Die Evaluation der niedersächsischen Hochschulen
Seit den achtziger Jahren wird intern und in der Öffentlichkeit die Qualität der deutschen Hochschulausbildung zunehmend in Frage gestellt. Zudem erhöhen die Finanzkrise der öffentlichen Hand, Deregulierungsabsichten des Staates und Autonomiebestrebungen der Hochschulen selbst den Druck, daß diese ihre Leistung überprüfen und transparenter darstellen.
In europäischen Nachbarländern wie auch etwa in den USA sind solche Evaluationen längst selbstverständlich. In der Bundesrepublik hingegen wurden zwar nach dem Beitritt der DDR die Forschungs- und Wissenschaftseinrichtungen der neuen Länder und Ostberlins begutachtet sowie neu organisiert und strukturiert; aber Bund, Länder und die zuständigen Organisationen suchten dabei den Status quo westdeutschen Musters zu wahren (Spektrum der Wissenschaft, November 1993, Seite 88); und anders als die außeruniversitären Institutionen, die zunächst aufgelöst und dann neu gegründet wurden, mußten sich die Universitäten bei laufendem Betrieb aus sich heraus erneuern (Spektrum der Wissenschaft, April 1996, Seite113). Eine kritische Bestandsaufnahme des gesamten deutschen Hochschulsystems mit dem Ziel einer zukunftsträchtigen Reform steht noch aus.
Insofern ist das niedersächsische Projekt einer flächendeckenden und systematischen Evaluation in Deutschland ein Novum. In Anlehnung an das niederländische Modell wurde dafür ein dreistufiges Verfahren entwickelt: Der internen folgt eine externe Begutachtung und sodann eine Follow-up genannte Beurteilung der eingeleiteten Maßnahmen.
Die Rektoren und Präsidenten der niedersächsischen Universitäten und Fachhochschulen hatten 1994 vereinbart, die Organisation und Qualität der Lehre zu überprüfen und Verbesserungen auf eine Weise anzustreben, die vor allem innerhalb der Autonomie dieser Bildungseinrichtungen wirksam werden sollte. Das Land stellte die Mittel für ein Büro zur Verfügung. Im März 1995 beschloß die niedersächsische Landeshochschulkonferenz, eine zentrale Evaluationsagentur (ZEvA) einzurichten, die schon zum folgenden Wintersemester ihre Arbeit aufnahm; im Dezember jenes Jahres bereitete sie die ersten Fächer in Workshops auf die Evaluation vor. Bislang hat die ZEvA mehr als 50 Besuche von Gutachtergruppen an den Universitäten und Fachhochschulen des Landes betreut. Im Januar 1998 werden die Berichte über die Fächer Chemie, Geschichte, Elektrotechnik und Sozialpädagogik/Sozialwesen publiziert. Bald darauf sollen die Ergebnisse aus den Fächern Anglistik, Romanistik, Geowissenschaften, Geographie und Bauingenieurwesen vorliegen.
Staat und Hochschulen wollen mit diesem Projekt vorrangig die Qualität in Lehre und Studium nachhaltig sichern und verbessern. Deshalb sollen landesweit alle Studiengänge beziehungsweise Fächer nicht nur einmal erfaßt, sondern in einem bestimmten Turnus – etwa in Abständen von jeweils fünf bis sechs Jahren – neuerlich evaluiert werden. Zu berücksichtigen sind dabei ebenfalls Aspekte der Forschung, weil sie je nach Hochschultyp unterschiedlich stark auf die Lehre Einfluß hat. Ferner soll insbesondere die Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses kritisch betrachtet werden.
Es ist keineswegs Aufgabe der ZEvA, selbst zu evaluieren. Sie hat vielmehr die Hochschulen während des gesamten Prozesses zu unterstützen und versteht sich zudem als Kompetenz-, Informations- und Beratungszentrum.
Der Agentur ist eine Lenkungsgruppe aus drei Vertretern der Hochschulen, einem Vertreter des niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur und einem Sachverständigen für internationale Hochschulforschung beigeordnet; den Vorsitz hat der wissenschaftliche Leiter der ZEvA. Dieses Gremium benennt die Studiengänge beziehungsweise Fachbereiche, die evaluiert werden sollen, und vermittelt im Falle von Interessenkonflikten zwischen Land und Hochschulen.
Ziele des Projekts
Transparenz der Lehre zu gewinnen ist die zentrale Aufgabe der Evaluation, also außer Stärken gerade auch Schwächen erkennen zu lassen und Aufschluß über die Verwendung der Mittel zu erbringen. Die Fachbereiche sollen dazu konkrete Empfehlungen zur Sicherung und Verbesserung der Qualität erarbeiten und umsetzen. Gegebenenfalls müssen sie Studienzeiten verkürzen, die Abbrecherquote vermindern und die Lehrangebote weiterentwickeln. Ergänzend zielen besondere Schwerpunkte darauf ab, die Abstimmung von Studienorganisation und Curriculum zu optimieren, die interne Kommunikation über Lehre und Studium zu verbessern und leistungsbezogene Daten über Studien- und Prüfungsverläufe zu gewinnen, so daß sich die Fächer besser selbst zu steuern vermögen.
Das Lehrangebot wird auch auf wissenschaftliche und berufspraktische Relevanz überprüft. Chancen der Absolventen auf dem Arbeitsmarkt sind für ihre Vorbereitung auf die spätere berufliche Tätigkeit ein wichtiges Kriterium. Dabei soll der Dialog zwischen Lehrenden und Studierenden insbesondere klären, inwieweit sie ein gemeinsames Grundverständnis vom Studium und von dessen Zielen haben. Diskussion und Reflexion sollen einen Prozeß der Selbsterkenntnis in Gang setzen, so daß zum einen erforderliche Umstrukturierungen erkannt werden und innerhalb der Hochschule wie auch nach außen objektiv zu begründen sind, und daß zum anderen Fehlplanungen vermieden werden.
Das Studium verzögern zum Beispiel Ausfall und Überschneidungen von Lehrveranstaltungen sowie Organisationsmängel bei der Verteilung von Praktikums- und Kursplätzen. Zwar müssen nicht unbedingt alle Studierenden innerhalb der Regelstudienzeit den angestrebten Abschluß schaffen; aber die Hochschule hat die Möglichkeit dafür zu gewährleisten.
Schon diejenigen, die ein Studium aufnehmen möchten, sollten sich rechtzeitig umfassend über das erwogene Fach und den Studiengang sowie das Standortangebot informieren können. Eine Hochschule muß zudem für eine möglichst große Zahl begabter und motivierter junger Menschen attraktiv sein; und je besser sie sich profiliert, desto größere Chancen werden ihre Absolventen für den Berufseintritt haben.
Schließlich müssen die Hochschulen, insbesondere zu Zeiten knapper öffentlicher Haushalte, ihre finanziellen Mittel effizient und effektiv einsetzen. Das gelingt nur durch permanente Selbstkontrolle und nachvollziehbare Qualitätssicherungsmaßnahmen. Insofern ist die Evaluation auch ein Instrument zur Rechenschaftslegung gegenüber Staat und Gesellschaft.
Die interne Evaluation
Auf der ersten Stufe des Verfahrens sollen quantitative und qualitative Daten detaillierter, als es in den üblichen Lehrberichten vorgesehen ist, gesammelt und analysiert werden. Dazu bilden die Fachbereiche Arbeitsgruppen aus Lehrenden und Studierenden. Beim systematischen Durchgehen der einzelnen Fächer orientieren sie sich an einem Frageleitfaden der ZEvA, der den jeweiligen Besonderheiten angepaßt wird. Eigene zusätzliche Erhebungen, etwa prüfungsbezogener Daten, sind selten erforderlich; überwiegend werden Angaben erbeten, welche die Hochschulverwaltungen ohnehin für statistische Zwecke bereithalten.
Studierende vom Anfänger bis zum Absolventen stellen in den Arbeitsgruppen häufig beinahe die Hälfte der Mitglieder, weil sie eine Reihe von Fragen aus dem Katalog besonders gut beantworten können. Mit diesem Kreis sprechen dann auch die Gutachter, so daß die Studentenschaft verfolgen kann, inwieweit ihre Belange im Evaluationsbericht be-rücksichtigt werden.
Die externe Evaluation
Die zweite Stufe des Verfahrens soll in erster Linie professionelle Hilfe bei der Sicherung und Verbesserung der Qualität von Lehre und Studium geben. Die Agentur beruft dafür Experten auf Vorschlag der Fachbereiche. Eine solche Kommission sollte etwa fünf Mitglieder haben, von denen keines in Niedersachsen tätig ist. Im Idealfall wären das Vertreter des zu evaluierenden Faches, eine ausländische Person mit Evaluationserfahrung, ein Fachfremder aus dem Hochschulbereich mit Leitungserfahrung (ein Dekan oder Fachbereichssprecher) und jemand, der die berufsqualifizierenden Aspekte des Studiums beurteilen kann.
Außer den Berichten der Fachbereiche erhalten auch die Gutachter von der Agentur einen Leitfaden, damit die Ergebnisse der Kommissionen vergleichbar sind. Damit macht sich die Gruppe einige Wochen vor dem Ortstermin vertraut und diskutiert die für ihre spezifische Aufgabe relevanten Beurteilungskriterien.
Besuche der Fachbereiche verlaufen nach festgelegtem Plan: Am ersten Tag stehen Gespräche an mit der Hochschulleitung und der betreffenden Arbeitsgruppe, mit Dekanen und Institutsdirektoren sowie mit der Studienkommission und dem Prüfungsausschuß. Ferner diskutieren die Experten getrennt mit Studierenden und Lehrenden, außerdem mit Fachstudienberatern sowie der zuständigen Frauenbeauftragten. Am zweiten Tag begutachten sie vor allem Hörsäle, Arbeitsräume und Labors. Abschließend erläutern sie ihre vorläufigen Eindrücke und geben erste Empfehlungen; das später schriftlich ausgearbeitete Gutachten wird den Hochschulen zur Stellungnahme übersandt.
Umsetzung und Absicherung
Etwa drei Monate nach Abschluß ihrer externen Evaluation entwickeln die Fächer auf dieser Grundlage ein Programm für Verbesserungen. Nach zwei Jahren sollen die Fachbereiche einen Zwischenbericht über die Umsetzung der Maßnahmen vorlegen. Daraufhin berät die Lenkungsgruppe über das weitere Vorgehen; so kann dann erneut gutachterlicher Rat sinnvoll sein. Die internen und externen Reports sowie die Stellungnahmen faßt schließlich die Evaluationsagentur in Abstimmung mit den Gutachtern in einem Abschlußbericht zusammen, der veröffentlicht wird. So können sich außer den direkt Beteiligten und Betroffenen alle Bürger – insbesondere Studienberechtigte und deren Eltern sowie die Medien, benachbarte Hochschulen und wissenschaftliche Einrichtungen, Landtag und Landesregierung – über die Ergebnisse unterrichten. Der Bericht aufgrund des in Niedersachsen vereinbarten Verfahrens ist deswegen besonders aufschlußreich, weil er die Situation eines Faches zum einen landesweit darstellt und zum anderen für jeden Hochschulstandort analysiert und beurteilt.
Erste Ergebnisse
Allenfalls nach einem oder zwei Jahren läßt sich die Wirksamkeit einer Evaluation abschließend beurteilen. Frühestens dann kann eine permanente Überprüfung der unterdes nach den Empfehlungen veränderten Lehr- und Studienpraxis zumindest eingeleitet sein.
Doch sind nun schon Aussagen über die Effekte der internen und externen Evaluation möglich. Soweit bereits jetzt erkennbar, ist die Übertragung der Grundsätze des in den Niederlanden erfolgreichen Modells auf die niedersächsischen Verhältnisse gelungen. Allerdings waren nicht alle Hochschulen gleich gut auf ein solches Verfahren vorbereitet. Die Fachbereiche haben häufig erstmals anläßlich ihrer Überprüfung die Lehre und das Studium systematisch analysiert und sich auch mit einschlägigen statistischen Daten befaßt, die der jeweiligen Hochschulverwaltung sehr wohl bekannt waren.
Fruchtbar waren sicherlich die Diskussionen zwischen Lehrenden und Studierenden, zumal dabei vielfach bereits bekannte oder erahnte Probleme aus einer Tabuzone geholt wurden. Indes üben immer noch viele Fachbereiche bei der Beschreibung von Ausbildungs- und Bildungszielen eine gewisse Zurückhaltung. Dokumentationen, die über Prüfungs- und Studienordnungen hinausgehen, sind einstweilen die Ausnahme. Daran müßte gerade den Studierenden gelegen sein; aber in einer Reihe von Fachbereichen haben sie sich bisher nicht in ausreichendem Maße an der internen Evaluation beteiligt.
Die externe Evaluation stellt jedoch sicher, daß der Erneuerungsprozeß insgesamt ernstgenommen wird. Ein Verfahren ohne maßgebliche Beteiligung externer Gutachter, wie es gelegentlich in Deutschland diskutiert wird, kann denn auch nicht erfolgreich sein. Die Gespräche der Experten mit den Fachbereichsmitgliedern brechen häufig verkrustete Strukturen auf und stärken reformorientierten Dozenten und Professoren den Rücken. Insgesamt haben Fragen zu Angebot und Management der Lehre, aber auch zu Organisation und Struktur des Studiums Vorrang vor Problemen mit der Ausstattung der Hochschulen.
Jedes Fach hat zwar sein spezifisches Profil, aber es gibt auch gemeinsame Interessen. So wird das Studium der Geowissenschaften in Niedersachsen neu strukturiert. Für die Entwicklung eines entsprechenden Curriculums war wichtig, daß die Gutachter – darunter Experten aus Österreich und der Schweiz – das Zusammenführen der ehedem selbständigen Studiengänge Geologie und Mineralogie unterstützten und daß die beteiligten Universitäten bestrebt waren, einen weiteren, international anerkannten Abschluß einzuführen: Der Bachelor (B.Sc.) kann nun in Göttingen und voraussichtlich ab Wintersemester 1998 in Hannover erworben werden; in Clausthal wird die Einführung geprüft. Zugleich sollen alle Standorte ein vergleichbares naturwissenschaftliches Grundstudium ermöglichen. Die externe Evaluation der Geographie ist ebenfalls abgeschlossen. In diesem Falle sind nicht überall die Voraussetzungen dafür gleich gut, das Fach mit seinen Teildisziplinen (etwa physische Geographie, Kultur- sowie Wirtschafts- und Sozialgeographie) anzubieten. Die Spezifika des jeweiligen Fachbereichs herauszustellen hielten die Gutachter jedoch für wichtig. Zudem wurde deutlich, wie essentiell die naturwissenschaftlichen Nebenfächer für eine Profilbildung der Geographie sind und wie sehr vorhandene Institutsstrukturen die Qualität der Lehre beeinflussen.
Die Chemie an den niedersächsischen Universitäten ist sowohl durch die einzelnen Forschungsschwerpunkte als auch durch Kooperationen mit außeruniversitären Forschungseinrichtungen geprägt. Die Abstimmung zwischen Vorlesung und Praktikum beeinflußt die Qualität des Studiums wesentlich. Möglicherweise werden auch in Niedersachsen auf längere Sicht weniger Studenten dieses Fach wählen; deshalb wurde untersucht, wie sich das auf Umfang und Struktur des Studienangebots auswirken würde.
Schon diese wenigen Beispiele verdeutlichen, wie wichtig eine flächendeckende Evaluation unter Beteiligung externer Gutachter für die Transparenz sowie die Kommunikation über Lehre und Forschung an den Hochschulstandorten ist. Durch das Verfahren können innerhalb der Fachbereiche Stärken systematisch erfaßt und Schwächen gezielt abgebaut werden und die Hochschulen ein jeweils eigenes Profil gewinnen.
Hermann Reuke studierte Publizistik, Deutsche Philologie und Soziologie an der Universität Münster mit dem Abschluß Magister Artium. Seit 1995 ist er Geschäftsführer der Zentralen Evaluationsagentur der niedersächsischen Hochschulen. Dr. Seidel studierte Chemie an der Universität Kiel, wo er auch promovierte und sich habilitierte. Seit 1971 hat er den Lehrstuhl B für Anorganische Chemie an der Universität Hannover inne; er war unter anderem von 1975 bis 1977 deren Rektor und von 1979 bis 1997 deren Präsident, von 1987 bis 1990 Präsident der Westdeutschen Rektorenkonferenz und von 1989 bis 1994 Präsident der Standing Conference of Rectors, Presidents and Vice Chancellors of the European Universities. Seit 1995 ist er wissenschaftlicher Leiter der Zentralen Evaluationsagentur der niedersächsischen Hochschulen. Er erhielt die Ehrendoktorwürde von den Universitäten Bristol, Sankt Petersburg, Dublin, Compiègne, Poznan und Aberdeen.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1997, Seite 42
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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