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Die experimentelle Überflutung im Grand Canyon

Im Frühjahr 1996 wurden binnen gut einer Woche rund 900 Millionen Kubikmeter Wasser aus dem Lake Powell in den Colorado abgelassen. Dieser spülende Schwall sollte die Ökosysteme am Grunde des Grand Canyon regenerieren und grundlegende Erkenntnisse über Sedimentationsprozesse in Fließgewässern liefern.

Seit mehr als drei Jahrzehnten staut der Glen-Canyon-Damm im Nor- den von Arizona den Colorado oberhalb des Grand Canyons. Hinter der 216 Meter hohen und an der Krone 475 Meter langen gebogenen Betonmauer hat sich der 653 Quadratkilometer große Powell-See gebildet, der weit nach Utah hineinreicht (Bild 2). Unterhalb davon variiert die Wasserführung des Flusses jahreszeitlich nur mehr zwischen 200 und 500 Kubikmetern pro Sekunde; die noch geringeren Durchsatzschwankungen im Tagesverlauf werden vom Strombedarf weit entfernter Städte bestimmt. Gänzlich ausgeblieben sind seither die sommerlichen Hochwasser.

Zwar ist der Grand Canyon nur eine der Schluchten, die der Colorado in das Plateau im Südwesten der USA geschnitten hat, doch ist sie die wohl eindrucksvollste. Insgesamt etwa 350 Kilometer lang, zwischen 6 und 29 Kilometer breit und maximal 1800 Meter tief offenbart sich dort ein geologisches Profil aus Kalk- und Sandsteinen, Schiefern und Granit vom Perm bis hinab zum Archaikum. Die meisten Schichten sind rötlich bis bläulich oder gelb, so daß sich je nach Sonnenstand ein faszinierendes Farb- und Schattenspiel ergibt. Der zwischen 1908 und 1919 eingerichtete Grand-Canyon-Nationalpark im tiefsten Teil der Schlucht zieht denn auch Jahr für Jahr Millionen von Besuchern an. Obwohl die natürlichen Überschwemmungen jeweils nur einige Wochen andauerten, formten sie den Flußlauf in diesem Naturwunder; regelmäßig rissen sie Vegetation vom Ufer, lagerten Sandbänke ab und lösten Felsblöcke aus den Stromschnellen.

Seit Inbetriebnahme des Wasserkraftwerks im Jahre 1963 wird die Sedimentfracht des Colorados von stromaufwärts im wesentlichen oberhalb des Damms im Stausee aufgefangen. Die meisten Sandbänke im Grand Canyon erodierten deshalb. Zudem fehlte dem gezähmten Fluß die Kraft, Gesteinsschutt wegzuschwemmen, der von den Steilhängen rutscht; und einige Stromschnellen waren im letzten Jahr bereits so eng, daß sie kaum mehr zu befahren waren.

Auch Pflanzen- und Tierwelt veränderten sich. An zuvor vegetationsfreien Uferzonen faßten die einheimische Prärieweide und aus Eurasien und Afrika beheimatete Tamarisken, Kameldorn und sogar Bermudagras Fuß. Hingegen begannen ausgewachsene Süßhülsenbäume, die an der alten Hochwasserlinie wuchsen, abzusterben.

Um das Ökosystem am Grunde des Grand Canyons zu regenerieren sowie die Verfrachtung und Sedimentation von Schwemmstoffen und Geschiebe im Flußbett besser zu verstehen, startete US-Innenminister Bruce Babbitt am 26. März 1996 ein kühnes Experiment. Gemeinsam mit Dutzenden weiteren Wissenschaftlern beobachteten wir, wie sich nacheinander die vier riesigen Strahlröhren des Damms öffneten (Bild 1). Nach neun Stunden entließen sie schließlich zusammen mit den acht Turbinenschächten einen reißenden Strom, der 1274 Kubikmeter pro Sekunde erreichte (der maximale Turbinendurchlauf allein ist um ein Drittel geringer). Als die Flutwelle anschwoll, stieg der Pegelstand des Flusses um fünf Meter. Insgesamt bewegten sich während des etwa einwöchigen Experiments etwa 900 Millionen Kubikmeter Wasser durch den Canyon.


Für und Wider

Das Vorhaben war keineswegs unumstritten gewesen, zumal einige Veränderungen der letzten Jahre durchaus günstig schienen. In dem relativ kalten Wasser aus dem Stausee gediehen Forellen, die den zuvor wärmeren Abschnitt des Colorado in der Schlucht gemieden hatten. Bäume und Sträucher besiedelten die nun ungestörten Ufer, und Lebensräume für einige gefährdete Vogelarten waren entstanden. Dieser grüne Streifen machte den einst öden Boden der Schlucht auch für andere wildlebende Tiere gastlicher – und für Massen von Campern, die dort Erholung suchten.

Deswegen mögen die Nachteile übersehen worden sein. Erst 1983 erkannten Wissenschaftler und Umweltschützer, daß gerade die regelmäßigen Überflutungen der Denaturierung des Flußlaufs entgegengewirkt hatten. Denn im Juni jenes Jahres füllte sich der Lake Powell nach einer besonders raschen Schneeschmelze so schnell, daß der Betreiber der Talsperre, das Bureau of Reclamation, 2750 Kubikmeter Wasser pro Sekunde ablassen mußte (diese Behörde verwaltet sämtliche Wasserressourcen der USA westlich des Mississippi; sie unterhält auch eine Forschungsstelle zur Verbesserung der Umwelt im Grand Canyon).

Der Schwall war zwar weit weniger mächtig als bei einigen früheren Hochwassern (Bild 3), hatte aber in den unterhalb des Damms gelegenen Flußabschnitten annähernd natürliche Verhältnisse geschaffen. Forscher und Fremdenführer, die mit dem Ökosystem seit langem vertraut sind, fanden viele der zuvor verkleinerten Uferbänke mit frischem Sand bedeckt; einige der exotischen Pflanzenbestände waren vernichtet, dafür Lebensräume von Tieren, die ursprünglich an und in dem Fluß gelebt hatten, vielerorts teilweise wiederhergestellt.

Hätte das Kraftwerk daraufhin einige Jahre lang normal weiterbetrieben werden können, würden vermutlich viele Leute eine erneute Überflutung begrüßt haben. Der Zufluß in den Stausee blieb aber recht hoch, und bis 1986 wurden jährlich im Durchschnitt 23 Milliarden Kubikmeter Wasser abgelassen, bei hoher Last auf den Damm oft bis zu 1270 Kubikmeter pro Sekunde. Die 1983 neugebildeten Sedimentsbänke im Canyon wurden davon schnell weggewaschen. Ein einzelnes Hochwasser pro Jahr konnte sie wohl aufbauen, sich wiederholende waren ihnen jedoch offenbar abträglich.

Deshalb kamen die meisten Geologen, die in der Folgezeit die Bewegungen von Schwemmfracht und Geschiebe im Colorado untersuchten, zu der Überzeugung, daß eine künstliche Überflutung günstig wäre, und begannen 1991, für diese Idee zu werben. Einige Biologen fürchteten aber, die im Canyon mittlerweile heimischen gefährdeten Tierarten würden wieder vertrieben. Manche Geologen waren besorgt, die dem Damm nächstgelegenen Uferterrassen könnten in dem V-förmigen Plateau-Einschnitt gänzlich verschwinden. Und Archäologen, die im Canyon arbeiteten, warnten vor beschleunigter Erosion, die Fundstätten und Ausgrabungsplätze in Flußnähe gefährden könnte.


Die Planung

Schließlich überwog 1993 die Meinung, daß eine kontrollierte Überflutung eher nutzen als schaden würde. Hauptsächlich sollte sie Kies und Sand an flachen Uferzonen absetzen und so die Lebensräume für Fische, Vögel und Insekten erneuern. Zu den Befürwortern zählten aber auch die Touristenführer, die im Canyon kaum mehr Zeltplätze für Besucher des Nationalparks finden konnten. Zwar bringen die beiden größten Nebenflüsse unterhalb des Dammes, der Paria und der Little Colorado, Jahr für Jahr Millionen Tonnen Sand in den Colorado (Bild 4), und nur 450000 Tonnen davon werden aus dem Grand Canyon herausgespült; doch der Rest setzt sich weniger am Ufer, sondern im Flußbett ab.

Wie andere Forscher vom Geologischen Dienst der USA und vom Bureau of Reclamation waren auch wir gewiß, daß dieser Sand bei einer ausreichenden Überflutung umgelagert würde. Als beste Jahreszeit für einen ersten Test wurde eine kurze Zeitspanne Ende März erachtet. Dann laichen kaum Fische, und die Tamarisken sprießen noch nicht, während die meisten Weißkopfadler und Wasservögel, die im Canyon überwintern, schon fortgezogen sein sollten.

Die optimale Wassermenge und Dauer des Einlasses festzulegen war indes schwierig, weil die Sandmenge, die ein Fluß bewegt, stark von der Strömungsgeschwindigkeit abhängt: Wenn sie sich verdoppelt, verachtfacht sich die Fracht. Folglich wird – bei einem bestimmten Überflutungsvolumen – ein starker kurzfristiger Schwall mehr Sediment aufrühren und an den Ufern ablagern als ein nur mäßiges Hochwasser, auch wenn es länger andauert.

Einer von uns (Andrews) sprach sich dafür aus, 1500 Kubikmeter pro Sekunde abzulassen, was annähernd zwei Dritteln des natürlichen jährlichen Hochwassers entsprochen hätte, wie es vor Errichtung des Damms auftrat. Warum aber sollte man die Natur nicht – zumindest hinsichtlich des Volumenstroms – gänzlich nachahmen?

Für einen Durchlauf von mehr als 1270 Kubikmetern pro Sekunde müßte man die Überlauftunnels in den Felswänden zu seiten der Staumauer benutzen. Das war 1983 zur Notflutung erforderlich gewesen. Die Betreiber hatten damals besorgt gesehen, wie sich das herausschießende Wasser rot färbte – es riß erst Stücke der Betonauskleidung und dann sogar große Sandsteinblöcke mit. Eine Zerstörung der Überläufe hätte aber die Unterspülung des Dammes zur Folge haben können. Die kritische Situation ging ohne größeren Schaden vorüber, und die Ingenieure fanden die Ursache der Erosion heraus; Kavitation, also die Bildung von Unterdruckbereichen in der sich bewegenden Flüssigkeit, hatte Material aus den Tunnelwänden herausgesaugt.

Die Überläufe wurden daraufhin so verändert, daß dieses Phänomen auf ein Minimum reduziert sein dürfte. Dennoch sträubten sich die Betreiber des Kraftwerks, eine Wiederholung zu riskieren. Ein Strom von nur 1270 Kubikmetern pro Sekunde, so wurde außerdem argumentiert, würde eine von Ausrottung bedrohte Schneckenart weniger gefährden, die in der Nähe des Damms vorkommt. Die meisten Befürworter des Experiments empfanden dies als vernünftigen Kompromiß und kamen überein, es auf etwa eine Woche zu beschränken – genug Zeit, um eine nennenswerte Menge Sediment umzuschichten, ohne das Flußbett von Sandreserven zu entblößen.


Flut nach Plan

Am 26. März begann das Wasser wie vorab berechnet rasch anzusteigen und in den Canyon zu strömen. Auf ein Signal hin schütteten Wissenschaftler vom Geologischen Dienst 30 Kilogramm eines nicht giftigen fluoreszierenden Farbstoffs kurz unterhalb des Damms in den Fluß (Bild 5). Damit bestimmten sie an sechs Stellen in der Schlucht die Geschwindigkeit der Flutwelle. So ließ sich auch ein numerisches Modell verifizieren: Wie prognostiziert, beschleunigte sich der Schwall flußabwärts und schob in dem vor Testbeginn in das Flußbett geströmten Wasser Stoßwellen an, deren erste den Lake Mead am Ausgang des Canyons fast einen Tag früher erreichte als das künstliche Hochwasser.

Auf ihrem Weg nach Westen formte die Flut viele Flußabschnitte um. An den Lava Falls zum Beispiel, Stromschnellen etwa 300 Kilometer unterhalb des Damms, brandete sie gegen eine fächerförmige Bank aus lockerem Schlamm und Geröll, die sich ein Jahr zuvor durch einen Schuttstrom aus einer Seitenschlucht gebildet hatte; dadurch war der dort normalerweise 50 Meter breite Colorado um fast 20 Meter schmaler geworden (Bild 6).

Einige Geologen glaubten, nur sehr starke Hochwasser könnten solche Engstellen ausräumen. Doch als der Durchfluß am Tag nach der Dammöffnung 850 Kubikmeter pro Sekunde überstieg, wälzte sich die Strömung rasch durch den Schuttfächer und verringerte ihn um ein Drittel.

Wir überwachten das mit Radiosendern in zehn großen Steinen, die sich zunächst oberhalb der Stromschnellen befanden. Obwohl sie bis zu 75 Zentimeter Durchmesser hatten, bewegten sich acht, die wir später mit Peilantennen lokalisieren konnten, im Mittel 230 Meter flußabwärts. Durch die Erweiterung hatte sich die Strömungsgeschwindigkeit der Lava Falls halbiert. Insgesamt verloren von 25 seit 1986 angeschwemmten Schuttfächern im Colorado allerdings nicht wie erwartet 16, sondern nur 8 um mindestens ein Zehntel an Größe.

Zusammen mit Kollegen vermaßen wir auch Sandablagerungen an fünf weiteren Schlüsselstellen, an denen sich der Fluß unvermittelt verbreitert und Wasser in Ufernähe stromaufwärts wirbelt. Von einem kleinen Boot aus kartierten wir mit einem Sonar-Tiefenmesser und Laser-Vermessungsgeräten den Flußgrund während des Experiments.

Die Resultate waren recht überraschend: In den ersten 36 bis 48 Stunden setzte sich aus der Gegenströmung zwar eine große Menge Sand ab; als sich jedoch der Eintrag verringerte, ging wieder welcher an die Hauptrinne verloren (Bild 4). Offensichtlich wurde ein Großteil des Sediments zunächst mit zu großem Neigungswinkel und damit instabil abgelagert. Insgesamt aber nahm die Sandmenge an allen fünf kartierten Stellen zu.

Im untersten Abschnitt des Grand Canyons maß unser Kollege J. Dungan Smith die Fließgeschwindigkeit und die Materialfracht, die das turbulente Wasser dort noch in Suspension hält. Durch Vergleich mit dem Eintrag der Zuflüsse Paria und Little Colorado dürfte sich bestimmen lassen, wie oft Überflutungen durchgeführt werden können, ohne die vorhandene Sandreserve zu erschöpfen; die Daten sind jedoch noch nicht ausgewertet.

David M. Rubin untersuchte mit optischen Sensoren und einem Sonar-System die Suspensionskonzentration des Wassers beim Eintritt in einen Strudel und zeichnete die kleinräumigen Muster auf, die bei der Ablagerung entstehen. Sein Kollege Jon M. Nelson dokumentierte das seltsame Verhalten kreisender Wirbel, die sich dort in einer Reihe anordnen, wo die stärkste Strömung an einem langsamer drehenden, flußaufwärts wandernden Strudel vorbeischießt. Er beobachtete, daß diese Wirbel umkippen, wenn sie von der Hauptströmung mitgezogen werden, weil die Fließgeschwindigkeit in der Nähe des Bodens der Rinne aufgrund der stärkeren Reibung abnimmt. In dieser gekippten Position, schloß Nelson, spülen die Wirbel Sand aus der Hauptrinne in den Strudel.

Feststoff kam und ging in diesem Strudel allerdings mit Geschwindigkeiten, die weit höher waren als erwartet. Beklommen mußten Rubin und Nelson sehen, wie ihre geliehene Ausrüstung im Wert von rund 100000 Mark zunächst verschüttet, dann wieder freigelegt und schließlich fortgeschwemmt wurde. Immerhin hatten sie bereits genügend Daten um ihre Vermutung zu belegen, daß verschiedene Formen von Turbulenz als eine Art Sedimentpumpe wirken.


Längerfristige Effekte

Wie erwartet, wurde viel von dem neu deponierten Sand wieder fortgewaschen; doch lag Monate später noch ein großer Teil davon an den überwachten Stellen und auch sonst vielerorts. Ein Vergleich von 34 ausgesuchten Uferzonen vor und nach dem Experiment ergab einen Volumenzuwachs von 53 Prozent. Allerdings waren die Bänke vor allem höher geworden, an Fläche nahmen sie nur 5 bis 7 Prozent zu.

Lisa H. Kearsley, eine Biologin vom Bureau of Reclamation, begutachtete etwa 100 Uferabschnitte im Canyon und fand 10 Prozent verkleinert, 50 Prozent hingegen vergrößert. Sechs Monate nach der Überflutung war viel Sand in den Fluß zurückgerutscht, doch insgesamt blieb die begehbare Fläche größer als zuvor (Bild 7). So konnten 82 neue Campingplätze geschaffen werden; nur drei waren zerstört worden.

Die Überflutung von 1983 hatte den Forellenbestand geschädigt, und auch das experimentelle Hochwasser hätte viele Fische weit stromabwärts schwemmen können. Um dies zu prüfen, brachten Biologen unterhalb der Lava Falls Netze aus. Zwar fingen sie damit während des Versuchs ein paar Forellen mehr als dort üblich, doch nahmen weder die Populationen der von Natur aus im Grand Canyon heimischen noch der zugewanderten Fische merklich ab. Sie hatten sich in geschützte Bereiche zurückgezogen, große Exemplare vor allem in langsam zirkulierende Wirbel unterhalb von Schuttfächern, kleinere beispielsweise in die überflutete Ufervegetation. Auch die Cladophora-Algen und mit ihnen vergesellschaftete wirbellose Tiere, die eine wichtige Nahrung für Fische sind, wurden kaum dezimiert.

Die Auswirkungen auf andere lokale Biotope werden jedoch noch intensiv debattiert. Lawrence E. Stevens, ebenfalls Biologe vom Bureau of Reclamation, hat den Colorado bereits 25 Jahre lang untersucht. In dieser Zeit wanderten zahlreiche Tiere in den durch den Damm veränderten Flußabschnitt ein. Er ist besorgt, daß absichtliche Überflutungen das Überleben einiger Arten gefährden könnte, die vom Aussterben bedroht sind und deshalb unter gesetzlichem Schutz stehen, so der Bucklige Döbel (ein Fisch), der südwestliche Weidentyrann (ein Vogel) oder die Kanab-Bernsteinschnecke. Diese Sorgen sind nicht völlig unbegründet. Im Überflutungsbereich blieben nur 31,5 Prozent der Lebensräume jener Schneckenart erhalten, denn schnell fließende, geschiebeführende Strömungen haben dort schweren Schaden angerichtet. Trotzdem hat die Schnecken-Population stellenweise wieder die Vorjahresdichte erreicht oder sogar überschritten. Die Nistbereiche des Weiden-Fliegenschneppers blieben zwar unbeeinflußt, doch sind etwa 36 Prozent der sumpfigen Uferzonen beeinträchtigt, die ihm Nahrung liefern.

Wir sind freilich überzeugt, daß Hochwasser früher wesentliche Geschehnisse im natürlichen Jahresgang des Colorado waren. Viele Arten, sowohl individuenreiche als auch gefährdete, haben sich daran angepaßt, seit es den Grand Canyon gibt – seit etwa fünf Millionen Jahren. Regelmäßige Überflutungen mögen für einige Lebewesen schädlich sein, doch auf lange Sicht wird sich eine Auswahl einstellen, die der ursprünglichen Flora und Fauna eher entspricht.


Der alte Fluß und das Geld

War das Experiment ein Erfolg? Nennenswerte Sandmengen lagerten sich oberhalb der normalen Hochwasserlinie ab, und einige Altarme des Flusses, die als Laichgründe für Fische von Bedeutung sind, wurden verjüngt. Die Flut verbreiterte die zwei größten Stromschnellen. Die archäologischen Fundstellen blieben intakt. Ein Großteil der eingewanderten Vegetation war nicht geschädigt worden.

Darum rechtfertigt unserer Ansicht nach der Nutzen für die Umwelt die geringen Schäden. Doch andere Auswirkungen müssen ebenfalls in Betracht gezogen werden. Fünf Monate nach der Überflutung bilanzierte David A. Harpman, ein Wirtschaftswissenschaftler der das Kraftwerk betreibenden Behörde, dessen Kosten. Weil einerseits die Turbinen kontinuierlich liefen, auch zu Zeiten geringen Strombedarfs, andererseits Wasser ungenutzt durch die Stahlrohre abgelassen wurde, entgingen dem Betreiber vermutlich etwa 2,7 Millionen; das entspricht ungefähr einem Prozent der jährlichen Einnahmen aus dieser Talsperre. Rechnet man die Ausgaben für die wissenschaftlichen Untersuchungen hinzu, verdoppelt sich beinahe der Aufwand für das Projekt.

Da künftige Überflutungen etwa ebenso teuer kämen, ist es wichtig zu wissen, in welchem Ausmaß und wie oft sie erforderlich sein dürften – und das ist schwer zu sagen. Alle beteiligten Wissenschaftler sind sich darin einig, daß eine Dauer von sieben Tagen nicht vonnöten ist. Smith hält eine Spülung im Jahr für ausreichend, um die Uferzonen aufzuwerten; dies gilt, solange Paria und Little Colorado so viel Sediment eintragen, wie ein Hochwasser aus der Schlucht spült. Einer von uns (Webb) plädiert dafür, zu Beginn 2800 Kubikmeter pro Sekunde aus dem Stausee abzulassen, um Schuttfächer abzutragen, dann weniger, damit sich Sandbänke bilden. Andrews plädiert dafür, die Wassermenge künstlicher Überflutungen von Jahr zu Jahr zu variieren, um natürliche Schwankungen besser nachzuahmen.

Können solche Projekte Routine werden? Vielleicht – sowohl im Grand Canyon als auch anderswo. Wir haben weitere amerikanische Flüsse untersucht, die durch Staudämme gezähmt sind. Auch sie könnten von periodischen Überflutungen profitieren. Die Erkenntnisse aus dem Experiment von 1996 sollten dazu beitragen, weitgehend natürliche Bedingungen in und an vielen Flußgewässern in den USA und eventuell auch in allen anderen Ländern wiederherzustellen.

Literaturhinweise

- Recirculating Flow and Sedimentation in the Colorado River in Grand Canyon, Arizona. Von J. C. Schmidt in: Journal of Geology, Band 98, Heft 5, Seiten 709 bis 724, September 1990.

– Sediment Transport in the Colorado River Basin. Von E. D. Andrews in: Colorado River Ecology and Dam Management. National Research Council, Committee to Review the Glen Canyon Environmental Studies. National Academic Press, 1991.

– Flow Regulation, Geomorphology, and Colorado River Marsh Development in the Grand Canyon, Arizona. Von L. E. Stevens, J. C. Schmidt, T. J. Ayers und B. T. Brown in: Ecological Applications, Band 5, Heft 4, Seiten 1025 bis 1039, November 1995.

– Dams and Rivers: A Primer on the Downstream Effects of Dams. Von Michael Collier, R. H. Webb und J. C. Schmidt in: U.S. Geological Survey Circular, Band 1126, Juni 1996.

– Grand Canyon: A Century of Change. Von Robert H. Webb. University of Arizona Press, 1996.

– Glen Canyon Environmental Studies, Habitat Building Flow Update: http://www.usbr.gov/gces/rod.html.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1997, Seite 76
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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