Nobelpreis für Chemie: Die Kunst, Kunststoffe unter Strom zu setzen
Im Alltagsleben sind wir gewohnt, Plastik als den perfekten Isolator anzusehen. Den Preisträgern gelang es jedoch, Kunststoffe dazu zu bringen, sich in mancher Hinsicht wie ein Metall zu verhalten.
Damit ein Material Strom leitet, muss es über bewegliche Elektronen verfügen. Bei Metallen sind dies die äußeren Elektronen: Sie gehören keinem Atom so richtig und können sich im Kristall frei in alle Raumrichtungen bewegen. Bei Nichtleitern oder Isolatoren wie Diamant und vielen Kunststoffen sitzen alle Elektronen dagegen in Einfachbindungen zwischen benachbarten Atomen fest.
Eine Zwischenstellung nimmt der Graphit ein – der gemeine Bruder des Diamanten: Bei ihm sind bestimmte Elektronen zumindest innerhalb einer Schicht frei beweglich. Das rührt daher, dass von den vier äußeren Elektronen des Kohlenstoffs nur drei genutzt werden, um ein bienenwabenartiges ebenes Gerüst aus Sechsecken zu bilden; die hantelförmigen Aufenthaltsräume (so genannte p-Orbitale) des vierten Elektrons ragen dagegen zu beiden Seiten aus dieser Schicht heraus und überlappen sich zu einem halb gefüllten Leitungsband, das Bewegung in zwei Dimensionen, also genau innerhalb der Schichten, erlaubt.
Das Verdienst der diesjährigen Nobelpreisträger für Chemie ist es, eine weitere Möglichkeit für potenziell bewegliche Elektronen praktisch realisiert zu haben. Dabei sind die Leitungselektronen gegenüber dem Graphit noch einmal in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt: Statt in einer Ebene vermögen sie nur noch entlang einer Kette zu wandern. Eine solche Kette kann aus einem Polymer bestehen, in dem sich jeweils eine Einfach- und eine Doppelbindung abwechseln; Chemiker sprechen von "konjugierten" Doppelbindungen. Auch hier befindet sich an jedem Kohlenstoffatom ein hantelförmiges p-Orbital; es kann allerdings nur noch entlang der Kette mit den anderen überlappen, sodass für die Elektronen ausschließlich der Weg am "Rückgrat" des Moleküls entlang frei ist.
Prototyp dieser Verbindungen ist das Polyacetylen, das bereits 1955 erstmals als schwarzes, wenig beständiges sowie nur schlecht charakterisiertes Pulver synthetisiert worden war. Prinzipiell kann es in zwei geometrischen Formen (Isomeren) vorkommen: einer zickzackförmigen und einer mäandrierenden Kette, die als all-trans- beziehungsweise all-cis-Verbindung bezeichnet werden. Das ursprünglich erhaltene Produkt war eine Mischung aus beiden.
Anfang der siebziger Jahre gab der japanische Chemiker Hideki Shirakawa, Jahrgang 1936 und seit 1966 Professor am Institut für Materialwissenschaften der Universität Tsukuba, einem Doktoranden den Auftrag, Polyacetylen mit den damals neuen Ziegler-Natta-Katalysatoren herzustellen – in der Hoffnung, so zu einem einheitlicheren Produkt zu kommen. Diese Hoffnung erfüllte sich auf unerwartete Weise. Der Mitarbeiter machte nämlich einen gravierenden Fehler – er verwendete das Tausendfache der üblichen Katalysatormenge; doch dieses Versehen sollte sich als Glückstreffer erweisen. Statt des üblichen schwarzen Pulvers entstand nämlich ein silbriger Film, der sich als reines all-trans-Polyacetylen herausstellte. Bei einer anderen Temperatur gelang dann auch die Synthese des kupferfarbenen all-cis-Isomeren.
Weit weg von Japan, an der Universität von Pennsylvania in Philadelphia (USA), experimentierten zur gleichen Zeit der 1926 in Neuseeland geborene Chemiker Alan G. MacDiarmid und der US-Physiker Alan J. Heeger, Jahrgang 1936, mit dem metallisch aussehenden anorganischen Polymer Schwefelnitrid, (SN)x. MacDiarmid trug darüber bei einem Seminar in Tokio vor, aber erst in einer Kaffeepause lernte er zufällig Shirakawa kennen, der ihm von seinem silbrig glänzenden Polyacetylenfilm erzählte. Daraufhin vereinbarten die beiden einen einjährigen Gastaufenthalt des Japaners in Philadelphia, wo sie gemeinsam die Eigenschaften des ungewöhnlichen Polymers genauer untersuchen wollten.
Trotz des metallischen Glanzes entsprach die elektrische Leitfähigkeit des Materials allerdings nur der eines Halbleiters. Den Durchbruch brachte die Idee, die Substanz mit Iod zu behandeln (zu "dotieren", wie es in der Sprache der Halbleiterphysiker heißt). Sie nahm daraufhin einen schimmernden Goldton an. Vor allem aber stieg die Leitfähigkeit um das Zehnmillionenfache und erreichte damit Werte von typischen Metallen.
Mit der Publikation ihrer Ergebnisse im Jahre 1977 schufen Heeger, MacDiarmid und Shirakawa ein bedeutendes neues Gebiet: die Polymerelektronik (siehe auch "Elektrisch leitende Kunststoffe" von Richard B. Kaner und MacDiarmid in Spektrum der Wissenschaft 4/88, S. 54). Insbesondere dafür erhielten sie nun den Nobelpreis für Chemie. Nach Polyacetylen wurden weitere leitfähige Polymere entdeckt – insbesondere Polypyrrol, Polythiophen, Polyphenylenvinylen und Polyanilin. Im Gegensatz zum Polyacetylen können Polypyrrol und Polythiophen direkt in dotierter Form synthetisiert werden. Außerdem sind all diese Substanzen auch an Luft stabil, während Polyacetylen mit Sauerstoff reagiert und feuchtigkeitsempfindlich ist.
Was leitende Polymere für Anwendungen attraktiv macht, ist ihr geringes Gewicht und die oft einfache Verarbeitung. So lassen sich dünne Filme ohne großen Aufwand aus Lösungen erzeugen. Folglich sollte es möglich sein, leichte Displays und integrierte Schaltkreise mit ähnlichen Techniken wie beim Tintenstrahldrucker zu produzieren. Einige wichtige schon realisierte Anwendungen sind im Kasten auf Seite 16 aufgelistet.
Ein weiterer Vorteil der konjugierten Polymere ist, dass sie einen Leitfähigkeitsbereich von 10E-8 bis 10E6 Siemens pro Meter abdecken. Ihre Leitfähigkeit kann also über 14 Größenordnungen variieren und reicht von den Isolatoren über die Halbleiter bis zu den Metallen – die Leitfähigkeit von Kupfer beträgt 10E8 Siemens pro Meter.
Wann Elektronen wandern
Auch der theoretische Hintergrund dieser Spannbreite ist inzwischen geklärt. Die Leitfähigkeit von Metallen beruht darauf, dass den äußeren Elektronen unbesetzte energetisch höhere Zustände zur Verfügung stehen, in die sie thermisch – also mittels allgegenwärtiger Wärmeenergie – angeregt werden können: Bei Metallen grenzen besetzte und darüber liegende unbesetzte Zustände unmittelbar aneinander. Ganz anders bei Isolatoren: Hier klafft eine große Lücke zwischen dem höchsten besetzten Orbital (Homo, highest occupied molecular orbital) und dem niedrigsten unbesetzten (Lumo, lowest unoccupied molecular orbital).
Konjugierte Polymere nehmen eine Zwischenstellung ein, und man kann mit einfachen Modellen der theoretischen Chemie zeigen, dass der energetische Abstand zwischen Homo und Lumo mit wachsender Kettenlänge gegen null geht. Genauere quantenchemische Betrachtungen zeigen jedoch, dass die Lücke zwar kleiner wird, aber bestehen bleibt, weshalb undotiertes Polyacetylen mit einer Leitfähigkeit von 10E-7 bis 10E-5 Siemens pro Meter nur ein Halbleiter ist.
Den Grund dafür hatte im theoretischen Modell schon in den dreißiger Jahren Rudolf Ernst Peierls erkannt, der damals als blutjunger Physiker bei Werner Heisenberg arbeitete. Bei Ketten mit konjugierten Doppelbindungen ist der Zustand, in dem die p-Orbitale zu einem die ganze Kette überspannenden Band verschmelzen, sodass alle Bindungslängen gleich werden, energetisch nicht der günstigste. Das Molekül gewinnt Energie, wenn es sich derart verzerrt, dass wie bei der konventionellen Strichdarstellung von Polyacetylen jede zweite Bindung Doppelbindungscharakter hat.
Eine Dotierungssubstanz wie Iod entfernt nun ein Elektron aus der Polymerkette und wandelt sich dabei in ein negatives Ion um. Auch das Umgekehrte ist möglich: Natrium beispielsweise fügt ein Elektron hinzu und wird zum positiven Ion. Das resultierende Loch oder überzählige Elektron kann dann die Kette entlang wandern und so Ladung transportieren. Allerdings wird seine Beweglichkeit dadurch etwas behindert, dass es von dem geladenen Dotiermolekül, das seinerseits unbeweglich ist, elektrostatisch angezogen wird – es bildet mit ihm zusammen ein so genanntes Polaron. Ist die Dotierung jedoch stark genug, dann befinden sich genug Dotiermoleküle entlang der Kette, sodass der Ladungsträger ohne weiteres von einem zum anderen springen kann. Im Bandmodell sorgt die Dotierung dafür, dass mitten in der Bandlücke ein neuer Zustand auftritt, der entweder Elektronen aus dem Homo aufnehmen oder an das Lumo abgeben kann.
Es gibt allerdings noch einen anderen Mechanismus zum Ladungstransport. Bei der Umwandlung von all-cis- in all-trans-Polyacetylen können Strukturdefekte auftreten, die als Solitonen bezeichnet werden. Sie gleichen in gewisser Weise dem ärgerlichen Knick, der manchmal im schraubenförmig verdrillten Telefonkabel auftritt und sich zwar hin und her schieben, aber nicht ohne weiteres entfernen lässt. Dasselbe gilt für das Soliton: Die Störstelle kann wandern und dabei Ladung transportieren, normalerweise aber nicht zerstört werden.
Seit der Entdeckung der hohen Leitfähigkeit von dotiertem Polyacetylen hat sich die Forschung schnell in verschiedene Richtungen verzweigt. Es gelang, hochreine Polymere herzustellen, die für Halbleiterelemente genutzt werden können. Dazu gehören normale und Feldeffekt-Transistoren sowie Foto- und Leuchtdioden. Vor allem die Leuchtdioden sind äußerst interessant, da sie sich bei geringen Kosten als Film aus Polymerlösungen herstellen lassen.
In elektrochemischen Leuchtzellen wird ein Halbleiter-Polymer auf der einen Seite an eine reduzierende Kathode aus einem Metall wie Aluminium, Magnesium oder Calcium angeschlossen, die Elektronen an das Polymer abgibt. Auf der anderen Seite befindet sich eine transparente oxidierende Anode, üblicherweise Indium-Zinn-Oxid, die Elektronenlöcher erzeugt. Beide Sorten von Ladungsträgern wandern im Polymer aufeinander zu und rekombinieren, wenn sie zusammentreffen; dabei wird Licht abgestrahlt. Über diese Elektrolumineszenz berichtete 1990 zuerst Richard H. Friend; als Material diente Poly(p-phenylenvinylen), das eine gelbgrüne Lumineszenz zeigt.
Überdies könnten sich leitfähige Po-lymere als zentrale Bausteine künftiger Computer qualifizieren. Schon seit Jahrzehnten geht der Trend in der Halbleitertechnologie in Richtung immer weiterer Miniaturisierung. Mit hochauflösender optischer Lithographie kann man heute bereits integrierte Schaltkreise in der Größe von etwa 200 Nanometern auf einem Silizium-Wafer herstellen. Ein molekularer Computer, von dem viele Forscher träumen, wäre dagegen noch zwei Größenordnungen kleiner. In ihm würden Moleküle als Schaltelemente und leitende Polymeren als elektrische Verbindungen dienen. Nach Bakelit-Telefonen, Nylonstrümpfen und Polyethylen-Tragetaschen wäre das ein ganz neues, aufregendes Anwendungsgebiet für die allgegenwärtigen Plastikmaterialien.
Einige Anwendungen leitfähiger Polymere
- Dotiertes Polyanilin wird als Leiter und zur elektromagnetischen Abschirmung von elektronischen Schaltkreisen verwendet. Außerdem dient es als Korrosionsinhibitor.
- Polydialkylfluoren-Derivate werden als Emissionsschicht in Farb-Video-Matrixbildschirmen genutzt.
- Polypyrrol wurde als Mikrowellen absorbierende Beschichtung getestet, die das beschichtete Objekt für Radar unsichtbar macht.
- Einige leitende Polymere wie zum Beispiel Polyanilin können je nach angelegter Spannung eine ganze Palette unterschiedlicher Farben annehmen. Diese Eigenschaft ließe sich für so genannte "intelligente" Fenster nutzen, die im Sommer das Sonnenlicht absorbieren.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 2000, Seite 16
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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