Die Herkunft der Schlußkadenz in der abendländischen Musik
Schlußbildungen in europäischer komponierter Musik sind durch bestimmte Harmoniefolgen markiert. Sie entwickelten sich im Mittelalter innerhalb polyphoner Strukturen. Vorlieben für bestimmte Schlußformeln beruhen nicht – wie Theoretiker lange annahmen – auf Naturgesetzmäßigkeiten, sondern erwuchsen aus den damaligen Kompositionsregeln und erstarrten zu Konventionen.
Kompositionen von Johann Sebastian Bach, Wolfgang Amadeus Mozart oder Ludwig van Beethoven enden in aller Regel mit bestimmten Akkordfolgen. Diese im Prinzip immer gleichen Klangfortschreitungen – Kadenzen genannt – sind am Schluß musikalischer Werke des 18. und 19. Jahrhunderts selbstverständlich; ohne sie dürfte das Stück nicht aufhören.
Kadenzen kennzeichnen die europäische tonale Musik seit dem Mittelalter. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, besonders dann im 20., wandten Komponisten sich davon ab und suchten nach neuen Möglichkeiten. In manchen Stilrichtungen der modernen Unterhaltungsmusik kommen allerdings alte Kadenzformen weiterhin vor.
Bis ins 19. Jahrhundert vermuteten Musiktheoretiker, die Kadenzen seien deswegen so markant, weil sie natürlichen Gesetzmäßigkeiten entsprächen: In den Harmonien und Klangfolgen träten physikalische Beziehungen hervor, die Ohr und Gehirn wahrnähmen; irgendwann hätten abendländische Komponisten diese allgemeingültigen harmonischen Entsprechungen entdeckt. Verfolgt man aber die Evolution der Kadenzen zurück bis ins frühe Mittelalter, wird deutlich, daß sie sich einst aus kompositionstechnischen Zwängen ergaben – und daß die Hörer sich mit der Zeit so daran gewöhnten, daß sie Alternativen noch heute nicht als gleichwertig empfinden.
In der europäischen Musik des 18. und 19. Jahrhunderts, die man umgangssprachlich gern die klassische nennt, bestehen Kadenzen aus mindestens zwei Akkorden. Tatsächlich sind es oft mehr, um den Schluß noch stärker zu betonen und – vor einer letzten starken Spannung – die Entspannung hinauszuzögern, doch die generelle Konstruktion wird deshalb nicht wesentlich anders. Das Grundprinzip zumindest ist durch zwei Akkorde gewährleistet, und daran möchte ich im folgenden anknüpfen.
Schlußbildung bei tonalen Kompositionen
In aller Regel ist der Schlußklang ein Dur- oder Moll-Akkord (zum Beispiel aus Grundton, Terz, Quinte und Oktave) auf der ersten Stufe (Tonika) der verwendeten Tonleiter. Diesem Akkord voraus geht meist der Dur-Akkord der fünften Stufe (Dominante) der Tonleiter; der Grundton dieses Akkords ist also die Quinte über dem des Schlußakkords (Bild 2a, linkes Akkordpaar). Im 17. und 18. Jahrhundert setzten Komponisten vor einen Dur-Schlußakkord gelegentlich auch den Moll-Akkord der vierten Stufe – also auf der Quarte (Bild 2a, rechtes Akkordpaar).
In Anlehnung an die mittelalterlichen Kirchentonarten (Kasten auf Seite 67) und deren Einteilung in authentische und plagale (abgeleitete) pflegt man die Kadenz Stufe V zu Stufe I authentisch zu nennen, die andere plagal. Dies ist allerdings irreführend, denn es waren keineswegs Kadenzen für jeweils diese Tonarten. Deswegen nenne ich die Akkordfolge V-I einfach beschreibend Quintfall- und das Paar IV-I Quartfall-Kadenz.
Die beiden Typen sind allerdings als Schluß nicht gleichwertig. Viele Menschen empfinden die Quartfall-Kadenz nicht als vollwertiges Ende, und Komponisten verwendeten sie weniger als die Quintfall-Kadenz.
Seit Jahrhunderten fragt man sich, wieso in der tonalen Musik bestimmte Harmonien wie auch bestimmte Schlußklänge gültig und andere verpönt sind. Einer der ersten, die sich an einer umfassenden Erklärung versuchten, war Jean-Philippe Rameau (1683 bis 1764), der ab 1722 in Paris als Organist, überaus einflußreicher Musiktheoretiker und bedeutender Komponist wirkte.
Andere Musikwissenschaftler haben seine Theorie später aufgenommen und ausgebaut, insbesondere der Leipziger Musikforscher Hugo Riemann (1849 bis 1919). Diese Vorstellungen bilden bis heute – trotz einiger innerer Widersprüche – das Fundament von Lehrbüchern der tonalen Harmonik.
Für Rameau wie für Riemann spielte die Obertonreihe eine große Rolle. Ein von der menschlichen Stimme erzeugter Ton etwa besteht aus der Grundschwingung (dem ersten Teilton), die man als eigentliche Tonhöhe wahrnimmt, und aus einer Reihe von Oberschwingungen mit zunehmend kleineren Intervallen im Verhältnis 1 (für die Grundschwingung) : 2 (Oktave) : 3 (Quinte über der Oktave) : 4 (Doppel-Oktave) : 5 (Große Terz über der Doppel-Oktave) und so fort. Die fünf ersten Teiltöne entsprechen also einem Dur-Akkord. Rameau sah deswegen die Terz und Quinte eines Dreiklangs als bloße Verstärkung und Oktavierung der Teiltöne des Grundtons.
Riemann interpretierte später zudem den Moll-Akkord in gleicher Weise als Oktavierung und Verstärkung der von ihm postulierten – rein hypothetischen -Untertonreihe, die spiegelsymmetrisch zur Obertonreihe vom Grundton aus absteigen sollte, so daß deren fünf erste Teiltöne einen Moll-Akkord bilden. Der Grundton – so Rameau und Riemann – generiere gewissermaßen die übrigen Töne des Dur- beziehungsweise Moll-Akkords durch seine Ober- beziehungsweise Untertonreihe.
Da die Obertonreihe des Tonika-Grundtons den Grundton des Dominant-Akkords enthält, interpretierte Rameau auch die Dominante als durch die Tonika generiert. Die Abfolge Dominante-Tonika wirke deshalb abschließend, weil man sie als Rückkehr zum Ursprung wahrnehme. Riemann hingegen benutzte denselben Sachverhalt, um die oft gespielte Kadenz I-IV-V-I (Tonika-Subdominante-Dominante-Tonika) als dialektischen Dreischritt nach dem Muster These-Antithese-Synthese zu deuten: Der erste Tonika-Akkord sei These (denn er exponiere seinen Grundton als Tonika), die Subdominante sei Antithese (weil sie den Tonika-Grundton zur Quinte umdeute und dadurch quasi in Frage stelle), und die Dominante mit nachfolgender Tonika bilde die Synthese (weil der Dominant-Grundton Teil der Obertonreihe der Tonika sei, bestätige die Dominante den ursprünglich gesetzten Tonika-Ton in neuer Form).
Zweifel von seiten der modernen Musikwissenschaft
In der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts stellten Musikwissenschaftler die Naturgesetzmäßigkeit der europäischen tonalen Musik und damit auch der Kadenzwirkung zunehmend in Frage. Anlaß dazu gab zum einen das wachsende Wissen über die Musik außereuropäischer Ethnien, die oft völlig anders und für unser Ohr durchaus nicht wohltönend klingt. Zum anderen kümmerten sich Komponisten avantgardistischer Musik nicht länger um die angeblich naturimmanenten Prinzipien.
Aber auch Befunde der empirischen Musikpsychologie widersprachen der überkommenen Auffassung, so die 1958 publizierten Ergebnisse einer Studie des Psychologen Robert Francès. Er hatte Personen mit unterschiedlicher Vorbildung ein Lied von Franz Schubert (1797 bis 1828) vorgespielt, und sie sollten die musikalischen Zäsuren und Phrasenenden bezeichnen. Probanden mit langjähriger musikalischer Schulung erkannten die Kadenzen, die anderen hatten damit Schwierigkeiten und markierten oft sogar falsche, nichtkadenzierende Passagen. Mithin ist es anscheinend erfahrungsabhängig, ob jemand Kadenzen als solche bemerkt.
Dies läßt auch eine 1969 erschienene Arbeit des Musikpsychologen Michel Imberty vermuten, der Kinder testete. Sechsjährige vermochten noch nicht sicher zu erkennen, ob eine Phrase mit einer Kadenz abschloß oder nicht; erst Zehnjährige konnten das unterscheiden. Allerdings verwechselten sie in diesem Alter noch teilweise Schlußkadenzen mit sogenannten Trugschlüssen, bei denen die Melodie zwar wie bei einer Kadenz zu ihrem Schlußton geführt wird, die Harmonisierung jedoch nicht einer Kadenz entspricht. Diese Abgrenzung gelingt offenbar frühestens Jugendlichen.
Wie prägend Hörgewohnheiten selbst für Erwachsene sind, habe ich in eigenen umfangreichen Versuchen zur Kadenzwahrnehmung festgestellt. Meinen Probanden – es waren meist Studenten der Musikwissenschaft, die eine langjährige Ausbildung an einem Musikinstrument absolviert hatten – spielte ich unter anderem Akkordpaare vor, die im 14. Jahrhundert als Kadenzen gebräuchlich waren und sich von den Kadenzen des 18. und 19. Jahrhunderts erheblich unterschieden (Bild 2b links). Deren Bewertung fiel sehr verschieden aus. Teilnehmer mit viel Hörerfahrung in mittelalterlicher Musik empfanden den Abschluß wesentlich stärker als andere, die ihres Wissens solche Kompositionen noch nie gehört hatten.
Geschichtlicher Wandel der Kadenzgestalt
Empfanden Menschen solche Schlußklänge früher anders? Zumindest waren in der Vergangenheit andere Kadenzformen üblich als heute. Die Quartfall-Kadenz wird erst seit dem späten 15. Jahrhundert gebraucht, die Quintfall-Kadenz läßt sich bis um 1400 zurückverfolgen. Ihre ursprüngliche Gestalt zeigt Bild 2b (rechte Klangfolge). Neben der Quintfall- gab es im 15. Jahrhundert die Oktavsprung-Kadenz (Bild 2b Mitte), die ihr aus heutiger Sicht harmonisch äquivalent ist. Auch sie entstand um 1400. Davor endeten die Kompositionen meist mit einer Parallel-Kadenz (Bild 2b links und Tabelle auf Seite 68) – so genannt, weil die Oberstimmen den Schlußakkord in Parallelbewegung erreichen.
Aber auch dies war nicht der erste Kadenztyp. In den frühesten dreistimmigen Kompositionen der Zeit um 1200 – komponiert von Musikern im Umkreis der Pariser Kathedrale Notre Dame – findet man eine Fülle verschiedener Kadenzformen, die häufig aus einem dissonanten Klang vor einem konsonanten Quint-Oktav-Klang bestehen (Bild 2c). Noch ältere zweistimmige Kompositionen der Notre-Dame-Schule, die etwa zeitgleich mit dem Baubeginn der Kathedrale (im Jahre 1163) an Bedeutung gewann, enden mit verschiedenen Intervallfolgen – oft der Terz oder der Sekunde vor dem Einklang oder der Sexte oder Septime vor der Oktave.
Werke aus der Zeit vor etwa 1150 sind nur sehr spärlich überliefert. In den Jahrhunderten zuvor wurde polyphone Musik nahezu ausschließlich improvisiert: Mindestens seit 800 sang man zu einer gegebenen Melodie eine zweite Stimme in Oktav-, Quint- oder Quartparallelen; daneben gab es seit etwa 1100 eine Improvisationsweise mit Gegenbewegung der beiden Stimmen, die man Discantus und später Kontrapunkt nannte. Erst in der Notre-Dame-Schule wurden mehrstimmige Sätze zunehmend häufiger schriftlich fixiert. In diesem Zusammenhang entwickelte man eine Notenschrift, die erstmals auch den Zeitwert eines jeden Tones und nicht nur seine Tonhöhe festhielt. Dennoch blieb die mehrstimmige Improvisation bis ins 17. Jahrhundert ein überaus wichtiger Bestandteil der musikalischen Praxis.
Über die Jahrhunderte wechselten die Kadenzformen also des öfteren. Die Parallel-Kadenz zum Beispiel setzte sich in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts binnen weniger Jahrzehnte durch und dominierte jahrhundertelang (Bild 3) – bis sie in kurzer Zeit von neuen Formen verdrängt wurde, obwohl sie lange sämtlichen inzwischen probierten Alternativen vorgezogen worden war. Als harmonische Wendung konnte sie freilich noch lange danach auftreten. Die Musik des 19. Jahrhunderts etwa enthält Abkömmlinge, beispielsweise die Halbschluß- oder Phrygische Kadenz (Bild 2d links) oder auch verschiedene dissonanzhaltige Klangfolgen (Bild 2d Mitte und rechts).
Wenn, wie meine Hörexperimente zeigten, bestimmte vertraute Klangfolgen eher als Schluß empfunden werden als unvertraute – das heißt, die Schlußwirkung von Kadenzen durch geeignete Hörerfahrung erlernt wird –, sollten neue Kadenzarten sich schwerlich haben einbürgern lassen. Vielmehr müßten die überkommenen Formen den neuen überlegen gewesen sein. Dennoch haben sich mehrmals in der Geschichte neue durchsetzen können.
Um dies zu verstehen, habe ich den Testpersonen in mehreren Versuchsreihen außer den bekannten Kadenzen auch völlig fremde Akkordpaare vorgespielt, die in tonaler Musik so nicht auftreten, jedenfalls nicht mit Kadenzfunktion. Dabei variierte ich gezielt einzelne Parameter der Klangfolgen, beispielsweise die melodischen Intervalle und ihre Stellung im Akkordpaar (im Gegensatz zu einem harmonischen, sozusagen zeitgleichen, Intervall beschreibt ein melodisches eine zeitliche Folge). Unter anderem prüfte ich die Wirkung des aufsteigenden Halbtonschritts. Klangfolgen mit diesem Intervall (wie die ersten beiden Beispiele in Bild 5a) erwiesen sich als besonders schlußwirksam, sofern der Halbtonschritt zur Oktave des Grundtons im Schlußakkord führte. Akkorde ohne diese charakteristische Wendung (wie das dritte Beispiel in Bild 5a) oder mit einem Halbtonschritt zur Terz oder zur Quinte (wie das letzte Beispiel in Bild 5a) erschienen hingegen als wenig überzeugend. Das Verhältnis der Akkord-Grundtöne spielte – entgegen den Theorien von Rameau und Riemann – keine wesentliche Rolle. So erwies sich das dritte Akkordpaar in Bild 5a als wenig schlußwirksam, obwohl es das gleiche Grundton-Verhältnis aufweist wie das sehr schlußwirksame zweite.
Der aufsteigende Halbtonschritt in die Oktave des Grundtons ist ein wesentliches Element der Quintfall-Kadenz. Offensichtlich erkannten die Probanden einzelne Aspekte des Höreindrucks wieder und übertrugen die Wirkung der vertrauten Klangfolge auf die neue – sie generalisierten die Schlußwirkung aufgrund bestimmter, beiden Formen gemeinsamer Merkmale. Ähnliches galt für den Quintfall im Baß. Andere Intervallbeziehungen in der Quintfall-Kadenz, beispielsweise der aufsteigende Ganztonschritt oder die Tonrepetition, erwiesen sich hingegen als wirkungslos.
Mithin scheinen wir Kadenzen als ein komplexes Muster von melodischen und harmonischen Intervallbeziehungen zu lernen. Von diesem Muster sind allerdings nicht alle Teile gleichwertig: Jene Elemente, die auch in Kadenzen mit nur zwei Stimmen enthalten sind (der Quintfall im Baß und der aufsteigende Halbtonschritt), sind offenbar wichtiger als andere und ermöglichen primär die Übertragung der Schlußwirkung auf unvertraute Akkordfolgen.
Ähnliches mag im Mittelalter stattgefunden haben, wenn neue Kadenzformen sich durchsetzten. Vergleicht man Parallel-, Oktavsprung- und Quintfall-Kadenz miteinander, so wurde bei den neuen Kadenzen des 15. Jahrhunderts lediglich eine einzige Stimme abgewandelt: die bisherige Mittelstimme, der Contratenor. Die Unterstimme der Parallel-Kadenz, der Tenor (mit Betonung auf der ersten Silbe) und ihre Oberstimme, der Superius, blieben unverändert (Bild 2b). Somit überdauerten gerade jene Merkmale, die in zweistimmigen Kadenzen stets vorhanden und für Schlußwendungen charakteristisch, somit als Erkennungsmerkmal wesentlich waren, denn in zweistimmigen Sätzen fiel der Contratenor fort, nie der Tenor oder der Superius.
Kontrapunkt, Kirchentonarten und Kadenzbildung
Psychologische Erklärungen allein genügen allerdings nicht, um die Tradition der Kadenzen zu verstehen. Wieso gerade diese und nicht andere Formen auftraten, läßt sich nur historisch deuten. Auch kann man nur aus der Musikgeschichte erfahren, warum offenbar zu bestimmten Zeiten die überkommenen Schlußklauseln plötzlich nicht mehr genügten und man nach neuen suchte.
In der Regel gaben neue Konzeptionen zum Aufbau musikalischer Werke oder ein Wandel in der Auffassung dieser Ideen den Anlaß dazu. Die Parallel-Kadenz beispielsweise verdankte ihre Entstehung einer tiefgreifenden Änderung in der kompositorischen Satztechnik etwa zwischen 1250 und 1300.
Im 13. Jahrhundert – und noch lange danach – konzipierte man die Einzelstimmen nacheinander, und zwar zuerst den Tenor. (Man schrieb sie ab etwa 1270 auch getrennt auf, nicht als Partitur; Bilder 1, 4 und 6.) Der Tenor war oft eine bereits existierende gregorianische Melodie, die man nur zu rhythmisieren brauchte. Dann erst entwarf man dazu eine Oberstimme – und dabei richtete man sich nach der Kontrapunkt-Lehre. Sie gab vor, wie polyphone Musik "Punctus contra punctum", "Note gegen Note", zu improvisieren und zu komponieren sei. (Allerdings galten die Regeln nur für das Verhältnis zweier Stimmen; danach drei- oder vierstimmige Werke zu erstellen blieb offenbar der Kunstfertigkeit des Komponisten überlassen.) Vor etwa 1250 waren dies nur wenige Regeln: Als Konsonanzen galten Einklang, Oktave, Quinte und Quarte; diese waren vorzugsweise zu verwenden. Zudem sollten die beiden Stimmen sich vorwiegend gegenläufig zueinander bewegen. Anfang und Schluß hatten der Einklang, die Oktave oder die Quinte zu sein. Über Dissonanzen erfährt man in den Kontrapunkt-Lehren jener Zeit nichts; in der Praxis dienten sie als Füllnoten zwischen den Konsonanzen und standen möglichst an unbetonten Stellen. Auch ermöglichten sie einen schrittweisen, melodiösen Verlauf der zweiten Stimme. Die Kadenzen des frühen 13. Jahrhunderts, häufig ein dissonanter Klang vor einem konsonanten mit Quinte und Oktave (Bild 2c), waren eine Konsequenz dieses recht freien Dissonanzgebrauchs.
Zwischen 1250 und 1300 kamen zusätzliche Kompositionsregeln auf. Die weniger harsch klingenden bisherigen Dissonanzen Terz und Sexte ernannte man zu imperfekten Konsonanzen, die man gebrauchen durfte, wenn man sie zu perfekten Konsonanzen (Einklang, Quinte, Quarte und Oktave) fortführte. Dies sollte möglichst stufenweise und in Gegenbewegung erfolgen, wobei die kleine Terz am besten zum Einklang weiterzuleiten war, die große Terz zur Quinte und die große Sexte zur Oktave.
Umgekehrt sollten auf perfekte Konsonanzen – um Spannungsmomente zu erzeugen – wiederum die nächstliegenden imperfekten folgen, beide also fortwährend abwechseln. Diese Regeln betrafen Intervallfolgen, die bereits in zweistimmigen Kompositionen des 12. Jahrhunderts sehr häufig vorkamen; sie waren wegen der Bevorzugung von Gegenbewegung und stufenweisem melodischen Fortschreiten der Stimmen entstanden. Vermutlich hatten sie sich durch ihr häufiges Auftreten dem Gehör so stark eingeprägt, daß sie besonders natürlich und vertraut erschienen.
Die Parallel-Kadenz war nichts anderes als ein mehr oder weniger zufälliges Beiprodukt der neuen Regeln. Der Schlußklang von dreistimmigen Kompositionen war schon damals zumeist ein Akkord aus Grundton, Quinte und Oktave. Der vorletzte Akkord mußte demnach zu seinem Grundton die große Terz und die große Sexte aufweisen. Wenn nun Ober- und Unterstimme in Gegenbewegung und stufenweise den Schlußakkord erreichen sollten, ergab sich zwangsläufig die Parallel-Kadenz (Bild 2b links).
Die Kontrapunktregeln aus dem 13. blieben bis ins 16. Jahrhundert gültig. Trotzdem schufen die Komponisten im 15. Jahrhundert gleich mehrere neue Kadenztypen. Ursache war der Versuch, die mittelalterliche Tonartenlehre, die zwischen 800 und 1100 für einstimmige Musik entwickelt worden war, auch auf polyphone anzuwenden. Dies war prinzipiell schwierig, weil dieser Lehre zufolge jeder Stimme einer polyphonen Komposition eine andere Tonart zukam.
Ursprünglich war die mittelalterliche Tonartenlehre eine Art Melodielehre, die an einem vorhandenen Repertoire liturgischer Melodien entwickelt worden war und bei der Komposition neuer Melodien angewendet wurde. Sie teilte die liturgischen Melodien in zwei Gruppen von je vier Tonarten auf, die sich im Schlußton (der Finalis), in dessen Lage relativ zum tiefsten und höchsten Ton der Melodie sowie in charakteristischen melodischen Wendungen unterschieden. Bei den vier authentischen Tonarten liegt der Schlußton am unteren Ende des Umfangs (Ambitus) der Melodie, bei den vier plagalen in der Mitte. Finalis konnte jeweils einer der vier Töne d, e, f und g sein, das heißt, in der diatonischen Skala aus Ganz- und Halbtonschritten (d e f g a h c) hatte der Schlußton jeweils eine andere Position und somit jede Tonart ihre spezifische Klangeigenart (Kasten oben).
Weil die Einzelstimmen einer polyphonen Komposition auf verschiedenen Tönen endeten und unterschiedliche Tonbereiche nutzten, kam zwangsläufig jeder eine andere Kirchentonart zu. Wie der Pariser Musiktheoretiker Johannes de Grocheo bezeugt, verzichtete man deshalb noch um 1300 darauf, polyphone Kompositionen als Ganzes einer Kirchentonart zuzuschreiben und die einzelnen Stimmen entsprechend zu formen. Zwar bestanden im 14. Jahrhundert Ähnlichkeiten zwischen der Gestaltung des Tenors und den authentischen Kirchentonarten: Fast immer endete der Tenor mit dem tiefsten oder zweittiefsten Ton seines Ambitus, wie es den authentischen Tonarten entspricht; doch fehlten plagal angelegte Tenöre, mit einem Ambitus, der etwa eine Quarte unter und eine Quinte über den Schlußton reichte, völlig.
Erst im späten 14. Jahrhundert scheint man begonnen zu haben, den Tenor als die wichtigste, die Tonart der Gesamtkomposition definierende Stimme anzusehen und die übrigen Stimmen so zu gestalten, daß in einem Stück plagale und authentische Tonarten mit der gleichen Finalis vereinigt waren.
Nun entstanden auch Kompositionen mit einem plagalem Tenor, und in eben diesen Stücken traten Oktavsprung-Kadenzen auf.
Sie waren offenkundig die Lösung eines kompositionstechnischen Problems, das sich bei dem Versuch ergab, den Tenor einer plagalen Tonart entsprechend zu gestalten und den Contratenor diesem tonartlich anzugleichen,, indem man ihm den gleichen Ambitus gab. Da der (zuerst geschaffene) plagale Tenor sich unmittelbar vor dem Schlußton in der oberen Hälfte seines Tonumfangs bewegen mußte, und der (zuletzt komponierte) Contratenor nicht wesentlich höher reichen sollte als der Tenor, war der Bewegungsspielraum des Contratenors über dem Tenor in der Schlußpassage stark eingeschränkt. Man stellte ihn daher häufig unter den Tenor.
Nach den Regeln der Kontrapunkt-Lehre war als vorletzte Note nur die Quinte unter der Sexte zwischen Tenor und Superius zulässig. Da man im Schlußakkord nicht auf die übliche Quinte des Contratenors über dem Tenor verzichten wollte, ließ man den Contratenor in der Kadenz eine Oktave aufwärts springen (Bild 2b Mitte).
Die Komponisten, welche die Oktavsprung-Kadenz erstmals verwendeten – unter anderen Johannes Caesaris, Richard Locqueville, Johannes Legrant und Franchoys Lebertoul –, sind heute allenfalls Spezialisten für mittelalterliche Musik bekannt. Über ihre Biographie wissen wir so gut wie nichts, außer daß sie um 1400 bis 1420 in Nordfrankreich gearbeitet haben.
Die Erfindung der Baß-Stimme
Die Quintfall-Kadenz tritt vor 1450 nur vereinzelt auf und nur in der in Bild 2b rechts gezeigten dreistimmigen Form. Die wahrscheinlich älteste solche Komposition ist die Ballade "Le mont Aon" ("Der Berg Aon"). Der Komponist ist nicht bekannt, doch bezieht der Text sich auf eine damals bedeutende Persönlichkeit, den Grafen Gaston de Foix (1331 bis 1391), der seiner berückenden Erscheinung wegen Phoebus genannt wurde, einen luxuriösen Hof führte und sich in vielen Schlachten – unter anderem im Ritterheer des Deutschen Ordens – hervortat. Demnach dürfte das Stück in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts entstanden sein.
Die ersten Quintfall-Kadenzen ergaben sich ebenfalls wie die Oktavsprung-Kadenz bei dem Versuch, bestimmte mittelalterliche Tonarten in polyphoner Musik darzustellen. Die Tonartenlehre kannte nicht nur die authentischen und plagalen Kirchentonarten. Sie berücksichtigte, daß es liturgische Melodien mit ungewöhnlich großem Tonumfang gab und teilte diese ein in plusquamperfekte ("mehr als vollständige") authentische Tonarten, die über die Dezime hinausstiegen, plusquamperfekte plagale Melodien, die mehr als eine Quinte unter die Finalis fielen, und Melodien im Tonus mixtus, einer Mischung von plagaler und authentischer Tonart, bei der die Melodie sowohl eine Quarte unter als auch eine Oktave über die Finalis reicht.
Komponierte man den Contratenor in einer plusquamperfekten plagalen Tonart oder im Tonus mixtus, reichte er folglich erheblich tiefer als ein reiner authentischer oder plagaler Tenor. Die Ambituserweiterung zu tiefen Tönen hin ermöglichte es, den Contratenor in der Schlußpassage unter den Tenor zu legen. Dies erzwang dann am Schluß einen Oktavsprung oder Quintfall wie in Bild 2b Mitte und rechts gezeigt. Die frühen, stets dreistimmigen Quintfall-Kadenzen blieben jedoch vereinzelte Experimente.
Die ersten vierstimmigen Quintfall-Kadenzen komponierte der frankoflämische Geistliche Guillaume Dufay (etwa 1400 bis 1474) – der bedeutendste und renommierteste Komponist seiner Zeit, der an dem tiefgreifenden Stilwandel der Musik um die Mitte des Jahrhunderts maßgeblich mitwirkte. Er arbeitete verschiedentlich in Italien, unter anderem am päpstlichen Hof und in Frankreich am Savoyer Hof in Chambérry sowie an der Kathedrale von Cambrai. Etwa um 1435 begann er, sich strenger an das Verbot der Parallelbewegung zweier Stimmen in Quinten und Oktaven zu halten. Theoretisch hatte man diese Regel zwar schon Anfang des 14. Jahrhunderts formuliert, aber bis dahin wenig beachtet. (Der Zweck der Regel war vermutlich, den Kontrapunkt von der bis ins 15. Jahrhundert nachweisbaren Improvisationspraxis abzugrenzen, einfach in Quintenparallelen zu singen. Das Quintieren lernten mittelalterliche Sänger zuerst; fortgeschrittenen Schülern brachte man das kunstvollere kontrapunktische Improvisieren bei.)
Möglicherweise wurde Dufay durch das Konzil in Basel (1431 bis 1449), an dem er als Vertreter der Kathedrale von Cambrai teilnahm, zu strengerer Einhaltung der kontrapunktischen Regeln angeregt: So wie dieses Konzil eine Reform von Kirche und Gesellschaft durch konsequente Anwendung der überkommenen kirchlichen Gebote und Gesetze anstrebte, könnte Dufay eine Reform der Musik durch konsequente Beachtung der Kompositionsregeln beabsichtigt haben.
Im 14. und frühen 15. Jahrhundert erweiterte man in vierstimmigen Kompositionen schlicht die dreistimmige Parallel-Kadenz um eine vierte Stimme, die sich in Oktav- und Quintenparallelen zu den übrigen bewegte (Bild 2e links). So endeten auch Dufays frühe vierstimmige Werke.
Etwa vom Jahre 1435 an aber umging er die Quint- und Oktavparallelen, indem er vierstimmige Oktavsprung-Kadenzen schuf (Bild 2e Mitte). Bei authentischen Tenores mußte dann allerdings der Contratenor eine Quarte unter den Tenor reichen, was eine neue Anordnung der Stimmen erforderte: Der Tenor wurde zu einer Mittelstimme, unter der nun ein Contratenor bassus – ein tiefer Contratenor – verlief. (Die Stimme darüber war fortan der Contratenor altus – der hohe Contratenor.)
Einige Jahre später scheint Dufay erkannt zu haben, daß der Oktavsprung zwar bei dreistimmigen Kadenzen für einen Schlußklang mit Oktave und Quinte erforderlich war, nicht aber bei vierstimmigen. Er verkürzte den Oktav- zu einem Quartsprung. Daraus ergab sich die vierstimmige Form der Quintfall-Kadenz mit aufwärtsgerichtetem Quartsprung im Baß (Bild 2e rechts).
Dufay hatte die neue Stimmenanordnung mit Contratenor bassus in vierstimmigen Kompositionen mit authentischem Tenor entwickelt. Andere Komponisten ahmten sie bald nach, insbesondere die beiden bedeutendsten der nächsten Generation der frankoflämischen Schule, Johannes Ockeghem (etwa 1420 bis 1497) und Antoine Busnois (etwa 1430 bis 1492). Daß man nun auch den Baßbereich – praktisch eine Quarte oder Quinte tiefer als bisher üblich – ausloten konnte, scheint sie fasziniert zu haben (Titelbild; Bilder 1 und 4). Sie übertrugen den Contratenor bassus bald auch auf andere Kompositionstypen, in denen er eigentlich nicht nötig war: etwa auf vierstimmige Stücke mit plagalem Tenor und sogar auf dreistimmige Gesänge.
Mit dem Baß etablierte sich zwangsläufig auch die Quintfall-Kadenz und löste die in authentischen Tonarten noch gebräuchliche Parallel-Kadenz ab, denn dies war die einzige regelgerechte Möglichkeit, die kontrapunktisch notwendige abschließende Intervallfolge Sexte – Oktave von Tenor und Superius mit einer tiefen Stimme zu unterlegen. So wurde die neue Schlußkadenz in drei- und vierstimmigen Kompositionen bald zur Norm. Den aufwärtsgerichteten Quartsprung im Baß (Bild 2e rechts) in authentischen Kompositionen, den Dufay erdacht hatte, ersetzte man in plagalen durch einen Quintfall (Bild 2a links).
Doch universell ließ diese Kadenz sich damals in mehrstimmigen Werken nicht einsetzen. Die phrygische Kirchentonart endete nämlich auf der Finalis e. Kadenzierten Tenor und Superius vorschriftsmäßig mit einer großen Sexte f-d' vor der Oktave e-e', konnte der Contratenor bassus darunter keinen Quintfall von H hin zum E ausführen, denn das dann an vorletzter Stelle ertönende Intervall wäre H-f gewesen, also die verminderte Quinte, die dissonant und somit nach den Kontrapunktregeln nicht zulässig war. (Man kennzeichnet die Zugehörigkeit eines Tones zu einem Oktavbezirk durch die Schreibweise; für die Töne im Baß von C bis H nimmt man Großbuchstaben, für den nächsthöheren Oktavabschnitt kleine Buchstaben – c bis h –, für die darüber kleine Buchstaben mit Hochzahl oder Hochstrich: sprich "eingestrichenes c bis eingestrichenes h" und so fort.) Statt des H ein B zu verwenden war genauso unmöglich, weil sich dann eine verminderte Quinte zwischen den beiden Baßtönen, als B-E, ergeben hätte.
Ockeghem scheint das Problem als erster gelöst zu haben, indem er dem Contratenor bassus statt dessen die kontrapunktisch zulässigen Töne d-A, also einen Quartfall, gab wie in seiner "Missa mi-mi" (Bild 6). Und um dennoch mit dem E zu enden, ließ er oft einen weiteren Quartfall, A-E, folgen (Bild 2f).
Von diesen beiden aufeinanderfolgenden Quartfall-Kadenzen stimmte nur die erste in der Führung zweier Stimmen mit der Parallel-Kadenz überein, die zweite hatte mit ihr keine besondere Ähnlichkeit. Das heißt, sie klang ungewohnt und dürfte somit kaum als guter Schluß empfunden worden sein. Tatsächlich galt im 15. und 16. Jahrhundert nur das erste Akkordpaar mit dem üblichen Sext-Oktav-Gerüst von Tenor und Superius als Kadenz, das zweite nicht. Von Jean Mouton (1459 bis 1522) ist eine Messe mit dem Beinamen "sans cadence" ("ohne Kadenz") überliefert. Deren Sätze enden zwar mit Quartfall-Kadenzen, in diesen fehlt aber die Sexte vor der Oktave. Sie schließen anders ab, beispielsweise indem die Bewegung sich allmählich verlangsamt.
Ich vermute, daß auch das erste Akkordpaar nicht als Schluß überzeugte. In meinen Experimenten akzeptierten die Teilnehmer nur solche Klangfolgen als Kadenzen, die mit dem modernen Quintfall nicht nur den aufsteigenden Halbtonschritt gemeinsam hatten, sondern bei denen dieser Halbtonschritt zudem die gleiche Position im Schlußakkord erreichte.
Beispielsweise stuften die Testpersonen das zweite Akkordpaar in Bild 5b als recht schlußwirksam ein, in dem ein Halbtonschritt zur Oktave des Grundtons führt, nicht aber das vierte, bei dem der aufsteigende Halbtonschritt statt dessen die Duodezime erreicht. Die Quartfall-Kadenz hat zwar melodische Intervalle mit der Parallel-Kadenz gemeinsam, diese führen aber in eine andere harmonische Position, nämlich in die Quinte und Duodezime statt in den Grundton und dessen Oktave. Die mit der Parallel-Kadenz assoziierte Schlußwirkung dürfte daher kaum auf die Quartfall-Kadenz generalisiert worden sein.
Ockeghems Zeitgenossen scheinen seine Quartfall-Kadenz tatsächlich abgelehnt zu haben. Erst die nächste Komponistengeneration griff sie auf: unter anderen waren dies Josquin Desprez (um 1440 bis 1521), Jakob Obrecht (um 1450 bis 1505), Pierre de La Rue (um 1460 bis 1518) sowie Jean Mouton (um 1459 bis 1522). Nun war es möglich, auch in der widerspenstigen phrygischen Tonart vierstimmig zu komponieren, der man einen besonders schwermütigen, klagenden Ausdruck zuschrieb.
Der Schlußakkord und die Alternativen
Man mag sich fragen, warum klassische Musik stets mit einem Terz-Quint-Akkord endet, nie mit einem Terz-Sext-Akkord, der doch ebenfalls als konsonant galt und gilt. Auch dies ist ein Resultat der geschichtlichen Entwicklung.
Ein erster Schritt in Richtung Terz-Quint-Schlußakkord geschah in den ältesten drei- und vierstimmigen Kompositionen um 1190 von Musikern an der Pariser Kathedrale Notre-Dame. Diese schließen in der Regel mit einem Quint-Oktav-Schlußklang. Ältere zweistimmige Werke dieser Schule enden entweder mit einer Oktave oder einem Einklang.
Warum die Komponisten damals die Quinte in den Schluß einbauten ist nicht leicht zu beantworten. Vielleicht wollten sie Einklangs- oder Oktavparallelen vermeiden. Weil aber der Schlußklang konsonant sein sollte, kamen zusätzlich zum Einklang beziehungsweise zur Oktave nur die Quinte oder die Quarte in Betracht; alle übrigen Intervalle zwischen Prime und Oktave galten um 1200 als Dissonanzen.
Für die Bevorzugung der Quinte dürfte ihre geringere Rauhigkeit verantwortlich gewesen sein, eine Wahrnehmung, die durch rasche Schwebungen zwischen Sinuskomponenten entsteht, die näher als etwa eine kleine Terz beieinander liegen. Sowohl Quinte als auch Quarte enthalten solche Komponenten, wenn sie gesungen oder auf einem herkömmlichen Musikinstrument gespielt werden.
Jedoch treten Reibungen zwischen Teiltönen bei der Quarte an mehr Stellen im Frequenzspektrum auf als bei der Quinte – sie wirkt dadurch rauher. Möglicherweise deshalb zog man im Schlußakkord die Quinte der Quarte vor. Mittelalterliche Musiker tolerierten nur die am wenigsten rauhen Intervalle Prime (Gleichklang), Oktave sowie eben Quinte und Quarte als Konsonanzen. Sie scheinen hinsichtlich der Rauhigkeit sehr empfindlich gewesen zu sein.
In den folgenden Jahrhunderten endeten die Kompositionen in der Regel mit einem Quint-Oktav-Klang. Um die Mitte des 15. Jahrhunderts fügten Dufay und seine Zeitgenossen dem erstmals eine Terz hinzu, vermutlich weil man den Quint-Oktav-Schluß zunehmend als leer und unvollständig empfand. In den Kompositionen dominierten nun nämlich mehr und mehr Terz-Quint- und Terz-Sext-Klänge, weil man die ältere Regel, nur höchstens drei Terzen oder Sexten hintereinander setzen zu dürfen, allmählich ausdehnte auf vier, fünf und schließlich beliebig viele. Nur wenn man diese Vorgeschichte berücksichtigt und zudem annimmt, daß auch die Akzeptanz für den Schlußakkord gelernt und dann tradiert ist, läßt sich meines Erachtens verstehen, warum europäische Musik stets mit einem Terz-Quint-Akkord und keinem anderen schließt. Läßt man heute musikalisch gebildete Personen die Schlußwirkung von Klangfolgen beurteilen, die entweder mit einem Terz-Quint-, einem Terz-Sext- oder einem Quart-Sext-Akkord enden, so bevorzugen sie eindeutig ersteren (Bild 5b). Da alle drei Akkorde ähnlich rauh sind und heute als Konsonanzen gelten, bietet sich als Erklärung für die Präferenz vornehmlich die musikalische Erfahrung an: Die beiden anderen nämlich werden stets fortgeführt, und vermutlich hatten die Probanden dies verinnerlicht und erwarteten nun auch bei den isoliert vorgespielten Klangfolgen eine Fortsetzung.
Derselbe Lernprozeß könnte schon in früheren Jahrhunderten maßgeblich gewesen sein. Meines Erachtens machte er die um 1200 getroffene Entscheidung, mit einem Quint-Oktav-Klang zu enden, irreversibel und richtungweisend für alle nachfolgenden Jahrhunderte.
Die Kadenzen sind nicht die einzigen feststehenden harmonischen Wendungen in der abendländischen Musik. Es gibt eine Fülle anderer stereotyper Formeln, beispielsweise solche, in denen ein dissonanter Akkord in einen konsonanten aufgelöst wird. Die Frage, warum Musik so und nicht anders ist, scheint mir ein zentrales Thema der Musikwissenschaft zu sein. Sie läßt sich nur beantworten, indem man Erkenntnisse der Musikgeschichtsschreibung mit solchen der Hörpsychologie verknüpft. Leider hat dies bisher kaum stattgefunden. Im Grunde steht die Musikwissenschaft heute, nach einer rund zweieinhalbtausendjährigen Geschichte, noch ganz am Anfang eines angemessenen Verständnisses der Musik – aber der ist vielversprechend.
Literaturhinweise
- Kadenzwahrnehmung und Kadenzgeschichte. Ein Beitrag zu einer Grammatik der Musik. Von Roland Eberlein und Jobst Fricke. Peter Lang Verlag, Frankfurt/Main 1992.
– La Perception de la Musique. Von R. Francès. Librairie J. Vrin, Paris 1958.
– L'Acquisition des Structures Tonals chez l'Enfant. Von Michel Imberty. Editions Klincksiek, Paris 1969.
– Bourdon und Fauxbourdon. Von Heinrich Besseler. Breitkopf und Härtel, Leipzig 1950.
– The Evolutionary Significance of 15th Century Cadential Formulae. Von Robert W. Wienpahl in: Journal of Music Theory, Band 4, 1960, Seiten 131 bis 152.
– Untersuchungen über die Entstehung der harmonischen Tonalität. Von Carl Dahlhaus. Bärenreiter Verlag, Kassel 1968.
– Emerging Triadic Tonality in the Fifteenth Century. Von Don M. Randel in: The Musical Quarterly, Band 57, 1971, Seiten 73 bis 86.
– Die Tonarten der klassischen Vokalpolyphonie. Von Bernhard Meier. Oosthock, Scheltema und Holkema-Verlag, Utrecht 1974.
– Die Entstehung der tonalen Klangsyntax. Von Roland Eberlein. Peter Lang Verlag, Frankfurt/Main 1994.
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Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 1995, Seite 62
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