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Die Geschichte des medizinischen Denkens. Antike und Mittelalter.

Aus dem Italienischen
von Corinna Fiedler, Ingrid Lent, Francisca Loetz und Michael Quick.
C. H. Beck, München 1996.
520 Seiten, DM 88,-.

Im Bewußtsein der Öffentlichkeit eilt die westliche Medizin der Gegenwart von einem therapeutischen Erfolg zum nächsten – auf der Grundlage eines als feststehend wahrgenommenen, naturwissenschaftlich fundierten Lehrgebäudes. Aber selbst den der alternativen Medizin Zugeneigten ist selten bewußt, daß die tradierte abendländische Heilkunde seit der griechischen Antike eine vielgestaltige Ideengeschichte durchlaufen hat. Auch die wissenschaftlichen und sozialen Auswirkungen jüngster Entwicklungen wie Transplantations- und Reproduktionsmedizin oder Gentechnologie sind nur als Ausdruck der ihnen zugrundeliegenden kulturhistorischen Prozesse verständlich. In der populärwissenschaftlichen medizinischen Literatur wird diese Problematik jedoch kaum behandelt.

Der französische Medizinhistoriker Mirko D. Grmek unternimmt als Herausgeber einer auf mehrere Bände angelegten "Geschichte des medizinischen Denkens" den Versuch, den Werdegang der Vorstellungen über Gesundheit und Krankheit von der Antike bis zur Gegenwart allgemeinverständlich nachzuzeichnen. Wie in der seit 1993 erscheinenden italienischen Originalausgabe enthält die deutsche Übersetzung des ersten Bandes zwölf Aufsätze überwiegend französischer und italienischer Autoren, die sich mit der Heilkunde zwischen Hippokrates (460 bis 377 vor Christus) und der Scholastik auseinandersetzen.

In seiner Einführung schildert Grmek die Entwicklung seines Fachs und stellt programmatische Forderungen auf: Medizinische Ideengeschichte müsse die Beziehungen zwischen den sozioökonomischen Bedingungen einer Kultur, der gesellschaftlichen Stellung der Ärzte, den wissenschaftlichen Ideen und den tatsächlichen Gegebenheiten der medizinischen Praxis aufzeigen.

Der weitere Aufbau des Werks folgt der Chronologie, von der hellenistischen über die römische und die arabisch-byzantinische bis zur christlich-mittelalterlichen Heilkunde. Daran schließen sich einige systematische Kapitel über Krankheitskonzepte, pharmakologische Theorien, chirurgische und diätetische Behandlungsstrategien sowie epidemiologisch wichtige Krankheiten an.

Jacques Jouanna beschreibt zunächst die hippokratische Medizin als Ursprung einer rationalen Wissenschaft vom Menschen. Aufgrund genauer klinischer Beobachtungen, erkenntnistheoretischer Grundannahmen und der Einsicht in Auswirkungen von Umweltbedingungen auf das Befinden versuchte man über Analogieschlüsse das verborgene Körperinnere zu rekonstruieren. Eines der wichtigsten Resultate dieses Denkens war die klassische Säftelehre. Der Autor will ausdrücklich den Fehler vermeiden, heutige Maßstäbe an damalige Vorstellungen anzulegen; es fragt sich jedoch, ob er den Gehalt antiker anatomischer Vorstellungen trifft, wenn er die Beziehungen zwischen den vermuteten Uterusbewegungen und der Hysterie als "phantasiereich" charakterisiert.

Idealisiert wirkt hingegen die Darstellung der hippokratischen medizinischen Ethik. Ob diese als standespolitische Vorgabe der ärztlichen Realität entsprach, ist medizinhistorisch umstritten und muß dahingestellt bleiben.

Mario Vegetti schildert detailreich die verschiedenen Richtungen der hellenistischen Medizin, die auf der aristotelischen Naturphilosophie beruhten. Außer der systematischen Neuordnung heilkundlicher Kenntnisse ergab sich daraus auch ein neues, eher im heutigen Sinne wissenschaftliches Berufsbild des Arztes.

Die für die römische Medizin typische Rezeption der griechischen Tradition durch Schulenbildung und Kompilation stellt Danielle Gourevitch dar. Außerdem schildert sie das Werk des Claudius Galenus (um 129 bis 199), des neben Hippokrates einflußreichsten Arztes der Antike, als Höhepunkt und Zusammenfassung des Wissens seiner Zeit. Gesundheit ist darin der Zustand einer naturgemäßen Harmonie. Ein Hinweis auf die politischen und gesellschaftlichen Ideale der Zeit, insbesondere das römische Staats- und Herrschaftsmodell, hätte dem Leser das Verständnis für die Herkunft solcher Vorstellungen erleichtert.

Gotthard Strohmaier stellt nicht nur, wie viele vor ihm, die rezeptiv-vermittelnde Funktion der byzantinisch-arabischen Medizin dar, sondern hebt als ihr Charakteristikum heraus, daß sie für die zeitgenössische Elite ein wichtiger Teil des Allgemeinwissens war. Mit den ambivalenten Auswirkungen des christlichen Konzepts der Caritas auf die heilkundliche Ideenbildung befassen sich Jole Agrimi und Chiara Crisciana. Danielle Jacquart beschreibt schließlich die Entstehung der akademischen Medizin in der Scholastik.

Insgesamt gibt der Band einen informativen Überblick, wobei er allerdings überwiegend den tradierten medizinhistorischen Kenntnissen und Kategorien folgt. Darum wird er seinem eigenen Anspruch, das medizinische Denken in der Vielfalt seiner Beziehungen zu anderen kulturellen, wissenschaftlichen und sozialen Phänomenen der jeweiligen Epochen zu schildern, nur teilweise gerecht.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1997, Seite 132
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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