Die Gefahren des freien Handels
In der Regel ignorieren die Wirtschaftsforscher die versteckten Kosten, die ein deregulierter Welthandel der Umwelt und dem Gemeinwesen aufbürdet.
Über kein wirtschaftspolitisches Rezept sind die Ökonomen sich so einig wie über die Freiheit des Handels, der auf internationaler Arbeitsteilung infolge komparativer Kostenvorteile beruht. Lange galt der Freihandel von vornherein – bis zum Beweis des Gegenteils – als gut.
Auf diese Annahme gründen sich auch das seit 1947 bestehende Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (General Agreement on Tariffs and Trade, GATT) und das jüngst ratifizierte Nordamerikanische Freihandelsabkommen (North American Free Trade Agreement, NAFTA). Die Vorschläge zu weiterer Liberalisierung in der Uruguay-Runde der GATT-Verhandlungen unterstreichen erneut die Verpflichtung zu freiem Handel und wirtschaftlicher Globalisierung.
Doch das zugrundeliegende Vorurteil sollte revidiert und die Beweislast umgekehrt werden. Als Regel müßte die Förderung heimischer Produkte für heimische Märkte gelten. Falls zweckmäßig, könnte ein ausgeglichener Außenhandel genutzt werden; er dürfte aber die inneren Angelegenheiten nicht so beherrschen, daß dem Land ökologische und soziale Katastrophen drohen. Die heimische Wirtschaft sollte gleichsam der Hund sein und der internationale Handel nur der Schwanz. Mit GATT wird aber versucht, alle Schwänze so fest zusammenzubinden, daß der internationale Knoten mit den einzelnen Hunden wedeln kann.
Die klügere Methode hat der englische Ökonom John Maynard Keynes (1883 bis 1946) in die kaum beachteten Worte gefaßt: "Ich sympathisiere darum mit denen, die die wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen den Nationen nicht maximieren, sondern möglichst gering halten wollen. Ideen, Wissen, Kunst, Gastfreundschaft, Reisen – solche Dinge sind ihrem Wesen nach international. Doch Waren sollten, wann immer es vernünftig und praktisch ist, hausgemacht sein; und vor allem sollten die Finanzen überwiegend national bleiben." Im Gegensatz zu Keynes möchten die Verfechter der in der Uruguay-Runde vorgeschlagenen GATT-Änderungen nicht nur hausgemachte Güter in den Hintergrund drängen, sondern auch die Finanzen und alle anderen Dienstleistungen möglichst internationalisieren.
Daß Wirtschaftsforscher und Umweltexperten gern dargestellt werden, als seien die einen für und die anderen gegen freien Handel, erweist der Sache einen schlechten Dienst. In Wirklichkeit geht es darum, welche Regulierungen eingeführt werden sollten und welche Ziele gerechtfertigt sind.
Die Befürworter der ökonomischen Freizügigkeit streben nach der Maximierung von Profiten und Produktion, ohne die verborgenen sozialen und ökologischen Kosten in Betracht zu ziehen. Sie behaupten: Wenn das Wachstum die Menschen reich genug gemacht hat, werden sie die Mittel haben, die Wachstumsschäden zu beseitigen. Hingegen hegen die Umweltschützer und einige Wirtschaftswissenschaftler wie ich den Verdacht, daß das Wachstum die Umweltkosten schneller erhöht als die Produktionsgewinne – so daß wir nicht reicher werden, sondern ärmer.
Exakter als das ansprechende Etikett "Freihandel" – wer kann schon etwas gegen Freiheit haben? – ist "deregulierter internationaler Warenverkehr". Deregulierung ist aber nicht immer die richtige Methode; das hat in den USA erst kürzlich die Serie von Skandalen nach der Deregulierung der Sparkassen und Kreditinstitute vor Augen geführt.
Da ich selbst früher die Freihandelsdoktrin vor College-Studenten vertreten habe, vermag ich dafür gewisse Sympathien aufzubringen. Dennoch plagt mich heute die Sorge, daß die typische Vorliebe meines Berufsstandes für logisch wunderschöne Ergebnisse – bei gleichzeitiger Geringschätzung der Praxis – derart fanatische Züge angenommen hat, daß wir Wirtschaftsforscher für die Erde und ihre Bewohner zu einer Gefahr geworden sind.
Der komparative Kostenvorteil
Die Theorie des Freihandels fußt auf der Logik des komparativen Kostenvorteils, die der englische Ökonom David Ricardo (1772 bis 1823) erstmals explizit formuliert hat. Er beobachtete, daß Länder mit unterschiedlichen Technologien, Traditionen und Ressourcen unterschiedliche Kosten aufbringen müssen, um dieselben Produkte zu erzeugen. In einem Land mag die Kohleförderung vergleichsweise kostengünstiger sein als der Weizenanbau, doch in einem anderen ist es vielleicht umgekehrt. Wenn die Nationen sich auf die Produkte spezialisieren, für die sie im Vergleich zu anderen einen Kostenvorteil haben, und andere Güter im freien Handel erwerben, haben alle Nutzen davon (siehe das Schema auf Seite 42).
Problematisch ist nicht die Logik dieses Arguments, sondern Ricardos entscheidende – aber oft vergessene – Annahme, daß die Produktionsfaktoren (insbesondere das Kapital) sich nicht von Staat zu Staat bewegen. In der Welt von heute, in der sich Milliarden Dollar mit Lichtgeschwindigkeit zwischen Nationen transferieren lassen, gilt diese wesentliche Bedingung nicht. Die Anhänger des Freihandels ermutigen sogar solche Auslandsinvestitionen als Entwicklungsstrategie. Kurz, sie benutzen eine Schlußfolgerung, die von der Undurchlässigkeit der nationalen Grenzen für Kapital abhängt, um eine Politik zu unterstützen, die eben diese Grenzen für Kapital und Waren durchlässiger machen möchte.
Dies allein entkräftet bereits die Behauptung, internationaler Handel nütze zwangsläufig allen Beteiligten. Außerdem aber dürfen die Gewinne, wenn der Handel zum gegenseitigen Nutzen sein soll, nicht durch größere Abhängigkeit und höhere Schulden aufgewogen werden. Nach einer Spezialisierung können die Länder jedoch nicht mehr freiwillig auf den Handel verzichten, und dies bedeutet Verlust an Unabhängigkeit. Ferner dürfen die Kosten für den zwischenstaatlichen Warentransport nicht die Gewinne aufzehren.
Transportkosten sind energieintensiv. Doch heute subventioniert oft der Staat die Energiekosten durch steuerbegünstigte Investitionskredite, Forschungsförderung sowie Militärausgaben, die den Zugang zu Erdöl sichern. Auch gehen die ökologischen Kosten des Verbrennens fossiler Energieträger nicht in den Kraftstoffpreis ein. Mit der Energie wird also indirekt auch der Handel subventioniert. Ohne diese verdeckten Subventionen würden die vollständigen Energiekosten darum die ursprünglichen Gewinne aus dem Fernhandel – ob interregional oder international – schmälern.
Die Nachteile ungehemmten Handels
Der freie Güteraustausch kann zudem höchst unsinnige Folgen haben. Im Gegensatz zur Regel komparativer Kostenvorteile besteht mehr als die Hälfte des internationalen Handels aus dem gleichzeitigen Import und Export gleichartiger Güter. Zum Beispiel importieren die Amerikaner dänische Kekse und die Dänen amerikanische. Der Austausch der Rezepte wäre sicherlich wirtschaftlicher – und würde auch eher der Maxime von Keynes entsprechen, daß das Wissen international sein sollte und die Waren hausgemacht (oder in diesem Falle hausbacken).
Eine wichtige, aber selten erwähnte Folge der Spezialisierung ist, daß die Vielfalt an Beschäftigungsmöglichkeiten schrumpft. Uruguay hat einen klaren komparativen Kostenvorteil bei Rinder- und Schafzucht; wenn es sich strikt an die Regeln von Spezialisierung und Handel hielte, hätten seine Einwohner nur die Wahl, Gaucho oder Schlachthausarbeiter zu werden. Aber die Bürger Uruguays wollen nicht nur einfache Tätigkeiten in Weidewirtschaft und Industrie ausüben, sondern auch ihr eigenes Rechts-, Finanz-, Gesundheits-, Versicherungs- und Bildungswesen haben. Diese Vielfalt mag zwar einen gewissen Verlust an Wirtschaftlichkeit mit sich bringen, aber sie macht überhaupt erst ein Gemeinwesen und eine Nation aus (Bild 5).
Uruguay leistet sich sogar den Luxus eines eigenen Symphonieorchesters, obwohl es kostengünstiger wäre, sich bessere Gastkonzerte ausländischer Orchester im Austausch gegen Wolle, Leder, Lamm- und Rindfleisch einzuhandeln. Für jeden einzelnen Bürger bedeutet mehr Auswahl zugleich mehr Lebensqualität; auch vaqueros und pastores fühlen sich durch den Kontakt mit Landsleuten bereichert, die nicht Kühe und Schafe hüten. Ich will damit sagen: Das simple Argument, internationale Arbeitsteilung und Handel seien unbedingt gut, wenn dadurch mehr Güter pro Kopf der Bevölkerung zur Verfügung stehen, geht völlig am gesellschaftlichen Charakter von Wohlstand vorbei.
Selbst falls nach Abzug all dieser Negativposten vom Bruttoertrag des Handels ein positiver Nettogewinn übrigbliebe, wäre er mit noch grundsätzlicheren Problemen belastet. Die Argumente für den Freihandel geraten nämlich in Konflikt mit den drei grundlegenden Zielen jeder Wirtschaftspolitik: der wirksamen Allokation (Zuweisung), der gerechten Verteilung und der nachhaltigen Nutzung der Ressourcen.
Die ersten beiden Ziele sind fester Bestandteil der neoklassischen Wirtschaftslehre. Das dritte wird erst seit kurzem anerkannt und definiert eine ökologisch ausgeglichene Volkswirtschaft; in einer solchen Steady-state-Ökonomie – also einer im Zustand der Beständigkeit – dürfen der Einsatz an Rohstoffen und Energie sowie der Ausstoß an Abfallprodukten und Wärme die Regenerations- und Absorptionsfähigkeit des Ökosystems nicht überfordern (Bild 2).
In der neoklassischen Theorie hängt die wirksame Allokation der Ressourcen von der Quantifizierung und Internalisierung aller Kosten ab. Kosten sind internalisiert, wenn sie direkt von ihrem Verursacher bezahlt werden – etwa wenn ein Unternehmer die Beseitigung seiner Produktionsabfälle bezahlt und dafür die Preise seiner Produkte anhebt. Kosten sind externalisiert, wenn jemand anderer dafür zahlt – zum Beispiel wenn unbehandelter Abfall die Öffentlichkeit mit zusätzlichen Krankheiten, Gestank und anderen Unannehmlichkeiten belastet. Erst die Quantifizierung sämtlicher Kosten ermöglicht echte Wirtschaftlichkeit.
Mit Recht raten die Ökonomen den Staaten dringend, in der Haushaltspolitik möglichst alle Kosten in die Preise zu internalisieren. Doch zugleich geben sie ihnen den falschen Rat, mit anderen Ländern freien Handel zu treiben, die ihre Kosten nicht internalisieren und folglich niedrigere Preise haben. Wenn ein Land beiden Ratschlägen zu folgen sucht, ist der Konflikt unvermeidlich: Ein freier Wettbewerb zwischen Systemen mit unterschiedlicher Kosteninternalisierung ist äußerst ungerecht.
Der internationale Handel verschärft den Wettbewerb, und dieser senkt die Kosten. Doch der Wettbewerb vermag auf zwei Arten Kosten zu mindern: durch erhöhte Wirtschaftlichkeit oder über gesenkte Standards. Eine Firma kann Geld sparen, indem sie ihre Standards für Umweltschutz, Sicherheit am Arbeitsplatz, Löhne, Gesundheitsfürsorge und so weiter herabsetzt – und damit einen Teil ihrer Kosten externalisiert. Ein Unternehmen, das im Wettbewerb steht und nach maximalem Gewinn strebt, sucht seine Kosten stets so weit wie nur möglich zu externalisieren (Bild 1).
Darum unterhalten die Staaten große Rechts-, Verwaltungs- und Kontrollapparate, die verhindern sollen, daß die heimische Industrie ihre sozialen und ökologischen Standards herabsetzt. Doch auf internationaler Ebene existiert bis auf wenige Vereinbarungen nichts Vergleichbares; es gibt aber vor allem höchst unterschiedliche nationale Gesetze. Somit ermuntert der internationale Freihandel die Industrie, ihre Produktion in die Länder mit den niedrigsten Standards der Kosteninternalisierung zu verlagern – und das ist kaum der rechte Ansatz für globale Wirtschaftlichkeit.
Förderung der Internalisierung
Billig zu produzieren, indem man reale Kosten ignoriert, ist ein Verstoß gegen das Prinzip wirklicher Effizienz. Selbst das GATT-Abkommen räumt ein, daß der Wettbewerb mit gesenkten Standards zu weit geht, wenn die Einwohner eines Landes gegen auswärtige Zwangsarbeit konkurrieren müssen; gegen den Außenhandel eines Staates mit derart ausbeuterischem Regime dürfen daher Restriktionen verhängt werden. Gegen Kinderarbeit, gefährliche und nicht versicherte Arbeit oder Hungerlöhne sieht GATT aber keine Sanktionen vor.
Die einfachste Lösung wäre, daß Länder, in denen Kosten internalisiert werden, von Ländern, wo das nicht der Fall ist, Kompensationszölle erheben dürfen. Zwar ist Protektionismus – der Schutz einer relativ unwirtschaftlichen Industrie vor ausländischer Konkurrenz – unter heutigen Wirtschaftsexperten geradezu ein Schimpfwort. Doch hier geht es um etwas völlig anderes: Eine nationale Wirtschaftspolitik, deren Preisgestaltung sämtliche Kosten wirksam erfaßt, soll gegen einen internationalen Wettbewerb, der mit schlechteren Standards operiert, geschützt werden.
Für solche Zölle gibt es durchaus Präzedenzfälle. Die Verfechter des Freihandels finden Anti-Dumping-Zölle gerecht, die verhindern sollen, daß ein Land seine Güter zu Preisen unterhalb der Produktionskosten anbietet, um sich Marktanteile zu erschleichen. Der einzige echte Unterschied ist, daß nun auch die Kosten für Umweltschäden und Mangel an sozialem Wohlstand mitberechnet würden.
Diese Zollpolitik bedeutet nicht, daß ein Land einem anderen seine ökologischen oder moralischen Werte aufzwänge. Jedes Land sollte die Regeln der Kosteninternalisierung für den eigenen Markt aufstellen. Auf diesem Markt müßte jeder Anbieter sich an die geltenden Regeln halten oder einen Zoll zahlen, der die durch niedrigere Standards bedingten Wettbewerbsvorteile ausgleicht. Zum Beispiel bestimmt das amerikanische Gesetz zum Schutz der Meeressäugetiere (Maritime Mammal Protection Act), daß auf dem US-Markt der Preis für Thunfisch – ob er von heimischen oder mexikanischen Fischern stammt – stets die Kosten enthalten muß, die anfallen, wenn man die Anzahl der beim Thunfischfang getöteten Delphine in bestimmten Grenzen hält. Bei Thunfisch, der (von amerikanischen oder mexikanischen Fischern) auf dem mexikanischen Markt verkauft wird, müssen diese Kosten nicht aufgeschlagen werden. Niemandem werden durch sogenannten ökologischen Imperialismus Standards aufgezwungen; vielmehr muß man nur als Preis für den Zugang zu fremden Märkten die Kosten der dort gültigen Umweltnormen zahlen.
Man könnte sogar umgekehrt dem Freihandel Öko-Imperialismus vorwerfen. Denn wenn Unternehmen mit niedrigen Standards produzieren und ihre Produkte überall ohne Aufschlag verkaufen dürfen, setzen sie die Staaten mit höheren Standards unter Druck, diese zu senken. Auf diese Weise erzwingt unbeschränkter Handel niedrigere Standards.
Schrankenloser internationaler Austausch schafft außerdem Probleme bei der Ressourcenverteilung. In einer Welt komparativer Kostenvorteile nach Ricardo bleibt das nationale Kapital im Land, und nur Güter werden gehandelt. Doch wenn Unternehmen ihr Kapital über Grenzen hinweg dorthin auslagern können, wo die Produktion am billigsten ist, haben die bevorzugten Länder nicht nur einen komparativen, sondern einen absoluten Vorteil. Das Kapital wird aus einem Land in ein anderes strömen und dabei vielleicht auch Arbeitsplätze und Wohlstand mit wegspülen. Diese internationale Arbeitsteilung wird zwar die Weltproduktion insgesamt steigern; aber damit ist überhaupt nicht gesagt, daß alle beteiligten Länder etwas davon haben.
Wenn Kapital ins Ausland abfließt, schwinden im Inland die Aussichten auf neue Arbeitsplätze; das drückt auf den Preis der heimischen Arbeit. Selbst wenn Freihandel und mobiles Kapital die Löhne in Billiglohnländern anheben – wobei Übervölkerung und rasches Bevölkerungswachstum dieser Tendenz entgegenwirken –, gehen dafür Arbeitsplätze in den Ländern mit höheren Löhnen verloren, und dadurch steigen dort die Einkommensunterschiede. Die meisten Bürger sind Lohnempfänger. In den USA beispielsweise werden 80 Prozent der Arbeitskräfte als "Beschäftigte ohne leitende Funktionen" eingestuft. Ihre Reallöhne sind zwischen 1973 und 1990 um 17 Prozent gefallen – und das nicht zuletzt aufgrund der Liberalisierung des Handels.
Auch die Arbeitskräfte in den Billiglohnländern profitieren nicht unbedingt vom Freihandel. Wahrscheinlich wird NAFTA mexikanische Bauern ruinieren, wenn der scheinbar billigere – das heißt durch Überausbeutung von Ackerboden, Gewässern, Ölquellen und Bundesmitteln subventionierte – Mais aus den USA unbeschränkt importiert werden kann. Landlos gewordene Bauern werden die Löhne drücken; Agrarfirmen werden ihre Äcker billig aufkaufen und darauf exotische Gemüse und Schnittblumen für den US-Markt anpflanzen. Mexiko hilft paradoxerweise sogar noch mit, den US-Mais zu verbilligen, indem es seine schwindenden Ölreserven und genetisch wertvollen Getreidevarianten in die USA exportiert, wo sie zur Erhaltung der Mais-Monokulturen dringend gebraucht werden.
Die neoklassischen Theoretiker geben zu, daß Übervölkerung in Form billiger Arbeitskräfte von einem Land zum anderen überspringen kann. Sie sehen darin ein Argument gegen freie Einwanderung. Aber Kapital kann viel leichter zu überschüssiger Arbeitskraft abwandern als umgekehrt Arbeit zu Kapital. Wenn Einwanderungsbeschränkungen für Arbeitskräfte gerechtfertigt sind, sollte das erst recht für die Einschränkung der Kapitalabwanderung gelten.
Steady-state-Ökonomie
Konfrontiert man die neoklassischen Ökonomen mit solchen Problemen, bekommt man meist zur Antwort, das Wirtschaftswachstum sei schon die Lösung. Das Allokationsproblem, das durch den Druck des Wettbewerbs auf die Umweltstandards entsteht, werde man ihrer Ansicht nach über eine generelle Aufwärts-Angleichung der Standards in den Griff bekommen. Das Verteilungsproblem, das fallende Löhne in Ländern mit hohem Lohnniveau hervorrufen, halten sie für eine vorübergehende Erscheinung: Letztlich werde das Wachstum die Löhne weltweit sogar über das frühere Hochlohn-Niveau hinaus anheben.
Doch angesichts des Ziels, beim Ressourcenverbrauch ein nachhaltiges – das heißt auf Dauer umweltverträgliches – Maß zu wahren, stellt sich die Frage: Was wird geschehen, wenn die gesamte Weltbevölkerung im Stil der heutigen Hochlohn-Länder Ressourcen verbraucht? Die Neoklassiker ignorieren diese Frage meist oder behaupten schlicht, es gebe keine Grenzen des Wachstums.
Das Paradigma der Steady-state-Ökonomie legt eine andere Antwort nahe. Die Regenerations- und Assimilationsfähigkeit der Biosphäre, die schon vom gegenwärtigen Ressourcenverbrauch überfordert ist, könnte – bei weltweit gleichmäßig hohem Lebensstandard – gewiß nicht ein Vielfaches davon bewältigen. Und noch viel weniger vermag das globale Ökosystem eine stetig wachsende Bevölkerung auszuhalten, die pro Kopf immer mehr konsumiert. Unsere Gattung beansprucht schon heute rund 40 Prozent der zu Lande durch Photosynthese geschaffenen Primärprodukte. Was wird aus der biologischen Artenvielfalt, wenn sich die Menschheit – wie vermutet – in den nächsten 30 bis 50 Jahren einmal wieder verdoppelt (Bild 3)?
Solche Grenzen hindern das Wachstum, Allokations- und Verteilungsprobleme wie von selbst aus der Welt zu schaffen. In Wirklichkeit beschleunigt der Freihandel sogar das Tempo, mit dem der internationale Wettbewerb die Standards für Wirtschaftlichkeit, Verteilungsgerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit senkt.
Doch trotz dieser enormen Probleme sind größere Freihandelsblöcke für die Unternehmen offensichtlich attraktiv. Je größer die Freihandelzone, desto weniger läßt sich ein großes und ungebundenes Unternehmen von einem örtlichen oder sogar nationalen Gemeinwesen zur Rechenschaft ziehen; es fällt ihm leichter, kostenintensive und gewinnbringende Standorte räumlich zu trennen, kann also Arbeitskraft auf Billiglohn-Märkten kaufen und seine Produkte auf anderen Märkten mit hohem Lohn- und Einkommensniveau verkaufen. Je größer der insgesamt zugängliche Markt ist, desto länger vermag ein Unternehmen sich der Einsicht von Henry Ford zu entziehen, er müsse seinen Arbeitern wenigstens so viel zahlen, daß sie seine Autos kaufen könnten. Dies ist der Grund, warum transnationale Unternehmen den Freihandel befürworten, Arbeiter und Umweltschützer hingegen nicht.
Die Wirtschaft als offenes System
Vom Standpunkt der Steady-state-Ökonomie ist die Volkswirtschaft ein offenes Untersystem in einem endlichen, nicht wachsenden und stofflich geschlossenen Ökosystem. Ein offenes System entnimmt der Umwelt Materie und Energie als Rohstoffe und gibt sie als Abfall zurück. Bei einem geschlossenen System zirkuliert hingegen die Materie fortwährend im Innern, und nur die Energie fließt hindurch. Was als Input in das System hineingeht und es als Output wieder verläßt, heißt Durchsatz. Wie ein Organismus durch Verzehr von Nährstoffen und Ausscheiden von Abfällen überlebt, so muß auch jede Wirtschaft die Umwelt bis zu einem gewissen Grad ausbeuten und verschmutzen. Eine Steady-state-Wirtschaft zeichnet sich nun dadurch aus, daß ihr Durchsatz auf einem konstanten Niveau bleibt, bei dem die Umwelt weder über ihre Regenerationsfähigkeit hinaus ausgebeutet noch über ihre Aufnahmefähigkeit hinaus verschmutzt wird.
Die meisten neoklassischen Wirtschaftsanalysen hingegen unterstellen heute, die Wirtschaft sei das Gesamt- und die Natur lediglich ein Subsystem. Die Wirtschaft gilt insofern als isoliert, als nach dieser Vorstellung darin nur ein Tauschwert-Kreislauf zwischen Unternehmen und Haushalten stattfindet. Weder Materie noch Energie tritt in dieses System ein oder verläßt es. Darum kann die Wirtschaft unbegrenzt wachsen. Die Natur mag zwar endlich sein, aber sie gilt nur als ein Sektor der Volkswirtschaft; er kann von anderen Sektoren ersetzt werden, ohne das gesamte Wachstum zu begrenzen.
Obwohl dieses Kreislaufmodell nützlich ist, um die Tauschvorgänge zwischen Produzenten und Verbrauchern zu analysieren, führt es in die Irre, wenn man den Maßstab der Volkswirtschaft – das heißt ihre Größe relativ zur Umwelt – untersucht. Es ist, als würden die Biologen glauben, jedes Tier hätte zwar ein Kreislaufsystem, aber weder einen Verdauungstrakt noch Lungen. Ein solches Wesen wäre von seiner Umwelt unabhängig, und seine Größe wäre beliebig. Wenn es sich bewegen könnte, wäre es ein Perpetuum mobile.
Vor langer Zeit gab es auf der Welt relativ wenige Menschen und menschlichen Besitz (künstliches Kapital), dafür aber relativ viele andere biologische Arten mit ihren Lebensräumen (natürliches Kapital). Das Wirtschaftswachstum hat nun mit der Zeit nicht nur dieses Bild grundlegend gewandelt, sondern zugleich auch neue Grenzen für künftiges Wachstum gezogen.
Wenn man künstliches und natürliches Kapital ohne weiteres gegenseitig substituieren könnte, ließe sich das natürliche Kapital vollständig ersetzen. Aber die beiden sind zueinander komplementär – das heißt, die Knappheit des einen setzt der Substitution gewisse Grenzen. Was nützen Fischerboote, wenn es keine Fische mehr gibt? Wozu sind Sägewerke ohne Wälder gut? Einst war die Anzahl der auf dem Markt verkäuflichen Fische hauptsächlich durch die Zahl der Boote begrenzt, die gebaut und bemannt werden konnten; heute begrenzt die Anzahl der Fische im Meer das Angebot (siehe "Die Bewertung natürlicher Ressourcen" von Robert Repetto, Spektrum der Wissenschaft, August 1992, Seite 36).
Solange die Menschen in einem – relativ zum Ökosystem – sehr kleinen Maßstab wirtschafteten, schien seine Steigerung ohne Opfer möglich. Doch nun ist dieser Maßstab so groß, daß weiteres Wachstum opferreich und unvernünftig wäre. Wenn wir die Wirtschaft als Subsystem eines endlichen, nicht wachsenden Ökosystems begreifen, muß es ein maximales Maß für ihren Durchsatz an Materie und Energie geben. Vor allem muß auch ein optimaler Maßstab existieren. Wächst die Wirtschaft über dieses Optimum hinaus, so steigen die ökologischen Kosten schneller als die Produktionsgewinne, und das System gerät in einen anti-ökonomischen Zustand, der nicht Reichtum, sondern Armut schafft.
Beunruhigende Indizien sprechen dafür, daß wir diesen Punkt schon überschritten haben und – wie Alice im Wunderland – immer weiter zurückfallen, je schneller wir rennen. Zum Beispiel ist in den Vereinigten Staaten die Korrelation zwischen dem Bruttosozialprodukt und dem Index für nachhaltigen wirtschaftlichen Wohlstand (der auf dem individuellen Verbrauch beruht und die Erschöpfung des natürlichen Kapitals sowie andere Faktoren berücksichtigt) inzwischen negativ geworden.
Wie unser Planet wird sich die Weltwirtschaft vielleicht qualitativ immer weiter entwickeln; aber sie kann nicht unbegrenzt wachsen, sondern muß schließlich in ihren stofflichen Dimensionen einen stationären Zustand erreichen. Das heißt nicht, daß er armselig sein muß. Wir Ökonomen müssen grundsätzlich zwischen Wachstum (einer quantitativen Größenzunahme durch das Ansammeln oder Assimilieren von Materialien) und Entwicklung (der qualitativen Evolution zu einem erfüllteren, besseren oder jedenfalls anderen Zustand) unterscheiden. Quantitative und qualitative Veränderungen gehorchen nicht den gleichen Gesetzen. Daß wir beide unter dem Begriff Bruttosozialprodukt vermengen, hat viel Verwirrung gestiftet.
Entwicklung ohne Wachstum ist nachhaltig. Eine Wirtschaft in stationärem Maßstab vermag auch weiterhin ihre Fähigkeit zur Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse zu steigern, indem sie die Ressourcen effizienter nutzt, die sozialen Einrichtungen verbessert und ihre ethischen Prioritäten klarer definiert – aber nicht, indem sie den Durchsatz an Ressourcen erhöht.
Freihandel, Wachstum und Entwicklung
Wenn man die Unterscheidung zwischen Wachstum und Entwicklung auf den Welthandel anwendet, ergeben sich zwei Fragen: Wie wirkt sich der Freihandel auf das Wachstum aus? Und wie auf die Entwicklung?
Wahrscheinlich fördert der Freihandel das Wachstum des Durchsatzes: Ein Land bekommt praktisch die Möglichkeit, die heimischen Regenerations- und Absorptionsschranken zu überschreiten, indem es die dafür nötigen Kapazitäten gewissermaßen aus anderen Ländern importiert (etwa durch Nutzung ausländischen Deponieraums für gefährliche Abfälle). Zwar muß man zugeben, daß das Partnerland, das einen Teil seiner Belastungskapazität in diesem Sinne exportiert und dafür Importprodukte eintauscht, seinen Durchsatz vielleicht noch stärker erhöht hätte, wären dieselben Produkte im Inland hergestellt worden. Doch im großen und ganzen schiebt der Handel nur den Tag hinaus, an dem die Länder sich letztlich doch mit ihren natürlichen regenerativen und absorptiven Kapazitäten begnügen müssen. Wenn einige Länder noch immer überschüssige Belastungskapazität haben, spricht das eher für eine Schwäche ihres Binnenwachstums als für eine bewußte Entscheidung, diese Kapazität für den Export zu reservieren (Bild 4).
Weil der internationale Handel Kosten und Nutzen der Umweltausbeutung räumlich voneinander trennt, lassen sie sich schwerer gegeneinander abschätzen. Dadurch werden die Volkswirtschaften noch geneigter, über ihr optimales Maß hinauszuschießen. Außerdem zwingt der Handel den beteiligten Ländern strengere ökologische Beschränkungen praktisch gleichzeitig auf. Andernfalls würde ein Land nach dem anderen damit konfrontiert; sie könnten voneinander lernen, wie man den Durchsatz steuert, und hätten mehr Kontrolle über ihre lokale Umwelt.
Die Standardargumente für den Freihandel operieren nicht nur mit dem komparativen Kostenvorteil, sondern außerdem mit einem rein statischen Verständnis von Wirtschaftlichkeit. Zum Beispiel fördert der freie Handel mit Giftmüll die statische Wirtschaftlichkeit, indem er die Deponierung überall dort zuläßt, wo sie mit heutigen Preisen und Techniken weniger kostet. Einer dynamisch verstandenen Wirtschaftlichkeit wäre hingegen mit einem Verbot von Gift-Exporten besser gedient. Dieser Schritt würde die Deponierungskosten nämlich direkt am Ursprungsort der Gifte internalisieren – sowohl in der Firma, die sie erzeugt hat, als auch in der Nation, unter deren Gesetzen die Firma tätig ist. Dadurch würde ein Anreiz geschaffen, bessere Techniken zur Giftbeseitigung zu entwickeln oder die Produktion so umzugestalten, daß die Gifte gar nicht erst entstehen.
All die Allokations-, Verteilungs- und Maßstabsprobleme, die der Freihandel verursacht, müßten eigentlich die traditionelle Vorliebe für ihn ins Gegenteil verkehren. Man sollte konsequenterweise jede Maßnahme zur weiteren Integration von Volkswirtschaften zunächst als schlechten Vorschlag betrachten und für jede einzelne Ausnahme von dieser Regel überzeugende Gründe verlangen.
Ronald Findley von der Columbia-Universität in New York hat den komparativen Kostenvorteil das wohl "tiefste und schönste Resultat in der gesamten Wirtschaftstheorie" genannt. Doch in einer Welt, die wie nie zuvor von international mobilem Kapital geprägt wird, ist das Beharren auf der praktischen Geltung dieses Prinzips nicht ein Rezept zur Integration, sondern zur Auflösung der Nationen.
Literaturhinweise
- Zur Rettung des Planeten Erde. Strategien für eine ökologisch nachhaltige Weltwirtschaft. Von Lester R. Brown, Christopher Flavin und Sandra Postel. S. Fischer, Frankfurt am Main 1992.
– Erdpolitik. Ökologische Realpolitik an der Schwelle zum Jahrhundert der Umwelt. Von Ernst Ulrich von Weizsäcker. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1992.
– For the Common Good. Von H.E. Daly und J.B. Cobb jr. Beacon Press, 1989.
– International Trade and the Environment. Herausgegeben von Patrick Low. Weltbank, 1992.
– Population, Technology and Life- style: The Transition to Sustainability. Herausgegeben von Robert Goodland und anderen. Island Press, Washington, D.C., 1992.
– Myths and Misconceptions of Free Trade. Von Ravi Batra. Scribner's, 1993.
– International Trade and Environment. Herausgegeben von Carl Folke und anderen. Sonderausgabe von Ecological Economics, Band 9, Heft 1, Februar 1994 (im Druck).
Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 1994, Seite 40
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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