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Die Genetik der Blütenentwicklung

Aus ihrer relativen Lage in der künftigen Blüte erfährt eine Zelle, welche Strukturen sie mit ihren Abkömmlingen bilden soll. Die Positionsinformation liefern ihr gewisse Produkte von Genen. Aus einem Modell mit nur einem halben Dutzend solcher Gene läßt sich voraussagen, wie Defekte darin den Blütenbau beeinträchtigen.

Wenn der Laie von Blüten spricht, meint er fast immer unwissentlich die der Bedecktsamer. Solche Blüten setzen sich aus mehreren eigenständigen Organtypen zusammen. Bei vollständiger Ausstattung und im typischen Fall sind das (von außen nach innen) die meist grünen Kelchblätter, die meist auffällig gefärbten Kron- oder Blütenblätter, die pollenproduzierenden Staubblätter oder -gefäße und die Fruchtblätter mit den Samenanlagen. Bei fast allen Wildformen mit kompletten Blüten wird diese Grundordnung zwar eingehalten; einzelne Arten und Varianten unterscheiden sich jedoch innerhalb dieses Rahmens in der charakteristischen Form und Anordnung.

Da die Reihenfolge der Blütenorgane zu den ererbten Eigenschaften einer Pflanze gehört, muß die Information dafür im genetischen Material – also in der DNA – enthalten sein. Wie aber kann in der linearen Abfolge von Basenpaaren in der chromosomalen DNA die räumliche Struktur einer sich ausbildenden Blüte codiert sein?

Dieses Problem stellt sich für jegliche Struktur in einem sich entwickelnden Lebewesen. Welche Gene wann und wie zusammenspielen, wenn beispielsweise aus einer einzigen befruchteten Eizelle eines Tieres der Embryo heranwächst, ist eines der faszinierendsten Forschungsprobleme unserer Zeit. Dabei geht es etwa darum, wie vorn und hinten, oben und unten für den Körper festgelegt werden oder wie sich aus einer Gliedmaßenknospe beispielsweise ein Flügel entwickelt (siehe Spektrum der Wissenschaft, April 1994, Seite 38; September 1991, Seite 64; Dezember 1985, Seite 148 sowie September 1979, Seite 8). Bei Pflanzen werden zudem auch nach der Embryonalentwicklung noch ständig neue Organe angelegt.

Die Mechanismen dieser sogenannten Musterbildung sind erst teilweise verstanden. Klar ist jedoch, daß eine Zelle anhand ihrer relativen Lage im Organismus instruiert wird, welche Strukturen sie und ihre Tochterzellen bilden sollen. Die Positionsinformation vermitteln ihr Kombinationen oder Konzentrationsgefälle regulatorischer Proteine, die in bestimmten Regionen eines Organismus vorhanden sind.

Musterbildung bei Blüten zu untersuchen bietet sich deshalb an, weil sie dort recht einfach verläuft. Blüten bestehen im allgemeinen nur aus den vier genannten, zudem leicht unterscheidbaren Arten von Organen, von denen sich jede wiederum aus nur einer geringen Zahl von Zelltypen zusammensetzt. Außerdem lassen sich Pflanzen im Labor leicht halten und manipulieren.

Das Grundprinzip unseres Ansatzes ist, die DNA der Pflanzen zu verändern und aus den Auswirkungen, die das auf die endgültige Struktur der Blüten hat, die Mechanismen zu erschließen. Überprüfen lassen sich die Schlußfolgerungen dann durch genetische sowie biochemische Experimente, wobei auch neue Blütentypen konzipiert und erzeugt werden.

Die Fähigkeit zum Blüten-Design ist angesichts der Tatsache, daß ein Großteil der menschlichen Nahrung letztlich aus Blütenprodukten wie Früchten und Körnern besteht, nicht gering zu bewerten. Eines Tages, wenn das Verständnis der Musterentwicklung auf diesem Gebiet weit genug gediehen ist, sollten sich Pflanzen schaffen lassen, die mehr der für uns relevanten Strukturen ausbilden und damit ertragreicher sind. Unsere Arbeitsgruppe hat bereits einige Schritte in dieser Richtung unternommen.

Daß ein genetischer Ansatz Erfolg verspricht, war vorab klar. Viele gärtnerische Varietäten von Pflanzen sind durch Zucht so verändert, daß ihre Blüten eine abnorme Anordnung und Anzahl von Organen aufweisen. Eigentlich sind die meisten beliebten oder gar als besonders schön prämiierten Zierpflanzen nichts anderes als entwicklungsbiologische Monstrositäten, bei denen infolge Mutationen der normale Ablauf der Musterbildung gestört ist. Beispielsweise haben Wildrosen nur fünf Kronblätter, die Teerosen-Hybriden in meinem Garten hingegen 35 oder 40. Und bei wilden Kamelien gibt es Staub- und Fruchtblätter – sonst könnten sie keine Samen bilden; bei Zuchtformen wie "Pink Perfection" aber (sie ziert meinen Vorgarten) nehmen zahlreiche zusätzliche Kronblätter den Platz der reproduktiven Organe ein.

Aus solchen genetischen Varianten ist zu schließen, daß Veränderungen der DNA-Sequenz die Grundordnung der Organe in der Blüte bleibend und in bestimmter Weise umgestalten können. Aus geeigneten Mutanten ist daher viel über die Genetik der Musterbildung zu erfahren. Freilich bieten sich Rosen oder Kamelien kaum dafür an; eingehende Analysen erfordern eine hohe Anzahl an Pflanzen, und ihre langen Generationszeiten sowie ihre Größe machen sie für die Grundlagenforschung zu teuer.


Ein Wildkraut als Studienobjekt

Pflanzengenetiker sind jedoch schon vor längerer Zeit auf ein geeigneteres Objekt gekommen: die Ackerschmalwand (Arabidopsis thaliana). Das vermehrungsfreudige Unkraut aus der Familie der Kreuzblütler wächst rasch auch in geschlossenen Räumen bei normalem Neonlicht heran und ist so klein, daß einige tausend Pflanzen von der Aussaat bis zur Reife auf einen Tisch passen (Bild 1). In weiten Teilen Europas und Nordamerikas trifft man es auf offenen Böden, schütteren Wiesen oder Rasenflächen an, geschmückt mit Trauben kleiner, weißer Blüten, die längliche Früchte mit winzigen Samen bilden. Der sie tragende Stengel erhebt sich kaum mehr als 30 Zentimeter aus einer kleinen Rosette grundständiger Blätter. Trotz ihrer geringen Größe ist die Ackerschmalwand in allen grundlegenden Punkten eine typische höhere Blütenpflanze.

Ihre Blütenorgane sind normalerweise in vier konzentrischen Wirteln angeordnet, jeder mit einem anderen Organtyp: außen vier grüne Kelchblätter, gefolgt von vier weißen Kronblättern, dann sechs Staubblätter (vier lange und zwei kurze) und schließlich ganz innen zwei zu einem Stempel verwachsene Fruchtblätter (Bild 2). Der Stempel selbst gliedert sich von unten nach oben in Fruchtknoten, Griffel und Narbe.

Jede Blüte der Traube entwickelt sich aus einer kleinen Erhebung undifferenzierter Zellen dicht neben dem Scheitel des wachsenden Blütensprosses. In dieser Anlage, Primordium genannt, teilen, differenzieren und strecken sich die Zellen. Aus einer Kombination dieser drei Prozesse an jeweils genau festgelegter Stelle erwächst eine Blüte. Woher aber kennen die Zellen der Anlage ihre Position?

Für unsere genetischen Experimente suchten wir erst einmal nach mutierten Pflanzenlinien mit abnormer Reihenfolge der Blütenorgane; bei ihnen hofften wir, einzelne Gene zu identifizieren, deren Produkt – ein Protein – jeweils für eine korrekte Musterbildung unerläßlich ist. Ohne diese Eiweißstoffe würden undifferenzierte Zellen sozusagen eine falsche Positionsangabe erhalten und zu normalen Organen, aber am falschen Ort werden. (Mutationen, die sich in dieser Weise auswirken, werden homöotisch genannt.)

Einen Teil der Mutanten gewannen wir selbst: durch Behandlung von Samenkörnern mit dem mutagenen Stoff Ethylmethansulfonat; die daraus hervorgehenden Pflanzen wurden auf geeignete Abweichungen durchmustert. Weitere Arabidopsis-Linien mit abnormen Blüten erbaten wir uns von Kollegen wie Maarten Koornneef an der Landwirtschaftsuniversität Wageningen in den Niederlanden. Insgesamt kamen etliche solcher Mutanten zusammen.


Das genetische Grundmodell

Ursprünglich fielen alle mutierten Blüten, die wir zu Gesicht bekamen, in drei Kategorien (Bild 3). Die erste hat Frucht- statt Kelchblätter im ersten Wirtel und Staub- statt Kronblätter im zweiten; zudem kann die Zahl der Organe geringer sein. Ursache sind Defekte, die das Gen APETALA2 inaktivieren (per Konvention werden die wissenschaftlichen Namen von Arabidopsis-Genen durchweg mit Großbuchstaben geschrieben; Pflanzen mit einer Mutation in diesen Genen bekommen dieselbe Bezeichnung, nur klein geschrieben).

Blüten der zweiten Klasse weisen Kelchblätter im ersten und zweiten Wirtel sowie Fruchtblätter im dritten und vierten auf, außerdem eine eventuell geringere Zahl von Organen. Bei ihnen ist entweder das Gen APETALA3 oder PISTILLATA betroffen.

Die dritte Klasse – bei ihr ist das Gen AGAMOUS inaktiv – zeichnet sich durch die Reihenfolge Kelch-, Kron-, Kron- und Kelchblätter aus. Zusätzlich gibt es bei ihr weitere, zentralere Kreise von Organen, die das Muster der vier äußeren wiederholen; dies deutet darauf hin, daß das Protein von AGAMOUS – außer daß es die Identität der Organe im dritten und vierten Wirtel festlegt – auch die Blütenentwicklung stoppt, nachdem der vierte Kreis etabliert ist.

Bei jeder der drei Kategorien ist eine andere genetische Aktivität ausgefallen, die für die normale Musterbildung in der Blüte unerläßlich ist. Der Einfachheit halber werde ich das jeweils fehlende Programm mit einem Buchstaben bezeichnen: Apetala-2-Mutanten fehlt A, apetala-3- und pistillata-Mutanten B und agamous-Mutanten C.

Anhand dieser wenigen Informationen konnten wir bereits eine einfache vorläufige Hypothese als ein Arbeitsmodell erstellen, wie diese vier Gene, wenn sie normal aktiv sind, zur Festlegung der Organidentität in sich entwickelnden Blüten beitragen könnten. Das Modell besteht aus drei Teilen, Ausführungsregeln gewissermaßen:

-Jedes der von diesen Genen codierten Proteine ist in einem frühen Stadium in eben der Region wirksam, auf die sich die einschlägige Mutation auswirkt: das A-Aktivitäts-Gen APETALA2 demnach im ersten und zweiten Wirtel, APETALA3 und PISTILLATA im zweiten und dritten sowie das C-Aktivitäts-Gen AGAMOUS im dritten und vierten.

-Kombinationen dieser Proteine bestimmen die Identität der Blütenorgane, die aus einer Anlage hervorgehen. Jedes Organ, das sich in einem Bereich ausschließlicher A-Aktivität bildet, wird sich zu einem Kelchblatt entwickeln; in einer Region mit A- wie B-Aktivität wird es zu einem Kronblatt, bei gemeinsamer B- und C-Aktivität zu einem Staubblatt, und bei ausschließlicher C-Aktivität zu einem Fruchtblatt.

-Die A- und die C-Aktivität schließen sich gegenseitig aus; kein Bereich kann beide gleichzeitig enthalten. Fehlt aber die A-Aktivität (wie bei den apetala-2-Mutanten), tritt anders als sonst die von C auch im ersten und zweiten Wirtel auf. Umgekehrt erscheint beim alleinigen Ausfall von C (wie bei agamous-Mutanten) A auch im dritten und vierten Wirtel.


Vorhersagbarkeit des Ergebnisses

Mit diesen drei Regeln lassen sich zwar die von den Mutanten gebildeten Blüten hinreichend erklären; doch daß das Modell mit den Indizien im Einklang steht, ist noch kein Beweis seiner Richtigkeit – es muß überprüft werden.

Eine Möglichkeit bieten einfache genetische Experimente. Das Modell gibt präzise an, was passieren sollte, wenn jeweils zwei Aktivitäten ausgeschaltet werden. Bei Pflanzen mit Mutationen sowohl im APETALa-2- als auch im APETALa-3-Gen zum Beispiel sollte die Blütenanlage nur C-Aktivität enthalten, die sich in die ersten beiden Wirtel ausdehnt. Dem Modell zufolge müßten dann alle Organe zu Fruchtblättern werden. Entsprechende von uns gekreuzte Pflanzen bestätigten diese Voraussage (Bild 4). Analog sollten sich ohne B und C, wenn man etwa apetala3 und agamous zu einer Doppelmutante kombiniert, alle Blütenorgane als Kelchblätter entwickeln. Auch dies war der Fall (Bild 5).

Aus den von uns beobachteten Blütentypen konnten wir nicht ableiten, welche Organarten in mutierten Pflanzen mit alleiniger B-Aktivität auftreten würden. Aus dem Modell war jedoch zu erwarten, daß die Organe im ersten und vierten Wirtel gleichartig sein sollten, aber verschieden von denen im zweiten und dritten. Als wir apetala-2-agamous-Doppelmutanten züchteten, denen A- wie C-Aktivität fehlte, entwickelten sie im ersten und vierten Wirtel Laubblätter, im zweiten und dritten hingegen Übergangsformen zwischen Kron- und Staubblättern (Bild 6).

Bei Dreifachmutanten schließlich differenzierten sich die sonst zu Blütenorganen werdenden Strukturen zu Laubblättern (Bild 7). All dies erhärtete das Modell und deutete darauf hin, daß die drei Aktivitäten anscheinend ausreichten, nicht nur die Unterschiede zwischen den Blütenorganen selbst, sondern auch zwischen diesen und den vegetativen Organen – den Laubblättern – festzulegen.

Weitere Belege zugunsten unseres Radialmuster-Modells kamen zusammen, nachdem andere Forschergruppen und wir einige der Gene kloniert hatten, welche die Identität von Blütenorganen festlegen. Mit diesem genetischen Material als Matrize ließen sich Sonden für ein als In-situ-Hybridisierung bezeichnetes Verfahren herstellen. In unserem Fall waren das radioaktiv markierte Ribonucleinsäure-Moleküle (RNAs) komplementär zu den jeweiligen Boten-RNAs der Gene. (Eine Zelle verfertigt von einem aktiven Protein-Gen eine Art Abschrift, eine einzelsträngige Boten-RNA, welche die Information zu den Proteinfabriken bringt. Einander komplementäre Moleküle lagern sich – wie im Falle der DNA – zu einem Doppelstrang zusammen; diesen Vorgang bezeichnet man als Paarung oder Hybridisierung.)

Nach dem Aufbringen auf Gewebeschnitte sich entwickelnder Blüten hefteten sich die markierten Sonden an jede passende Boten-RNA aktiver Gene in den Zellen. Wo das geschehen ist, verrät eine darübergeschichtete, für radioaktive Strahlung empfindliche Photoemulsion (Bild 8).

Das erste von uns klonierte Gen war AGAMOUS, also jenes für die C-Aktivität. Die In-situ-Hybridisierung mit AGAMOUS-Sonden an sich entwickelnden Blüten verifizierte eine Voraussage aus dem Modell: Boten-RNA dieses Gens erscheint früh und nur in den Regionen der Anlage, die später zum dritten und vierten Wirtel werden. Auch daß sich die C-Aktivität in Abwesenheit von A-Aktivität abnorm weit in den ersten und zweiten Wirtel erstrecken sollte bestätigte sich; bei apetala2-Mutanten fanden sich in allen vier Wirteln der heranwachsenden Blüten Agamous-RNA. Später, nach Klonierung der Gene APETALA3 und PISTILLATA, verwendeten wir gleichartige Sonden zum Nachweis der B-Aktivität – sie trat erwartungsgemäß im zweiten und dritten Wirtel auf.


Hinweise auf die Funktionsweise

Noch wichtiger ist, daß mit der Klonierung dieser für die Organidentität verantwortlichen Gene genügend DNA für eine Analyse zur Verfügung stand. So konnten wir ein erstes Verständnis der von ihnen produzierten Proteine erlangen und sehen, wie sie innerhalb der Zelle agieren.

Zum Beispiel ähnelt ein beträchtlicher Teil des von AGAMOUS codierten Proteins in seiner Aminosäuresequenz stark gewissen DNA-bindenden Proteinen, die bei Hefepilzen, Menschen und anderen Organismen vorkommen. Bekannt ist, daß diese Eiweißstoffe die Transkription – das Abschreiben von Genen in RNA – regulieren. Sie wirken als molekulare Schalter für Gene, indem sie bestimmte regulatorische DNA-Sequenzen in deren Nähe besetzen.

Alfred Nordheim und seine Mitarbeiter an der Medizinischen Hochschule Hannover haben gezeigt, daß sich das AGAMOUS-Protein tatsächlich an DNA heftet und somit höchstwahrscheinlich wie andere Gene seiner Klasse eine regulatorische Funktion hat. Wir wissen zwar noch nicht, welche Gene das AGAMOUS-Protein in der Arabidopsis-Blüte reguliert, aber wir können postulieren, daß es die Aktivität einer Reihe nachgeordneter Gene kontrolliert. Diese regulieren womöglich weitere; vielleicht bilden sie aber auch die Proteine, durch die sich schließlich ein Blütenzelltyp vom anderen unterscheidet.

Übrigens codiert ein menschliches, mit AGAMOUS verwandtes Gen für den Serum-Reaktionsfaktor; das Protein reguliert das Onkogen c-fos, das möglicherweise bei Krebserkrankungen des Menschen eine Rolle spielt. Diese ganz bemerkenswerte Parallele zwischen menschlicher und pflanzlicher Genkontrolle unterstreicht die evolutionäre Einheit des Lebens.

Während wir dabei waren, das AGAMOUS-Gen der Ackerschmalwand zu klonieren, arbeiteten Hans Sommer, Zsuzsanna Schwarz-Sommer und Heinz Saedler mit ihren Kollegen am Max-Planck-Institut für Züchtungsforschung in Köln an einem ähnlichen Projekt. Ihnen ging es um ein Gen des Löwenmäulchens, das in dieser nur entfernt mit der Schmalwand verwandten Pflanze das Äquivalent der B-Aktivität bereitstellt. Mutanten mit einem Defekt in diesem als DEFICIENS bezeichneten Gen waren seit vielen Jahrzehnten bekannt. Wie sich zeigte, gehört sein Protein zu derselben Klasse DNA-bindender Eiweißstoffe wie das von AGAMOUS. Dies deutete darauf hin, daß auch andere Blütenmuster-Gene Mitglieder der Familie sein könnten.

Die deutsche Gruppe klonierte im weiteren eine Reihe von regulatorischen Genen des Löwenmauls. Bislang entsprechen sie alle den jeweiligen Arabidopsis-Genen, sowohl in den verwandten Proteinsequenzen, für die sie codieren, als auch in der Art der Abnormitäten im Entwicklungsmuster, die bei ihrem Verlust auftreten. (Die evolutionär konservierte DNA-Binderegion wird MADS-Box genannt – nach den ersten vier beschriebenen Proteingenen: MCM1, AGAMOUS, DEFICIENS und SRF.)

Wir und unsere deutschen Kollegen haben in unseren pflanzlichen Studienobjekten auch zahlreiche Mitglieder dieser Genfamilie gefunden, die in Teilen der sich ausbildenden Blüte aktiv sind, aber mit keiner bekannten Blütenmutante in Zusammenhang stehen. Diese Familie birgt also eventuell noch wei- tere Anhaltspunkte für die Blütenentwicklung.

Die Hierarchie

Somit ergibt sich das Bild einer kleinen Gruppe von regulatorischen Genen, welche die Organidentität bestimmen, indem sie nach einem höchst spezifischen Muster aktiv werden und andere Gene über eine regulatorische Kaskade kontrollieren. Woraus erfahren die Gene dieser Gruppe aber den richtigen Ort, an dem sie während der Frühentwicklung der Blüte in Aktion zu treten haben?

Nun, sie stehen selbst nur in der Mitte, nicht am Anfang der regulatorischen Kaskade. Zu dem Zeitpunkt, an dem Zellen Gene für die Organidentität ausprägen, müssen sie sich schon von ihren Nachbarzellen unterscheiden. Die konzentrischen Areale der späteren Domänen, in denen die Organe einen bestimmten Entwicklungsweg einschlagen, müssen also bereits abgesteckt sein. Entsprechend sind die Organidentitäts-Gene zwar wesentlich, um in der Zelle deren Position im Gewebe zu deuten, legen aber nicht selbst positionsabhängige Unterschiede fest.

Eine weitere Gruppe regulatorischer Gene, die noch früher in der Blütenentwicklung wirksam sind, scheint die Positionsdomänen zu etablieren. Eines dieser Gene heißt SUPERMAN; es war auch unter der Bezeichnung FLO10 von einem Team um George W. Haughn, der heute an der Universität von Saskatchewan in Saskatoon (Kanada) tätig ist, untersucht worden. Bei Pflanzen mit einem Defekt darin enthält der vierte Blütenwirtel weitere Staubblätter und keine oder nur reduzierte Fruchtblätter (weshalb die Mutante spaßeshalber superman getauft wurde; Bild 9a). Dem genetischen Modell zufolge bedeutet das, daß in diesem Falle die B-Aktivität auch im vierten Wirtel auftritt – was wiederum nahelegt, daß SUPERMAN normalerweise das verhindert.

Trifft das zu, dürften bei einem zweifachen Gendefekt – in SUPERMAN und in APETALA – die Blüten wie bei apetala-3-Mutanten aussehen: Wenn ein B-Aktivitäts-Gen wie APETALA3 nicht funktioniert, spielt es keine Rolle mehr, ob es falsch reguliert wird. Züchtungsexperimente haben dies sowie zwei weitere Voraussagen bestätigt (Bild 9b bis d): daß bei Doppelmutanten, denen außer der SUPERMAN-Aktivität auch die von AGAMOUS (und damit von C) fehlt, Kelchblätter drei Wirtel mit Kronblättern umgeben und daß Dreifachmutanten, bei denen zudem die Aktivität von APETALA2 (und damit von A) ausgefallen ist, in einem Kranz von Laubblättern drei Wirtel mit Übergangsformen zwischen Staub- und Kronblättern enthalten.

Die Vorstellung, SUPERMAN reguliere die B-Aktivitäts-Gene, wurde zudem durch Tests mit molekularen Sonden gestützt. Bei seinem Ausfall taucht Boten-RNA von APETALA3 und PISTILLATA auch im vierten Wirtel auf und nicht nur – wie sonst – im zweiten und dritten. Daraus erklärt sich zwar, weshalb die B-Aktivitäts-Gene im vierten Wirtel nicht angeschaltet werden, wenn SUPERMAN in Aktion ist. Wieso aber springen sie im zweiten und dritten Wirtel trotz seiner Aktion entwicklungsgerecht an? Hier scheint ein Gen ins Spiel zu kommen, das noch früher agiert, nämlich LEAFY. Ist es inaktiv, haben die Blüten weder Kron- noch Staubblätter. An ihre Stelle treten kelchblattähnlicher Organe. Sie wachsen aber nicht in konzentrischen Ringen wie die normalen Organe des zweiten und dritten Wirtels, sondern in spiraliger Ordnung – wie sie für die Stellung der Laubblätter um den Sproß einer Arabidopsis-Pflanze typisch ist.

Das LEAFY-Gen scheint normalerweise den Zellen des zweiten und dritten Wirtels mitzuteilen, daß sie sich in einer künftigen Blüte befinden. Ohne diese Information gehorchen sie bei ihren Teilungen einem Muster, wie es sonst außerhalb von Blüten – nämlich am Sproß – zu sehen ist. Aus der Ähnlichkeit der entstehenden Organe mit Kelchblättern ist zu schließen, daß in ihnen A-Aktivität vorhanden ist und daß LEAFY für das anfängliche Einschalten von A-Genen nicht gebraucht wird. Entsprechendes scheint für die C-Aktivität zu gelten, da leafy-Mutanten im Zentrum der Blüte Fruchtblätter tragen können. LEAFY ist jedoch offenbar entscheidend, um B-Aktivität einzuleiten; ohne es bilden sich keine Kron- und Staubblätter. Es muß überdies der Schlüssel zu noch grundlegenderen Funktionen sein, welche die relative Lage und die radiale Ordnung von Organen bestimmen.

Diese Schlußfolgerung ist im Einklang mit den Erkenntnissen aus molekularen Tests. So sehen leafy-Mutanten genauso aus wie solche, bei denen zugleich das APETALA-3-Gen nicht funktionieren kann; keine weist B-Aktivität auf. Zudem enthalten leafy-Mutanten in ihren sich ausbildenden Blüten weit weniger APETALA-3-Boten-RNA als normale Pflanzen. Das von LEAFY codierte Protein ist deshalb wahrscheinlich ein Aktivator von APETALA3.

Auch der Zeitpunkt, zu dem LEAFY aktiv wird, steht mit dieser Erweiterung unseres ursprünglichen genetischen Modells in Einklang. Enrico S. Coen und seine Mitarbeiter vom John-Innes-Institut im englischen Norwich hatten beim Löwenmaul ein funktionell verwandtes Gen kloniert. Mit diesem als Sonde konnten wir dann LEAFY selbst aus der Ackerschmalwand klonieren. Den RNA-Untersuchungen nach scheinen LEAFY und das verwandte Löwenmaul-Gen unter den bekannten Erbfaktoren jene zu sein, die am frühesten in der Blütenentwicklung aktiv sind. Ihre Boten-RNA erscheint bereits in den Zellgruppen, aus denen die Primordien erst hervorgehen – also lange bevor die Gene für die Organidentität aktiv werden.

Aus Mutationen in weiteren Erbfaktoren ist zu ersehen, daß auch diese eine Rolle in der Frühentwicklung der Blüte spielen. Und zweifellos werden noch zusätzliche Organidentitäts-Gene entdeckt. Die Hierarchie der Gene, welche die Blütenentwicklung bei der Ackerschmalwand kontrollieren, ist aber jetzt schon zumindest in Umrissen sichtbar. Wie die Arbeitsgruppen am John-Innes-Institut und am Kölner Max-Planck-Institut gezeigt haben, sind die Gene der Ackerschmalwand mit den bekannten des Löwenmauls vergleichbar. Nach neueren Erkenntnissen steuern verwandte Gene die Musterbildung bei der Blütenentwicklung weiterer Arten. Das hier beschriebene genetische Modell mag daher wohl auf viele Blüten mit radialem Aufbau zutreffen – vielleicht sogar auf alle.


Gezielte Umgestaltung

Mit einem Modell, das Ergebnisse von Manipulationen vorherzusagen erlaubt, und mit der Kenntnis einiger jener Gene, die Blütenorgane festlegen, haben Forscher jetzt beträchtliche Möglichkeiten, Blüten in wünschenswerter Weise zu gestalten. Man kann die klonierten Gene abwandeln, um ihre Proteine oder ihr Wirkmuster zu verändern, und sie dann in Pflanzen einschleusen.

An einem Vorläufer jener Art von Experimenten, die eines Tages Routine sein könnten, arbeiten wir zusammen mit Martin F. Yanofsky, der inzwischen an der Universität von Kalifornien in San Diego tätig ist. Wir haben an klonierten AGAMOUS-Genen die angrenzenden Regulatorsequenzen (von ihnen hängt ab, wann und wo ein Gen aktiv sein wird) gegen andere Sequenzen eines Gens ausgetauscht, das in allen Zellen ausgeprägt wird. Nach Einschleusen dieser rekombinierten Konstruktion in Tabakpflanzen bildeten diese, wie erwartet, Blüten mit Fruchtblättern (und schließlich heranreifenden Samen) anstelle von Kelchblättern und mit Staub- anstelle von Kronblättern.

Solche Tabakpflanzen haben keinen direkten Nutzen. Aber sie sind ein lebender Beweis für die Macht, die uns das wachsende Verständnis der molekularen Grundlage der Blütenentwicklung bereits jetzt über die Struktur und Funktion mancher Pflanzen verleiht.

Literaturhinweise

- Neue Erkenntnisse zur Blütenentwicklung. Von P. Huijser und J. Klein in: Biologie in unserer Zeit, 24. Jahrgang, Heft 1, Seiten 21 bis 29, 1994.

– Arabidopsis thaliana and Plant Molecular Genetics. Von E.M. Meyerowitz und R.E. Pruitt in: Science, Band 229, Seiten 1214 bis 1218, 20. September 1985.

– Abnormal Flowers and Pattern Formation in Floral Development. Von E.M. Meyerowitz, D.R. Smyth und J. Bowman in: Development, Band 106, Heft 2, Seiten 209 bis 217, Juni 1989.

– Genetic Control of Flower Development by Homeotic Genes in Antirrhinum mayus. Von Z. Schwarz-Sommer, P. Huijser, W. Nacken, H. Saedler und H. Sommer in: Science, Band 250, Seiten 931 bis 936, 16. November 1990.

– The War of the Whorls: Genetic Interactions Controlling Flower Development. Von E. S. Coen und E.M. Meyerowitz in: Nature, Band 353, Heft 6339, Seiten 31 bis 37, 5. September 1991.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 1995, Seite 42
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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