zu neuer Lithosphäre erstarrt (Bild 1). Im Pariser Edelgaslaboratorium haben wir an etwa 150 Basaltproben von mittelozeanischen Rücken und 50 Gesteinsproben verschiedener Vulkaninseln die Konzentration und das Verhältnis der Edelgas-Isotope ermittelt. Die Analysen lieferten aufschlußreiche Informationen über die Entstehung der Atmosphäre und die innere Struktur und Zusammensetzung der Erde.
Edelgase als Indikatoren für das Alter der Atmosphäre
Wichtig ist, daß sich das Mengenverhältnis der Isotope von schweren chemischen Elementen beim teilweisen Aufschmelzen oder Auskristallisieren des Gesteinsmaterials praktisch nicht verändert. Wenn man zum Beispiel natürliches Argon betrachtet, das aus drei Isotopen mit den Massenzahlen 36, 38 und 40 besteht, so sollte das Mengenverhältnis von Argon-40 zu Argon-36, das wir im Basalt eines Vulkans finden, das gleiche sein wie an der Stelle im Erdmantel, an der die Lava durch partielles Aufschmelzen entstanden ist. Mark D. Kurz und Bill Jenkins vom Ozeanographischen Institut in Woods Hole (Massachusetts) haben nachgewiesen, daß dies in den Basalten der mittelozeanischen Rücken oder kurz MORBs (nach englisch mid-ocean ridge basalts) sogar für das leichte Helium gilt. Da diese aus Mantelmaterial gebildeten Basalte geologisch sehr jung sind, haben sich ihre Isotopenverhältnisse seit ihrer Verfestigung am Meeresboden nicht durch radioaktiven Zerfall geändert. Durch Analyse der in den MORBs eingeschlossenen Edelgase kann man also die heutigen Isotopenverhältnisse im Erdmantel ermitteln. Mit Unterstützung von André Lecomte haben wir am Institut de Physique du Globe zwei Edelgasspektrometer, Aresibo I und II, in Betrieb genommen, mit denen sich die Konzentrationen und Isotopenverhältnisse aller in Gesteinen enthaltenen Edelgase ermitteln lassen. Im Jahre 1982 gelang uns damit erstmals der Nachweis, daß das Mengenverhältnis der Xenon-Isotope (mit den Massenzahlen 124, 126, 128 bis 132, 134 und 136) in den basaltischen Gläsern von mittelozeanischen Rücken von dem in der Atmosphäre verschieden ist. Eines der Isotope, nämlich Xenon-129, ist besonders interessant. Die höchsten Isotopenverhältnisse
Keineswegs trivial: die Meßtechnik
Damit solche Analysen wirklich zuverlässig sind, bedarf es einer ausgeklügelten Meßtechnik. In unserem Laboratorium werden die Glasproben entweder stufenweise bei immer höheren Temperaturen entgast oder unter Ultrahochvakuum zerstoßen und die dabei entweichenden Edelgase direkt in einem Massenspektrometer gemessen. Beide Methoden sollen verhindern, daß Kontaminationen mit im Meerwasser gelösten atmosphärischen Edelgasen bei der Messung mit erfaßt werden. Die mittelozeanischen Basalte entstehen am Meeresboden in bis zu mehreren Kilometern Tiefe. Nun enthält Meerwasser relativ große Mengen gelöster atmosphärischer Edelgase, die sich mit denen in den Basalten mischen können. Einer der Gründe, warum wir ausschließlich die äußeren, glasartigen Bereiche der MORBs (siehe Bild 6) verwenden, liegt darin, daß diese sich beim Kontakt der ausströmenden Lava mit dem Meerwasser schlagartig bilden, wobei die enthaltenen Edelgase praktisch in ihnen eingesiegelt werden. Das Innere der am Meeresboden austretenden Basaltströme erstarrt dagegen langsam und kristallisiert dabei aus, so daß vor der Verfestigung ein Teil der Edelgase durch Risse in der äußeren glasigen Schicht entweichen kann. Außerdem wird das Gestein während der Kristallisation von Meerwasser durchtränkt und von den darin gelösten Edelgasen regelrecht überschwemmt: Immerhin enthält Meerwasser ungefähr 5000mal mehr Argon als das gleiche Volumen Basalt. Im Gegensatz dazu nehmen die basaltischen Gläser kein Meerwasser auf und werden auch nicht davon angegriffen oder zersetzt; die in ihnen eingeschlossenen magmatischen Gase sind daher auf lange Zeit vor jeder Kontamination geschützt. Werden die Edelgase nun durch stufenweises Erhitzen der Gläser unter Hochvakuum allmählich ausgetrieben, zeigt sich im allgemeinen, daß das Argon in den Niedertemperaturfraktionen isotopisch dem in der Atmosphäre nahekommt. Offenbar handelt es sich um Argon aus der Luft, das durch Adsorption relativ schwach an die Oberfläche des Gesteins gebunden ist. Erst wenn man die Entgasungstemperatur auf 900 bis 1000 Grad Celsius erhöht und die Glä-ser aufschmelzen, wird Argon mit einem sehr hohen
Die Zirkulation des Erdmantels
Wenn aus dem Erdmantel entweichende Gase die Atmosphäre geschaffen haben, muß das freilich nicht heißen, daß der gesamte Mantel ausgegast ist. Tatsächlich weiß man aus den Laufzeiten und der Reflexion von Erdbebenwellen im Erdinneren, daß der Erdmantel in zwei Schichten gegliedert ist: Die obere reicht von etwa 10 bis 670 Kilometern, die untere von 670 bis 2900 Kilometern Tiefe. Könnte es also sein, daß die Entgasung auf den oberen Mantel beschränkt blieb? Diese Frage berührt unmittelbar eines der großen aktuellen Probleme der Erdwissenschaften (siehe „Innenansichten der Erde“, Spektrum der Wissenschaft, August 1991, Seite 72). Weitgehend einig sind sich die Geowissenschaftler, daß der große Wärmeunterschied zwischen dem relativ kühlen oberen und dem heißen unteren Rand des Erdmantels Konvektionsströmungen verursacht, bei denen an gewissen Stellen unter der Wirkung von Auftriebskräften heißes und dadurch spezifisch leichteres Material aus der Tiefe nach oben dringt und dafür an anderen Stellen kühleres Material von oben absinkt (Bild 1). Geteilte Meinungen herrschen dagegen über die Größe der Konvektionswalzen. Nach einem Modell erstrecken sie sich über die ganze Tiefe des Erdmantels. Bei einem anderen dagegen liegen zwei weitgehend unabhängig voneinander konvektierende Schichten übereinander. Für beide Modelle gibt es gute Argumente. Können die Edelgase vielleicht eine Entscheidungshilfe geben? Unter allen vulkanischen Materialien sind die MORBs, die sich aus teilweise geschmolzenem Gestein des oberen Erdmantels am Meeresboden gebildet haben, weitaus die häufigsten. Es gibt in den Ozeanen aber auch zahlreiche vulkanische Inseln und submarine Vulkane. Viele davon bestehen zwar gleichfalls aus Lava, deren Ursprung nachweislich im oberen Mantel liegt; bei einigen dagegen – wie Hawaii, Island oder Réunion – lassen verschiedene, insbesondere petrologische Befunde darauf schließen, daß ihr Gestein aus einer besonders tiefen Zone des Erdmantels stammt. Man bezeichnet solche Stellen isolierter, sehr tiefreichender vulkanischer Aktivität auch als Hot Spots – auf deutsch: heiße Flecken (siehe „Hot Spots: heiße Flecken auf der Erde“ von Gregory E. Vink, W. Jason Morgan und Peter R. Vogt, Spektrum der Wissenschaft, Juni 1985, Seite 62). An 50 Basaltgläsern von Hot-Spot-Vulkaninseln haben wir die Mengenverhältnisse der verschiedenen Edelgas-Isotope bestimmt. Interessanterweise unterscheiden sie sich sehr stark von denen der MORBs und ähneln statt dessen weitgehend denen von Luft. So ergaben sich für Neon und Xenon dieselben Werte wie in der Atmosphäre, und auch das Verhältnis
Signaturen von Mischungen
Genauer betrachtet, sind die Ergebnisse unserer Analysen allerdings etwas komplizierter. Selbst wenn die Gesteinsproben unter Ultrahochvakuum zerstoßen oder stufenweise entgast werden und im letzteren Fall nur die Proben mit den höchsten Anteilen an radiogenen Isotopen Berücksichtigung finden (weil die anderen kontaminiert sein könnten), zeigen die Isotopenverhältnisse der Edelgase in Basaltgläsern vom gleichen Typ nämlich gewisse Schwankungen. Wir erklären sie damit, daß sich – bedingt durch die Mantelkonvektion – Materialien verschiedener Herkunft teilweise mischen (Bild 1). So kann Magma aus dem unteren Mantel bei seinem Aufstieg in sogenannten Plumes (pilzartigen Aufströmungen im Erdmantel, die in gewisser Weise Rauchsäulen in der Atmosphäre ähneln) etwas Material aus dem oberen Mantel aufnehmen. Umgekehrt wird an mittelozeanischen Rücken unter Umständen in geringem Ausmaß auch Gestein aus größerer Tiefe mit nach oben geführt. Solche Mantelmischungen ergeben logischerweise Isotopenverhältnisse, die zwischen den Werten der beiden Komponenten liegen. Für diese Interpretation spricht, daß die Isotopenverhältnisse der verschiedenen Edelgase in Proben von unterschiedlichen mittelozeanischen Rücken miteinander korrelieren: Findet man bei einem Verhältnis eine Abweichung, so zeigen die anderen ausnahmslos ebenfalls Abweichungen – und zwar in dieselbe Richtung. Genau dies ist aber für Mischungen zu erwarten. Solche linearen Korrelationen treten dabei nicht nur zwischen den Mengenverhältnissen der Isotope von ein und demselben Element auf, sondern auch zwischen denen verschiedener Edelgase (Bild 7). Überdies sind die Isotopenverhältnisse der Edelgase sogar mit denen nicht-gasförmiger Elemente korreliert, die üblicherweise ebenfalls als Tracer verwendet werden. Diese schwerflüchtigen Elemente wie Strontium, Neodym und Blei haben sich im Verlauf der Erdgeschichte in den wachsenden Kontinenten angereichert, so daß der obere Erdmantel daran verarmt ist. Aus diesem Grund findet man auch bei ihnen in verschiedenen Mantelregionen unterschiedliche Isotopenhäufigkeiten (siehe „Die chemische Entwicklung des Erdmantels“ von R.K. O’Nions, P.J. Hamilton und Norman M. Evenson, Spektrum der Wissenschaft, Juli 1980, Seite 75). Beispielsweise ist das Verhältnis von Strontium-87 zu Strontium-86 in MORBs (Herkunft: oberer Mantel) deutlich geringer als in Hot-Spot-Vulkangestein (Herkunft: unterer Mantel). Eine der ersten Korrelationen, die wir nachweisen konnten, besteht zwischen den Isotopenverhältnissen von Argon und Strontium. Da die Situation beim Strontium allerdings der beim Argon entgegengesetzt ist (das Isotopenverhältnis von Argon ist im oberen Mantel höher als im unteren, das von Strontium dagegen niedriger) ist diese Beziehung nicht linear wie zwischen den Edelgasen, sondern hyperbolisch: Wenn
Verlauf und Ausmaß der Entgasung des Erdmantels
Mit den von uns bestimmten Isotopenverhältnissen der Edelgase lassen sich somit das Ausmaß und der Verlauf der Entgasung des Erdmantels rekonstruieren. So machen unsere Messungen deutlich, daß der obere Mantel mehr als 99 Prozent seiner flüchtigen Bestandteile verloren hat. Nehmen wir als Beispiel Argon. Die höchsten gemessenen
Eine kosmische Komponente
Vor kurzem ist es uns gelungen, auch die Neon-Isotopenverhältnisse
Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1993, Seite 36
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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