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Die Natur der Moral. Evolutionäre Ethik und Erziehung.

Hirzel, Stuttgart 1999. 268 Seiten, DM 68,–.

Zwei Arme packen einen Stier bei den Hörnern: Der Aufmacher ist nicht schlecht gewählt für ein Buch, das danach fragt, ob Naturbetrachtung zur ethischen Orientierung taugt. Dieses Anliegen rumort zunehmend in den Köpfen von Ethikern, weil in Zeiten turbulenter gesellschaftlicher Veränderungen die Halbwertszeit auch moralischer Maßstäbe immer kürzer wird. Demgegenüber gilt die Natur als unveränderlich und demzufolge als Quelle weniger leicht verderblicher Normen.

Alle, die dem Menschen sagen wollen, was er zu tun und zu lassen hat, und besonders die Pädagogen, müssen sich also zunehmend Gedanken machen über die rechte Be-Handlung des „wilden Tieres“ in uns, sprich: unserer natürlichen Anlagen. Sie verabschieden sich damit von der rationalistischen Tradition, wonach Ethik eine Angelegenheit der „reinen Vernunft“ handlungsfreier Menschen sei, nicht aber von Beschränktheiten oder Neigungen durch „natürliche Vorgaben“.

Der Zahn der Zeit nagt am Elfenbeinturm der Pädagogik: Den Erziehungswissenschaftlern tröpfelt saurer Regen aufs wohlmeinende Hirn, während im anvertrauten Garten Erde die Biodiversität unter die Räder kommt. Hilfesuchend wenden sie sich deshalb vor allem der Biologie zu. Mag deren rapider Wissenszuwachs für neue Rezepte taugen, nicht nur hinsichtlich unseres Seins, sondern auch Sollens? Ohne Kröten zu schlucken, kann die traditionelle Pädagogik jedoch nicht mit der Biologie ins Geschäft kommen – denn Genetik und Verhaltensforschung erschüttern den Glauben an die unbegrenzte Bildbarkeit des Menschen. „Evolutionäre Ethik“ – das klingt nach „biologischem Determinismus“.

Ein Haufen kluger Wissenschaftler beackerte das Problemfeld auf einer Tagung an der Universität der Bundeswehr in Hamburg. Die intellektuelle Ernte ist eingefahren in diesem wohledierten Sammelband der „Edition Universitas“. Ausgebreitet sind Perspektiven der Erziehungswissenschaftler Wolfgang Brezinka, Felix von Cube, Max Liedtke, Dieter Neumann, Arno Schöppe, Renate Voland und Alfred K. Treml sowie der Evolutionsbiologen Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Hans Mohr, Rupert Riedl, Eckart Voland und Franz M. Wuketits. Für zusätzliche heilsame Verwirrung sorgen der Soziologe Gerhard Vowinckel, der Theologe Karl Ernst Nipkow und der Philosoph Gerhard Vollmer sowie die dokumentierten Ausschnitte aus Diskussionsrunden.

Der Reiz des Bandes liegt in der Vielschichtigkeit der Argumente – auf die eine Rezension nicht angemessen eingehen kann. Statt dessen sei ein roter Faden gesponnen, den alle Autoren mehr oder weniger explizit aufnehmen: der „naturalistische Fehlschluß“ vom „Sein aufs Sollen“, vor dem der englische Philosoph David Hume 1741 warnte.

Betrachten wir dazu ein beliebtes Argument: Homosexualität und Masturbation seien als der Fortpflanzung nicht dienende und somit „wider die Natur“ gerichtete Formen der Sexualität zu verdammen. Nur gehören sie ausgerechnet in freier Wildbahn zur Normalität, wie Beobachtungen an Menschen- und anderen Affen belegen. Genaue Naturkenntnis kann also manche Argumente als inkorrekt entlarven. Der Umkehrschluß ist freilich ebensowenig gültig – daß alles, was in der Natur vorkommt, moralisch richtig sei. Liberale westliche Zeitgenossen mögen ihre Weltanschauung untermauert sehen, wenn Äffinnen Sex miteinander haben und sich klitoral selbst befriedigen. Ganz ähnlich können sich Vegetarier auf krautmampfende Gorillas berufen. Steakkauer erhalten allerdings ebenfalls Schützenhilfe – weil Kapuzineraffen oder Schimpansen gerne Fleisch vertilgen. Unsere wilde Verwandtschaft als ethische Berufungsinstanz einzusetzen wird spätestens dann problematisch, wenn es um Sex mit Jugendlichen, das Töten von Artgenossen (einschließlich eigener und fremder Kinder) oder Kannibalismus geht – alles „natürliche“ Praktiken.

Die moralische Anleihe beim Tier gerät damit zu einem Akt der Beliebigkeit. Wer ein Verhalten positiv bewertet, preist es als „natürlich“ – im anderen Fall ist es eben „viehisch“ oder „animalisch“. Die wertende Naturbetrachtung führt demnach entweder zu der Maxime „Zurück zur Natur!“ oder zu „Weg von der Natur!“ Prominenter Vertreter der einen Richtung war der Naturliebhaber Konrad Lorenz (1903–1989), der den angeblich kulturell fabrizierten Niedergang der Spezies Homo sapiens durch Verstädterung und ausufernde Aggression auf eine Selbstdomestikation („Verhausschweinung“) zurückführte. Lorenz wußte wenig von kindstötenden Tieren. Auf der Gegenseite stellte der Darwinist Thomas Henry Huxley (1825–1895) im Jahre 1888 fest, „die einzige Lehre, die der Mensch aus der Natur schöpfen kann, ist die Lehre vom Bösen“, weshalb Erzieher das animalische Erbe zu bekämpfen hätten, um „wahre“ Menschen zu formen.

Die Vertreter beider Richtungen landen damit beim naturalistischen Fehlschluß vom Sein aufs Sollen. Denn beide beziehen ihr Sollen aus der Natur – und sei es aus der Ablehnung derselben. Der Fehlschluß schleicht sich wohl auch dort ein, wo es als ethische Zielvorgabe gilt, „die Vielfalt des Lebens auf Erden zu erhalten“.

Am Ende mag es gar kein Entrinnen geben vor dem Fehlschluß – denn wir können der Natur ja nicht entrinnen.

Wie Fakten und Normen im Alltag vernetzt sind und wie sie vernetzt sein sollten, ist in jedem Falle eine knifflige Frage. Es droht nämlich auch noch der umgekehrte, der „moralistische Fehlschluß vom Sollen aufs Sein“ – frei nach Christian Morgensterns Bonmot „Weil nicht sein kann, was nicht sein darf“. Dieser verneint den Einfluß der Natur auf das Verhalten des Menschen. Aggression oder die Neigung, Fremden zu mißtrauen, wären demnach gesellschaftliche Konstrukte – Credo der eingangs skizzierten traditionellen Pädagogik.

Wer die moralische Wahl hat, hat die denkerische Qual. Allen mentalen Masochisten sei dieses Kompendium zur „Evolutionären Ethik“ mithin wärmstens empfohlen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1999, Seite 105
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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