Die kleinsten elektronischen Schalter - Cluster aus 55 Goldatomen
Ein chemisch leicht herstellbares Material im Zwischenbereich von Molekül und metallischem Festkörper erlaubt die Konstruktion elektronischer Bauelemente, bei denen der Schaltvorgang im Übertritt nur eines einzigen Elektrons besteht. Anders als Quantenpunkte auf der Basis konventioneller Halbleiter können sie sogar bei Zimmertemperatur betrieben werden.
Im Jahre l985 zeigten die russischen Physiker Konstantin Licharew und Alexander Zorin eine theoretische Möglichkeit auf, einzelne Elektronen gezielt zu transportieren. Seit dieser single-electron tunneling (SET) genannte Effekt wenig später an kleinsten elektrischen Kontakten auch experimentell nachgewiesen wurde, gilt er als Konzept für die letztmögliche Miniaturisierung in der Mikroelektronik (Spektrum der Wissenschaft, August 1992, Seite 62).
Wenn man zwei Leiter auf den unvorstellbar geringen Abstand von etwa einem Nanometer (millionstel Millimeter) annähert und zwischen ihnen eine gewisse elektrische Kapazität unterschritten wird, wechseln ab einer bestimmtem Schaltspannung einzelne Elektronen aus dem einen Leiter in den anderen. Die praktische Nutzung des SET-Effektes erfordert allerdings, Materie in Stückchen zu zerkleinern, die nur noch einige zehn bis wenige tausend Atome enthalten, und diese winzigen Splitter miteinander zu kontaktieren (Spektrum der Wissenschaft, Januar 1991, Seite 76).
Bereits 1938 hatte der aus Deutschland stammende Theoretiker Klaus Fuchs, später durch seinen Verrat der amerikanischen Wasserstoffbombenkonstruktion an die damalige Sowjetunion berühmt geworden, darauf hingewiesen, daß Elektronen ganz besondere Eigenschaften haben, wenn man sie in Bereichen von wenigen Nanometern Abmessung einsperrt: Ihr Verhalten ist dann nur noch mit den Gesetzen der Quantenmechanik zu verstehen, die den Mikrokosmos in sich scheinbar ausschließenden Teilchen- und Wellenbildern beschreibt. Deshalb bezeichnet man solche Strukturen auch als Quantenpunkte und die daraus bestehenden elektronischen Bauelemente als Quantengeräte.
Bei der Suche nach praktikablen Methoden zum Erzeugen von Quantenpunkten setzen die großen Elektronik-Konzerne heute noch vorwiegend auf die bewährten lithographischen Verfahren und bemühen sich, damit extrem kleine Halbleiterbereiche maßzuschneidern, in denen Elektronen eingesperrt sind – eine sehr aufwendige und nicht immer erfolgreiche Methode. Erprobt wird auch die Synthese sogenannter Nanokristalle in Gläsern beziehungsweise in Hohlraum- oder Kanalstrukturen wie zum Beispiel in Zeolithen (Spektrum der Wissenschaft, März 1993, Seite 52). Mit keiner der beiden Methoden ließen sich bisher jedoch genau gleich große Quantenpunkte von nur etwa einem Nanometer Durchmesser herstellen.
Andererseits synthetisieren schon seit gut zehn Jahren Chemiker in aller Welt Strukturen in der Größe von Quantenpunkten: Cluster aus zehn bis einigen hundert Atomen. Bisher dachten sie dabei allerdings primär an chemische Anwendungen wie die Katalyse oder die Steuerung von Reaktionen und konzentrierten sich deshalb auf Übergangsmetalle statt auf typische Halbleitermaterialien. Die annähernd kugelförmigen Metallklümpchen, die sich auf chemischem Weg mit vergleichsweise geringem Aufwand in sehr großer Zahl herstellen lassen, erfüllen indes – außer der Forderung nach Kleinheit – eine weitere Voraussetzung für Quantenpunkte: Aus bindungs-theoretischen Gründen enthalten sie alle die gleiche Anzahl von Atomen. Außerdem sind sie von einer schützenden Hülle aus organischen Molekülen ( sogenannten Liganden) umgeben, die sie daran hindert, miteinander zu verschmelzen (Bild 1); selbst wenn sie unter extrem hohen Drücken zu Festkörpern verpreßt werden, kann man sie anschließend mit geeigneten Lösungsmitteln (im einfachsten Falle mit Wasser) wieder in einzelne Cluster zerlegen.
Bereits 1982 entdeckte der Molekülchemiker Günter Schmid am Institut für Anorganische Chemie der Universität Essen den ersten solchen Metallcluster; er enthält 55 Goldatome und hat die Formel Au55(PPh3)12Cl6 (P bedeutet Phosphor, Cl Chlor und Ph einen Phenylrest). Damals kam jedoch niemand auf die Idee, daß das bräunlich-schwarze, unscheinbare Pulver, das metallische Eigenschaften zu haben schien und so feinkörnig war, daß es bei Bestrahlung mit Röntgenlicht keine scharfen Beugungsreflexe ergab, für die Mikroelektronik von Bedeutung sein könne. Auch ich, ein Kollege von Schmid an der gleichen Universität, fühlte mich als Festköperchemiker für Cluster nicht zuständig. Sie begannen mich erst zu interessieren, als ich vor drei Jahren erfuhr, daß Theoretiker den Aufbau solcher Ansammlungen von Metallatomen mit Schalenmodellen erklären, wie Physiker sie zur Beschreibung von Atomkernen verwenden, und daß die Molekülchemiker gerne etwas über die elektronische Leitfähigkeit der Metallklümpchen gewußt hätten.
Weil ein Cluster nur aus wenigen Atomen besteht, überlagern sich deren Energieniveaus nicht zu den typischen Bändern, die in Metallen als Leitungsbahnen für die Elektronen dienen. Als mein Mitarbeiter Ulrich Simon und ich mit den Untersuchungen an Au55 begannen, war unklar, was bei einem solchen Cluster überhaupt unter elektrischer Leitfähigkeit zu verstehen sei. Ebensowenig wußten wir, ob die gängigen makroskopischen Meßmethoden dafür bei mikroskopisch kleinen Kügelchen sinnvolle Ergebnisse liefern. Dennoch wagten wir den Schritt ins Ungewisse – und hatten Erfolg: Simons inzwischen preisgekrönte Dissertation lieferte hochinteressante Einblicke in ein faszinierendes Material.
Demnach ist Au55 gewissermaßen ein Zwitter, der Eigenschaften von Metallen und Halbleitern in sich vereint. Wie seine Zustandsdichte (das heißt die Zahl und die Energie der pro Cluster verfügbaren Elektronen ) belegt, tragen zur elektrischen Leitfähigkeit nur höchstens zwei bewegliche Elektronen bei. Diese aber bekommen, genau wie Fuchs vorhergesagt hatte, die räumliche Enge zu spüren: Im Innern des Metallkerns mit 1,4 Nanometern Durchmesser eingeschlossen, verhalten sie sich wie eine Welle entsprechender Wellenlänge. Damit haben sie eine Energie, die mehr als zehnmal so hoch ist wie bei Leitungselektronen normaler Metalle.
Demnach scheinen Quantenpunkte aus Metall (und nicht aus Halbleitermaterialien) das ideale Material für die künftige Elektronik mit einzelnen Elektronen zu sein. Dabei hat der von uns untersuchte Goldcluster offenbar gerade die richtigen Abmessungen; nur wenig größere Klümpchen enthalten schon wesentlich mehr Leitungselektronen und sind dadurch zu metallisch. Außerdem ist Au55 mit seiner variablen Schutzhülle einer der stabilsten Cluster.
Die Hauptschwierigkeit beim Einsatz von Quantenpunkten in der Mikroelektronik besteht darin, diese so miteinander zu kontaktieren, daß sie durch eine isolierende Schicht getrennt bleiben, die jedoch dünn genug sein muß, daß spannungsgesteuert einzelne Elektronen hindurchtunneln können. Dieses Problem ist bei unserem Cluster auf ideale Weise gelöst (Bild 1): Die Ligandhüllen halten benachbarte Goldkerne automatisch auf einem Abstand (von Rand zu Rand) von ungefähr 0,7 Nanometern, der eine optimale Tunnelbarriere darstellt.
Auch in einer weiteren Hinsicht ist Au55 geradezu geschaffen für die single electronics. Die elektrische Kapazität des Berührungspunktes bestimmt die Schaltspannung und die Temperatur, bei der ein Quantengerät betrieben werden kann. Sie ist bei herkömmlichen Halbleiterstrukturen so groß, daß der Schaltvorgang nur bei extrem niedrigen Temperaturen von wenigen tausendstel Grad über dem absoluten Nullpunkt von –273,15 Grad Celsius funktioniert. Mit 10–l9 Farad beträgt die Kapazität von Au55 dagegen lediglich ein Hundertstel des kleinsten Wertes, der mit konventionellen Strukturen erreicht werden konnte. Das aber bedeutet, daß man Bauelemente aus Au55 selbst noch bei Raumtemperatur betreiben kann – was durch Berechnungen und Messungen von uns sowie von anderen Forschern inzwischen bestätigt wurde.
Derzeit braucht man zur Messung allerdings noch ein Raster-Tunnelmikroskop, mit dessen extrem feiner Spitze sich einzelne Atomverbände ertasten lassen. Bild 2 zeigt eine erste Bestimmung der Strom-Spannungs-Charakteristik bei Raumtemperatur an einer Probe, welche durch Verpressen der Cluster zu einem Festkörper mit dichtester Kugelpackung entstanden ist. Die Meßkurve entspricht derjenigen, die man für einen Schalter aus zwei benachbarten Au55-Partikeln erwarten würde. Ehe jedoch Tieftemperaturmessungen ausgeführt sind, ist diese Deutung noch mit einer gewissen Vorsicht zu betrachten.
Heißt das nun, daß man zwar die kleinsten Schalter bauen, sie aber nicht verwenden kann, weil sie nicht auf einfache Weise ansteuerbar sind? Benötigt man für jeden Kontakt ein Tunnelmikroskop? Dies ist zwar im Moment noch ein Problem, doch zeichnen sich bereits Lösungen ab. Größere Clusterverbände wie Ketten, Schichten oder Stücke von gepreßtem Material scheinen nämlich neuartige kollektive Eigenschaften zu haben, die bewirken, daß einzelne Elektronen nur ganz bestimmte Wege nehmen.
In Kollektiven aus Quantenpunkten sind die Elektronen einerseits in den Metallkernen lokalisiert, zugleich aber durch energie-quantisiertes single-electron tunneling (QSET) zwischen den Clustern miteinander verbunden und damit als gekoppelte Wellenzüge dem ganzen Festkörper zugehörig. Dadurch sollten solche Kollektive zwar Leitungsbänder haben, die aber extrem schmal sind eben nur für einzelne Elektronen. Dies würde ihnen den Charakter von Halbleitern verleihen. Tatsächlich schimmern Preßlinge aus Au55 nicht etwa goldenmetallisch, sondern sind schlicht grauglänzend wie Silicium oder Germanium.
Die höchst ungewöhnliche elektronische Struktur läßt auch neuartige elektrooptische Eigenschaften erwarten. Eine davon haben wir bereits gefunden: Während metallisches Gold nur bis zu einer Dicke von etwa einem tausendstel Millimeter durchsichtig ist, sind es dichtest gepackte Preßlinge aus Au55-Clustern selbst noch bei einer Stärke von 0,25 Millimetern, wobei sich die Transparenz durch Anlegen bestimmter Wechselspannungen schalten läßt. Diese überraschende Beobachtung ist nur mit den Quanteneigenschaften des Clusterkollektivs zu erklären – etwa dadurch, daß der Elektronenfluß die Bandstruktur und damit die Schwellenenergie für eine direkte Lichtabsorption verändert.
Ein so ausgefallenes Material birgt naturgemäß vielerlei anspruchsvolle Anwendungsmöglichkeiten. Außer digitalen elektronischen Schaltkreisen sollten sich damit beispielsweise auch optische Schalter, hochempfindliche Elektrometer, Stromstandards, Quantenlaser und schnelle Oszillatoren realisieren lassen. Überdies ist die Erforschung von Quantenpunkten und ihrem kollektiven Zusammenwirken in neuartigen Festkörpern von grundlegender Bedeutung für das Studium theoretischer Probleme der Quantenphysik.
Einen nicht zu unterschätzenden Vorteil bieten Metall-Cluster schließlich unter Umweltaspekten. Zum einen werden wegen der extremen Miniaturisierung viel kleinere Materialmengen benötigt als bei heutigen Halbleitern. Zum anderen sind die Cluster nicht nur umweltfreundlich in geschlossenen Kreisläufen synthetisierbar, sondern auch besonders leicht zu entsorgen. Elektronikmüll ließe sich in diesem Falle lohnend rezyklieren, indem man die Cluster einfach in geeigneten Chemikalien auflöst und daraus wiedergewinnt.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1994, Seite 22
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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