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Die Konservierung digitaler Dokumente

In immer größerem Maße ersetzen digitale Speichermedien herkömmliches Papier. Aber auch solche Archivalien neuer Art könnten allesamt für die Nachwelt verlorengehen, wenn nicht unverzüglich besondere Erhaltungsmaßnahmen getroffen werden.

Man schreibt das Jahr 2045. Meine (zur Zeit noch ungebo- renen) Enkelkinder erkunden den Dachboden meines (noch ungebauten) Hauses, wo sie einen Brief von 1995 und eine CD-ROM finden. In dem Brief steht, daß die Compact Disk den Schlüssel zu meinem (noch unverdienten) Vermögen enthält.

Das ist höchst beglückend für meine Enkel. Nur haben sie, außer in alten Filmen, nie zuvor so eine kleine silbrige Scheibe gesehen. Selbst wenn sie ein geeignetes Laufwerk auftreiben könnten, würde ihnen immer noch die Software fehlen, die man zur Interpretation der in Form von Pits – mikroskopisch kleinen Vertiefungen – abgelegten Bits benötigt. Wie also können sie an den unverhofften Reichtum kommen?

Diese fiktive Situation verdeutlicht einige prinzipielle Schwächen der digitalen Speicherung von Information. Ohne den erklärenden Brief hätten meine Nachkommen keinen Grund zu der Annahme, daß die Daten auf der CD die Mühe einer Entzifferung wert seien. Die Nachricht auf Papier ist ohne Geräte, sonstige Hilfsmittel und Spezialwissen – außer der Kenntnis der Umgangssprache und der Schrift – verständlich. Digitale Daten gelten zwar als außergewöhnlich dauerhaft, weil sie sich beliebig oft verlustfrei kopieren lassen. Aber das ist irreführend. In Wahrheit wird in 50 Jahren nur noch der handgeschriebene Brief unmittelbar entzifferbar sein, während alles andere hinter der rasanten Entwicklung von Hard- und Software zurückgeblieben ist.

Buchführen, Dokumentieren, Aufbewahren von Aufzeichnungen aller Art sind durch die Informationstechnik so radikal verändert worden wie zuvor nur durch die Buchdruckerkunst oder, in grauer Vorzeit, die Entwicklung der Zahl- und Schriftzeichen überhaupt. Aber gerade die digitalen Aufzeichnungen der jetzigen Generation, die davon erstmals massenhaft Gebrauch macht, sind viel verderblicher als Papier (das seinerseits in hohem Grade gefährdet ist; vergleiche Seite 96). Damit steht die detaillierte Dokumentation einer ganzen Epoche auf dem Spiel.

Meine Besorgnis ist bereits belegbar; denn wie 1990 ein Bericht an das amerikanische Repräsentantenhaus auswies, waren schon damals einige Katastrophen nur knapp abgewendet worden. Die Ergebnisse der US-Volkszählung von 1960 waren auf Magnetbändern in einem Format gespeichert, das erheblich früher als vorgesehen durch ein neues ersetzt wurde. Gerade noch rechtzeitig konnte zumindest ein Großteil des Materials auf neue Speichermedien übertragen werden. Ähnliches gilt für Daten des Gesundheitsministeriums, der Bundesbehörde gegen Drogenmißbrauch und anderer Institutionen der Vereinigten Staaten, des weiteren die Liste der Vermißten und Gefangenen des Vietnamkrieges und eine wichtige Herbizid-Datenbank zur Aufklärung von Auswirkungen des Sprühkampfgiftes Agent Orange. Wissenschaftliche Protokolle, insbesondere von nicht wiederholbaren Experimenten der Luft- und Raumfahrtbehörde NASA, sind in ähnlicher Gefahr.

Bis jetzt halten sich die nachweislichen Verluste in Grenzen. Aber was ist mit der Unmenge digitaler Dokumente, auf deren dauerhafte Archivierung wir heute keinen Wert legen? Ihre Bedeutung – etwa für die historische Forschung – stellt sich möglicherweise erst heraus, nachdem sie schon längst unzugänglich oder gänzlich verloren sind.


Von nun an bis in Ewigkeit

Information ist theoretisch nicht zerstörbar, das Medium, in dem sie abgelegt ist, aber sehr wohl. Würde ich als Großvater in spe auf meinem künftigen Dachboden nicht einen optischen, sondern einen magnetischen Datenspeicher hinterlassen, so hätten ein halbes Jahrhundert später magnetische Streufelder, Oxidation und Alterung des Materials den Daten längst den Garaus gemacht. Der Inhalt der meisten digitalen Speichermedien verflüchtigt sich viel schneller als Worte, die auf gutes Papier geschrieben wurden (Bild 3); und meistens kommt vor dem physischen Verfall die Unzugänglichkeit durch Einführung neuer, inkompatibler Formate (Bilder 1 und 2). Wer erinnert sich denn noch an die 8-Zoll-Diskette?

Doch sind diese beiden Probleme nicht einmal die größten für meine Enkel. Die müssen nämlich den Inhalt der CD-ROM, falls ein geeignetes Laufwerk samt zugehörigem Leseprogramm ihn verfügbar gemacht hat, auch richtig interpretieren. Was sie einem beliebigen Datenträger entziehen können, ist zunächst nichts weiter als ein Bit-Strom: eine – wahrscheinlich - absichtlich erzeugte und sinnvolle, aber durch nichts gegliederte Folge der Zeichen 0 und 1 (Bild 4). Bedeuten kann er so gut wie alles, von einer schlichten Folge ganzer Zahlen bis hin zu einem fernsehbildartig abgespeicherten Gemälde (Bild 6).

Insbesondere muß man für eine richtige Interpretation die interne Struktur des Bit-Stroms kennen. Wenn dieser etwa einen Text darstellt, steht üblicherweise ein Abschnitt bestimmter Länge – ein Byte – für jeweils ein Schriftzeichen. In einem heute gängigen Code ist ein Byte acht Bits lang, und die Folge 01110001 bezeichnet den Kleinbuchstaben q. Man muß also zum Entziffern die Länge eines Bytes und das Codierungsschema kennen.

Es hilft auch nichts, diese Information an den Anfang der zu hinterlassenden Nachricht zu stellen; denn diese Auskunft muß ihrerseits irgendwie codiert sein, zu ihrer Entschlüsselung braucht man abermals Zusatzinformation, und so weiter (Bild 5). Ich muß mithin als fürsorglicher Großvater auf einem unmittelbar lesbaren Medium – altmodischem Papier – Anweisungen geben, wie die Daten zu interpretieren sind.

Ein weiteres Problem entsteht dadurch, daß ein Bit-Strom häufig nicht in der Reihenfolge auf dem Datenträger steht, in der er zu lesen ist; oder es ist, wie in einem Lexikon, gar nicht sinnvoll, den Text von vorne nach hinten zu lesen, sondern man muß mit Stichwörtern und Querverweisen arbeiten. Der Bit-Strom enthält dann Verweise, die den auf dem Papier üblichen ("siehe unter ..."; "bitten lesen Sie weiter auf Seite ...") entsprechen. Abermals muß der Empfänger der Nachricht wissen, wie ein solcher Verweis codiert ist.

Zudem enthalten die meisten Dateien noch Information, die nur im Kontext des Programms sinnvoll ist, mit dem die Datei ursprünglich erzeugt worden ist. Textverarbeitungsprogramme pflegen interne Formatierungsbefehle zu Schriftarten und -größen, zum Layout sowie zur Struktur des Textes (Überschriften, Kapitel und dergleichen) einzufügen. Dateien, die von Tabellenkalkulationsprogrammen erzeugt wurden, enthalten Formeln, welche die Beziehungen der einzelnen Zellen untereinander festlegen. In den sogenannten Hypermedia-Dateien sind Texte, Graphiken, Klänge und Zeitangaben enthalten, als solche gekennzeichnet und untereinander verknüpft.

Bezeichnen wir der Einfachheit halber alle zur Interpretation eines Bit-Stroms dienenden Informationen einschließlich der Angaben zur Byte-Länge, zum Codierungsschema und zur Struktur als die Codierung einer Datei (im Gegensatz zum eigentlichen Inhalt). Eigentlich ist eine solche Datei bereits als kleines Programm anzusehen: Sie enthält Anweisungen und Daten, die nur von der richtigen Software interpretiert werden können. Für sich genommen ist sie noch kein Dokument – sie beschreibt nur eines, das entsteht, wenn ein Programm sie verarbeitet.

Man wird eine Datei durch schlichtes Probieren entziffern können, wenn sie im wesentlichen nur aus einer einfachen Folge von Zeichen besteht; in komplizierteren Fällen wird man damit jedoch kaum zum Ziel kommen. Die Bedeutung einer Datei liegt sowenig in ihren Bits wie die Bedeutung dieses Satzes in seinen einzelnen Wörtern. Um ein Dokument zu verstehen, müssen wir seine Bedeutung in der Sprache des intendierten Empfängers kennen; das ist jedoch in der Regel ein Programm. Eine Multimedia-Präsentation ohne die entsprechende Software zu verstehen ist schlicht unmöglich.

Benötigt man denn wirklich genau das Programm, von dem das Dokument stammt? In manchen Fällen mag ein ähnliches zumindest notdürftig ausreichen. Dennoch ist es naiv anzunehmen, daß die Art der Codierung irgendeines Dokuments für die Software der Zukunft so selbstverständlich sein werde wie für uns heute. Die Informationstechnologie wird immer neue Schemata hervorbringen und deren Vorgänger eher verwerfen als auf ihnen aufbauen.

Ein gutes Beispiel bietet die Textverarbeitung. Die meisten derartigen Programme bieten dem Benutzer die Möglichkeit, sein Werk als simple text – das heißt nur die Zeichenfolge ohne Strukturinformation – im aktuellen 7-Bit-ASCII-Code (American Standard Code for Information Interchange) abzuspeichern. Ein solcher Bit-Strom wird auch in Zukunft relativ leicht lesbar sein, falls ASCII so verbreitet bleibt wie heute. Aber schon heute ist das nicht der einzige gebräuchliche Code. Zahlreiche nicht zusammenpassende Erweiterungen auf 8 Bits konkurrieren miteinander, was zum Beispiel den Verwendern deutscher Umlaute zu schaffen macht, und es gibt Bestrebungen, den Umlauten, Eigenheiten der Alphabete weiterer Sprachen und anderen Sonderzeichen zuliebe ASCII zu einem 16-Bit-Standard zu erweitern. In Zukunft versteht sich der richtige Code vielleicht nicht mehr von selbst.

Zudem speichert man seine Werke in der Regel nicht als reinen Text. Wie Avra Michelson, seinerzeit am amerikanischen Nationalarchiv in Washington, und ich 1992 hervorhoben, pflegen Autoren ihre digitalen Dokumente bereits in einem recht frühen Stadium zu formatieren; sie fügen außerdem Abbildungen und Fußnoten hinzu, um sie verständlicher und leserlicher zu gestalten.

Wenn man unter Lesen eines Dokuments lediglich die Gewinnung seines Inhalts, nicht aber dessen Originalform versteht, benötigt man nicht unbedingt die originale Software. Aber Inhalt kann sehr leicht mit der Form verlorengehen. Wenn Überschriften, Bildunterschrif- ten oder Fußnoten an die falsche Stelle geraten oder verschwinden, wie das beim Übertragen zwischen verschiedenen Textverarbeitungsprogrammen vorkommt – ist das lediglich ein Verlust an Struktur, oder beeinflußt es schon das Verständnis? Wenn wir aus dem Produkt eines Kalkulationsprogramms eine normale Tabelle machen, indem wir die Formeln löschen, die einzelne Zellen miteinander verknüpfen – haben wir dann nicht schon den Inhalt verändert?

Nehmen wir an, die CD auf meinem Dachboden enthalte nicht eine Beschreibung in Worten, sondern eine Skizze vom Versteck des Schatzes. Die sei aber ihrerseits versteckt in einem ansonsten belanglosen Text: Sie wird erst sichtbar, wenn man ihn aus gewissem Abstand betrachtet, weil sich dann die Wortzwischenräume zu Linien fügen. Dieses Muster – der intendierte Inhalt – kommt nur mit dem Formatierungsalgorithmus meiner Software zustande. Wenn der Empfänger ein komplexes Dokument wirklich genauso sehen muß wie sein Autor, dann führt kein Weg an der Original-Software vorbei.

Wie werden die Chancen für meine Enkelkinder in 50 Jahren stehen? Selbst wenn ich eine Kopie des Programms mit auf die CD schreibe, müssen sie immer noch das zugehörige Betriebssystem finden, mit dem man das Programm auf einem Computer laufen läßt. Eine Kopie des Betriebssystems auf der CD könnte hilfreich sein, aber die erforderliche Hardware ist wohl bis dahin längst veraltet. Wie müßte der digitale Stein von Rosette aussehen, mit dem künftige Archäologen unser digitales Kulturgut entziffern können?


Rettet die Bits!

Erste Maßnahme gegen den Verlust solcher Dokumente ist die Erhaltung ihres Bit-Stroms. So wie man Texte übertragen muß, bevor das Papier zerfällt, die Schrift verblaßt oder die Sprache in Vergessenheit gerät, sind die Bits immer wieder auf neue Speichermedien zu kopieren – und zwar rechtzeitig, bevor das bisherige Medium physisch unlesbar geworden oder veraltet ist. Eine einzige Unterbrechung in der Kette der Übertragungsakte, und die ganze Mühe ist vergeblich.

Bei der gegenwärtigen Unbeständigkeit digitaler Speichermedien und der Geschwindigkeit des technischen Fortschritts könnte eine solche Übertragung jeweils nach wenigen Jahren erforderlich werden. Aus vorsichtigen Abschätzungen für die Haltbarkeit ergibt sich die Empfehlung, digitale Daten auf Magnetbändern sogar jährlich zu kopieren, um sie vor Verlust zu schützen. (Analoge Daten wie etwa Musikaufzeichnungen auf einer Cassette sind in robusterer Form gespeichert. Wohl sinkt ihre Qualität allmählich ab; das ist aber eher akzeptabel als die Veränderung von Bits an zufällig verstreuten Stellen.)

Noch sind keine Speichermedien in Sicht, die ein Umschreiben weniger dringlich machen. Aber der hohe Aufwand für das Übertragen könnte ihre Entwicklung erzwingen. Eine Verringerung der heute so hochgeschätzten Zugriffsleistung müßte man wahrscheinlich in Kauf nehmen.

Der Inhalt eines alten Schriftstücks kann entweder durch Übersetzen in eine moderne Sprache oder durch Kopieren des Originals erhalten werden. Übersetzen erübrigt zwar die Kenntnis der Originalsprache, doch was wäre die Bibel, wenn die Fassung Martin Luthers die einzige Schriftquelle wäre? Durch eine Übersetzung geht zum einen stets Information verloren, zum anderen ist auch dem übersetzten Text nicht zu entnehmen, was verlorenging. (Im Extremfall kann ein Text vollkommen unbrauchbar werden; man stelle sich etwa vor, ein zweisprachiges Wörterbuch würde einfach Wort für Wort in eine dritte Sprache übertragen.) Schlichtes Abschreiben oder die Verwendung eines Kopiergeräts vermeidet solche Verluste, erfordert jedoch auch, daß das Wissen über die Originalsprache mit tradiert wird.

Analog dazu gibt es zwei Vorgehensweisen für die Erhaltung digitaler Dokumente: Übertragung in eine maschinenunabhängige Standardform und Konservierung der Computer sowie ihrer Software, um die Lesbarkeit im Originalzustand zu gewährleisten. Freilich haben beide Verfahren schwerwiegende Nachteile.

Auf den ersten Blick scheint es, das erste wäre vorzuziehen. Seine Fürsprecher führen als Paradebeispiel die relationalen Datenbanken an, deren Konzept E. F. Codd bei IBM, heute Inhaber einer eigenen Firma in San José (Kalifornien), in den siebziger Jahren eingeführt hat. Eine solche Datenbank besteht aus Tabellen, die ihrerseits Beziehungen zwischen den zu beschreibenden Gegenständen enthalten. Die Personal-Datenbank einer Firma etwa enthält typischerweise eine Tabelle, in der zu dem Namen jedes Angestellten seine Abteilung notiert ist. In einer weiteren Tabelle stehen in der ersten Spalte die Abteilungen, in der zweiten deren Größe und in der dritten der Name des Abteilungsleiters. Zu einer relationalen Datenbank gehört außerdem eine Anzahl formaler Operationen, mit denen die Inhalte verschiedener Tabellen verknüpft werden können; so kann das System beispielsweise die Frage beantworten, wer der Abteilungsleiter eines bestimmten Angestellten ist.

Da alle relationalen Datenbanken die gleiche Grundstruktur haben, kann man sie im Prinzip sämtlich in eine systemübergreifende Standardform übertragen. Wenn nur das Wissen über diese eine Form erhalten bleibt, dann sollte die Erhaltung des Bit-Stroms genügen, um die Lesbarkeit der Datenbank in alle Ewigkeit zu garantieren.


Mängel der Übertragung

Dagegen gibt es allerdings zwei wesentliche Einwände. Erstens sind relationale Datenbanken in der Praxis längst nicht so einheitlich wie in der Theorie. Kommerzielle Systeme unterscheiden sich voneinander durch nicht standardgemäße Erweiterungen wie etwa spezielle Funktionen. Zweitens sind bereits jetzt die Grenzen des Konzepts erkennbar. Beispielsweise sind Strukturinformationen eher verborgen als offensichtlich abgelegt: Aus der relationalen Datenbank eines Unternehmens ist nicht ohne weiteres zu entnehmen, daß es eine Zentrale, fünf Bezirksdirektionen, 25 Zweigstellen und 100 Abteilungen hat.

Neue, sogenannte objektorientierte Datenbanken, die Strukturen direkt darstellen können, befinden sich bereits in der Entwicklung. Ein solch rascher Fortschritt ist weder belanglos noch unerwünscht. Er ist das Gütesiegel der Informationstechnologie.

Außerdem ist das Exempel der relationalen Datenbanken alles andere als repräsentativ. Kein anderer Typ digitaler Dokumente ist auch nur annähernd so weitgehend formalisiert worden. Textverarbeitungs-, Graphik-, Tabellenkalkulations- und Hypermedia-Programme erzeugen eine bunte Mischung miteinander unverträglicher Dokumente. Die Inkompatibilität von Textverarbeitungssystemen ist nur eines von vielen Beispielen. Sie entstand nicht nur, weil die Hersteller ihre Produkte voneinander abgrenzen wollten, sondern auch, weil sie auf legitime Wünsche der Anwender reagierten.

Einstweilen ist noch keines der verfügbaren Anwendungsprogramme als Standard für die Zukunft geeignet. Wir haben ja noch nicht einmal eine allgemein anerkannte und formalisierte Vorstellung davon, wie ein Mensch Informationen verarbeitet und verändert. Weil man also die Bedürfnisse des Anwenders nicht genau genug kennt, wäre es hoffnungslos verfrüht, die Produkte zur Befriedigung dieser Bedürfnisse durch Normen festzuschreiben. Es wäre aussichtslos, den Anwender auf Beschränkungen durch solche Standards oder simple text als den kleinsten gemeinsamen Nenner festzulegen. Die Revolution in der Informationstechnologie gewinnt ihre Dynamik genau aus dem Reiz immer neuer Möglichkeiten. Die Definition langfristiger Standards mag sinnvoller werden, sobald die Informatik auf einem besseren formalen Fundament aufgebaut ist, aber derzeit bietet das noch keine Lösung.

In Ermangelung einer zeitlos gülti- gen Norm wird man ein Dokument, das man für hinreichend wichtig hält, von einem kurzlebigen Standard zum nächsten übertragen. Aber jede Übersetzung verursacht neue Verluste. Hätte eine moderne Version von Homers "Ilias" ebensolche literarische Qualität, wenn sie in mehreren Stufen über eine Anzahl Zwischensprachen statt direkt aus dem Original – dem frühesten erhaltenen altgriechischen Text – übersetzt worden wäre? Theoretisch sollte zumindest in der digitalen Welt der Übergang zwischen verschiedenen Standards umkehrbar und das Original dementsprechend rekonstruierbar sein; aber in der Praxis ist das selten machbar, weil die Struktur der Standards sich fortwährend radikal ändert. Beispielsweise sind viele ältere, hierarchisch organisierte Datenbanken dem relationalen Modell angepaßt worden, und diese wiederum werden nun für die aufkommenden objektorientierten Systeme umgebaut.


Museen für historische Computer

Es bleibt die Alternative, das digitale Dokument mit Hilfe des ursprünglich erzeugenden Programms darzustellen. Theoretisch muß es nicht unbedingt die originale Software sein. Es würde genügen, ihr Verhalten systemunabhängig und hinreichend präzise zu beschreiben; dann könnten künftige Generationen einfach ein funktional äquivalentes Programm schreiben und das Dokument damit lesen. Nur taugt die Informatik heute und in absehbarer Zukunft nicht für eine solche Beschreibung in ausreichender Tiefe und Qualität. Um das Verhalten eines Programms zu reproduzieren, bleibt einem wenig anderes übrig, als es selbst laufen zu lassen.

Aus diesem Grund müssen wir die Software, die unsere digitalen Dokumente erzeugt, zusammen mit den dazugehörigen Betriebssystemen aufbewahren. Das ist zwar äußerst aufwendig, aber zumindest theoretisch möglich. Autoren liefern bereits jetzt häufig ein Programm zum Lesen eines Dokuments mit diesem mit. Manche Programme sind so verbreitet und werden es vermutlich bleiben, daß der Autor nur auf sie verweisen muß - kostenlose und allgemein verfügbare (public domain) Software etwa, wie sie unter anderem leicht über das Internet zu beziehen ist; der Copyright-Schutz kommerzieller Programme wird ihrer Konservierung nicht im Wege stehen, wenn sie erst hinreichend veraltet sind.

Doch woher nehmen wir die Hardware, um antiquierte Software laufen zu lassen? Etliche spezialisierte Museen und Computerclubs halten ausrangierte Computer funktionstüchtig. Das hat, wie Dampfeisenbahn-Nostalgie, unzweifelhaft einen gewissen Reiz, ist aber letztendlich keine Lösung. Zum einen wird so die Systemvielfalt ohnehin nicht erhalten, zum anderen werden Reparatur und Austausch verschlissener Bauteile sowie das Tradieren des dazu nötigen Fachwissens schließlich weit mehr kosten, als jemand, der ein ausgemustertes System zeitweilig verwenden möchte, zu zahlen bereit wäre.

Nun können spezielle Programme, sogenannte Emulatoren, das Verhalten eines bestimmten Geräts auf einem anderen nachbilden – unter hohem Rechenaufwand, aber bei der anhaltenden Leistungssteigerung der Hardware könnte es sich auch lohnen, jeweils bei Bedarf ein längst obsoletes System zu simulieren. Nur muß dieses dazu sehr detailliert dokumentiert sein. Für die Nachwelt wären also die Dokumentationen aller je verwendeten Gerätetypen in einer von jeder speziellen Software unabhängigen Form zu speichern. Sonst kommt man in die Verlegenheit, ein System emulieren zu müssen, um die zur Emulation eines anderen Systems erforderliche Dokumentation lesen zu können.


Ein Programm zur Konservierung digitaler Daten

Nach alledem ergibt sich eine Reihe von Forderungen. Wenn digitale Dokumente und ihre Programme erhalten bleiben sollen, darf beim Umkopieren der Bit-Strom nicht verändert werden; selbst geringste Änderungen können Dateien und Programme unbrauchbar machen. Sind solche dennoch unvermeidlich, müssen sie verlustfrei umkehrbar sein. Außerdem müssen ausreichende Angaben über jede Änderung gespeichert werden, damit der originale Bit-Strom wiederzugewinnen ist. Aggressive Komprimierungsalgorithmen etwa reduzieren einen Bit-Strom auf eine Näherung seiner selbst und verhindern dadurch eine genaue Restaurierung. Auch die Wiederherstellung eines verschlüsselten Dokuments ist ohne Kenntnis des verwendeten Schlüssels unmöglich.

Im Idealfall sollten Bit-Ströme in einer Art virtuellem Briefumschlag aufbewahrt werden. Der Inhalt würde präzise dem Original entsprechen und auf dem Umschlag die Kontextinformation stehen: eine Beschreibung des Inhalts, der verwendeten Codierung und ein Protokoll der bisher vorgenommenen Transformationen.

Diese Informationen müssen ihrerseits in digitaler Form gespeichert sein (damit sie überhaupt erhalten bleiben), aber so codiert werden, daß sie für Menschen ohne weiteres lesbar sind – jedenfalls leichter als der Bit-Strom selbst. Ein einfacher Standard wie simple text müßte als langlebige Norm für diese Kontextinformation ausreichen. Würde sie beim Umkopieren auf ein neues Medium in einen neuen, verbesserten Standard umgesetzt, wären sogar irreversible Übertragungen akzeptabel, weil lediglich der semantische Gehalt erhalten bleiben muß. In dem gleichen robusten Standard wären die Hardware-Dokumentationen für die Konstruktion von Emulatoren abzulegen.

Was bedeutet das für meine Enkel? Wenn sie Glück haben, können sie die CD mit einem musealen Laufwerk lesbar machen, oder sie leisten es sich im Hinblick auf das Erbe, mit Hilfe der Informationen in meinem Brief eines nachbauen zu lassen. Wenn ich auf der CD alle erforderliche Software zusammen mit leicht zu decodierenden Angaben über die Hardware mit abspeichere, müßten sie einen geeigneten Emulator für meine Original-Software schreiben können, mit dem man mein Dokument sichtbar machen kann. Ich wünsche ihnen viel Glück.

Literaturhinweise

- Text and Technology: Reading and Writing in the Electronic Age. Von Jay David Bolter in: Library Resources and Technical Services, Band 31, Heft 1, Seiten 12 bis 23, Januar bis März 1987.

– Taking a Byte out of History: The Archival Preservation of Federal Computer Records. Bericht 101-978 des U. S. House of Representatives Committee on Government Operations, 6. November 1990.

– Archival Management of Electronic Records. Herausgegeben von David Bearman. Archives and Museum Informatics, Pittsburgh 1991.

– Understanding Electronic Incunabula: A Framework for Research on Electronic Records. Von Margaret Hedstrom in: American Archivist, Band 54, Heft 3, Seiten 334 bis 354, Sommer 1991.

– Scholarly Communication and Information Technology: Exploring the Impact of Changes in the Research Process on Archives. Von Avra Michelson und Jeff Rothenberg in: American Archivist, Band 55, Heft 2, Seiten 236 bis 315, Frühjahr 1992.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1995, Seite 66
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