Wissenschaftstrends: Die neuen Sozialdarwinisten
Das in Charles Darwins Evolutionstheorie entscheidende Prinzip der natürlichen Selektion findet immer mehr Anklang in den anthropologischen und psychologischen Disziplinen, die geistige Leistungen, Sprache und Geschlechtsunterschiede als biologische Anpassung verstanden wissen wollen.
Die Frau ohne Kopf im schwarzen Lederhöschen soll schließlich den letzten Zweifler überzeugen: Devendra Singh von der Universität von Texas in Austin benutzt das zerschnittene Photo mit dem kurvenreichen Torso, projiziert auf eine überdimensionale Leinwand, zur Illustration seines Vortrags: "Die männliche Vorliebe für romantische Beziehungen".
Seit Jahren umrundet der Psychologe den Globus, im Gepäck solche Bilder. Ihn interessiert, ob Männer bestimmte weibliche Attribute generell als attraktiv empfinden. Er räumt ein, daß man sich über Gesichtszüge, große und kleine Brüste und manch anderes durchaus streiten könne. Eines aber sei immer gleich: Weltweit spräche eine Taille/Hüfte-Proportion von 0,7 Männer besonders an. Die Empfänglichkeit für dieses Sexualsignal, behauptet Singh, habe die natürliche Selektion in die Psyche des Mannes eingepflanzt. Das Verhältnis korreliere eben hervorragend mit dem, was er "reproduktives Potential" der Frau nennt.
Sicherlich fände sich auch unter den mehreren hundert – zumal unter den vielen weiblichen – Zuhörern jemand, der sich anschließend darüber ereifern könnte, daß die Studie beleidigend und dumm und jedenfalls unwissenschaftlich sei. Wie oft hat man nicht zu hören bekommen, die sexuelle Präferenz sei doch offensichtlich kulturell geprägt, nicht von tierischem Instinkt festgelegt. Nur ist dies keine der üblichen Tagungen sozialwissenschaftlicher Prägung, sondern die Jahresversammlung der Gesellschaft für Verhalten und Evolution des Menschen (kurz HBES, nach ihrem englischen Namen Human Behavior and Evolution Society). Die Mitglieder, die sich in diesem Sommer im südkalifornischen Santa Barbara trafen, sehen sich Charles Darwin (1809 bis 1882) verpflichtet. Seine vor mehr als hundert Jahren niedergeschriebene Vision, "in ferner Zukunft" werde "die Psychologie auf einem neuen Fundament stehen", prangt nebst einer barbusigen Schönheit Amazoniens auf dem Titelblatt des Tagungsführers.
Wie meistens sollte der Begründer der Evolutionstheorie recht behalten – insofern, als diese Zukunft noch lange nicht da ist. Doch seit einiger Zeit grassiert die darwinistische Psychologie in den verschiedenen sozial- und humanwissenschaftlichen Disziplinen wie ein aggressives Virus, das sich mit immer neuen Mutanten einschleicht. Die HBES, die jetzt seit sieben Jahren besteht, vergrößert sich zusehends. Zu den Mitgliedern zählen Psychologen, Anthropologen, Historiker, Wirtschaftler und Forscher der vielen anderen Fachrichtungen, die sich mit menschlichen Angelegenheiten im weitesten Sinne des Wortes beschäftigen. Seitdem wird auch der Büchermarkt nicht nur in den Vereinigten Staaten mit Titeln zum gar nicht so neuen Paradigma biologischer Wurzeln menschlichen Verhaltens überschwemmt, fachlichen wie journalistischen; und selbst das amerikanische Fernsehen propagiert inzwischen "eine zweite darwinistische Revolution" – so die Fernseh-Serie "The Human Quest" (etwa: die abenteuerliche Jagd nach dem Menschen), die weithin Aufsehen erweckte.
Wenn man sich die Tagungsteilnehmer so anschaut, wie sie Kontakte knüpfen, sich streiten, voreinander prahlen, miteinander flirten und verbale Streicheleinheiten austauschen, muß man einfach ihren Glauben teilen. Es stimmt – wir alle sind Tiere, Abkömmlinge einer langen Reihe von Replikatoren, die ihren Anfang in der Ursuppe nahmen. Nicht die kurze Spanne der Zivilisation hat unser großes, an Windungen reiches Gehirn hervorgebracht, sondern die Hunderttausende von Jahren der Evolution unseres Zweiges am Primaten-Stammbaum. Wir sind "Steinzeitler auf der Überholspur", so der Mediziner S. Boyd Eaton von der Emory-Universität in Atlanta (Georgia).
Nur – was bedeutet dies alles für uns als Kulturwesen? Inwiefern kann der neue Sozialdarwinismus den modernen Menschen erklären? Selbst die Enthusiasten geben zu, daß noch viel zu tun sei, bis ihnen niemand mehr vorwerfen könne, sie gingen mit puren Behauptungen oder mit Allgemeinplätzen hausieren.
An den Studien Singhs über "darwinistische Ästhetik" zeigt sich das Problem. Was bleibt übrig, wenn man ihren Kern betrachtet? Männer wünschen sich junge, gesunde Frauen. Sie sollen nicht zu mager sein und nicht zu dick, auch noch nicht schwanger, aber so gebaut, daß sie gut Kinder gebären können – also mit relativ breitem Becken ausgestattet. Braucht man, um darauf zu kommen, wirklich die neue Theorie?
Sicherlich, behauptet der Psychiater Randolph M. Nesse von der Universi- tät von Michigan in Ann Arbor, einer der angesehensten Persönlichkeiten der HBES, der das erste Meeting mit organisierte: Die meisten Sozialwissenschaftler würden immer noch meinen, das Empfinden für Schönheit sei kulturell bestimmt; nur Darwinisten suchten zu erklären, warum in manchem dennoch universell die gleiche Vorliebe herrscht. Die Evolutionstheorie könne, wie der Biologie, auch den Humanwissenschaften, die derzeit in konfusem Zustand seien, einen dringend benötigten Rahmen liefern.
Nesse gibt zu, auch er sei oft frustriert, daß seine Disziplin sich schwer tut, Phänomene vorherzusagen, die intuitiv nicht einsichtig sind, und sich statt dessen mit nachträglichen Erklärungen für scheinbare Selbstverständlichkeiten abgibt. Er wünscht sich das strenge, schrittweise induktive Vorgehen der Naturwissenschaften, das etwa die Molekulargenetik so erfolgreich machte. "Wir fangen damit gerade erst an", sagt Nesse. "Man darf nicht meinen, unser Feld sei schon eine ausgereifte Wissenschaft."
Module für geistige Operationen
Zumindest zeigte sich in Santa Barbara der Ehrgeiz der neuen Richtung. Die Themen reichten von der Evolution religiöser Symbolik bis zur Wiederkehr des Partnerwechsels bei amerikanischen Mittelschicht-Paaren. Manchmal klingt es wie gegenseitiges Einschwören. Man spart nicht mit Hohn für die verirrten Seelen, welche die bestimmende Kraft für menschliches Verhalten in der Kultur sehen – was immer auch darunter verstanden wird. Der Kommentar des Anthropologen Lee Cronk von der Texas-A&M-Universität in College Station, an soviel Macht der Kultur zu glauben sei "Religion" und nicht rationale Wissenschaft, löst einen Beifallssturm und befreites Gelächter aus.
Hinter dieser scheinbaren Einmütigkeit allerdings verbergen sich harte Meinungsverschiedenheiten. Immer wieder gibt es Streit um Fragen ähnlicher Art: Wie formbar ist der Mensch? Bis wohin regiert der Instinkt über den Verstand? In welchem Maße sind wir uns unserer genetischen, also unserer Fitness-Interessen bewußt? Spiegeln die Unterschiede zwischen Individuen oder zwischen ethnischen Gruppen eher genetische oder eher kulturelle Einflüsse wider?
Manche dieser Sozialdarwinisten neuer Prägung sind in ihrem Bemühen, die Fehler einer früheren Generation zu vermeiden und den politischen Fallstricken zu entgehen, fast nicht mehr von den Kulturgläubigen zu unterscheiden. Die meisten widersetzen sich auch Impulsen, das, was ist, mit dem, was sein sollte oder sein müßte, zu verquicken, wie es vor hundert Jahren die ersten Sozialdarwinisten machten, als sie etwa die Ansicht vertraten, die damalige Oberschicht stünde aus eigenem Verdienst an der Spitze der Gesellschaft.
Daß die Gesellschaft für Verhalten und Evolution des Menschen nicht das Wort Soziobiologie in ihrem Namen enthält, geschah mit Bedacht. Als Edward O. Wilson von der Harvard-Universität in Cambridge (Massachusetts) 1975 diesen Begriff für eine neue Disziplin prägte, indem er ihn als Titel eines dann zum Klassiker avancierenden Lehrbuchs über tierisches und menschliches soziales Verhalten wählte, brandmarkten viele ihn als Vertreter eines genetischen Determinismus, denn er vertrat darin – wie auch in späteren Werken – den Anspruch, mit der Evolutionstheorie ließen sich nicht nur Termitenstaaten und Pavianhorden, sondern auch menschliche Sozietäten durchleuchten.
Um es klarzustellen – die Zeitschrift der HBES heißt "Ethology and Sociobiology", und einige der Veteranen bezeichnen sich weiterhin als Soziobiologen, ob nun aus Gewohnheit, aus Loyalität zu Wilson oder aus Eigensinn. Andere fühlen sich diesem mittlerweile weltweit etablierten Zweig der Verhaltensforschung und der Anthropologie zwar durchaus verpflichtet, schränken aber ein, daß bei der Verknüpfung von Genom und Verhalten die Rolle des Verstandes oft nicht genügend Beachtung finde. Deswegen tauften sie sich evolutionäre Psychologen.
Das Forscherehepaar Leda Cosmides und John Tooby von der Universität von Kalifornien in Santa Barbara gehört zu den führenden Vertretern dieser Richtung (Bild 2). Bedenklich finden sie die Behauptung mancher Soziobiologen, das menschliche Gehirn sei eine Rechenmaschine für den Zweck, unter allen Umständen für Fitness-Maximierung zu sorgen. Stimmte dies, dann würde heutzutage niemand mehr auf Nachwuchs verzichten, vielmehr stünden alle Männer vor den Samenbanken Schlange, um ihre Chancen auf Kinder zu steigern.
Zusammen mit Jerome H. Barkow von der Dalhousie-Universität in Halifax (Kanada) brachte das Ehepaar 1992 das Buch "The Adapted Mind" heraus, in dem es die Idee vertrat, der Geist bestehe aus einer bunten Ansammlung spezialisierter Mechanismen. Diese Module seien in der natürlichen Selektion daraufhin designt worden, Anforderungen zu genügen, mit denen unsere Ahnen als Jäger und Sammler konfrontiert waren: Partner finden, Kinder aufziehen, sich gegen Rivalen behaupten. Oft seien zu solchen Zwecken Affekte wie Lust, Angst, Zuneigung, Eifersucht oder Wut involviert.
Das Ehepaar betont, was Soziobiologen oft versäumten, daß die darwinistische Theorie dem Grundsatz der (mehr oder weniger großen) Gleichheit aller Menschen – wie ihn etwa die amerikanische Unabhängigkeitserklärung postulierte – nicht entgegenstehen müsse. "Die evolutionäre Psychologie handelt sehr allgemein von universalen geistigen Eigenschaften", so schreiben sie. "Insofern individuelle Unterschiede existieren, ist es falsch zu meinen, daß diese (zwar) Ausdruck derselben universalen menschlichen Natur seien, (nur eben) in der Begegnung mit unterschiedlichen Umwelten."
Die Geschlechtlichkeit bildet die entscheidende Ausnahme. Die evolutionären Psychologen bestehen darauf, daß sich die mentalen Module von Männern und Frauen in der natürlichen Selektion sehr verschiedenartig ausgeformt hätten – wegen ihrer unterschiedlichen Fortpflanzungsrollen. David M. Buss von der Universität von Michigan meint, seine Forschungen über sexuelle Anziehung und Partnerwahl hätten einen klaren geschlechtsspezifischen Unterschied erbracht.
Er hat weltweit Männer und Frauen zu ihren sexuellen Gepflogenheiten befragt und kommt zu dem Ergebnis, daß Männer viel stärker zu promiskem Verhalten neigen als Frauen, und er erklärt dies damit, daß sie im Grunde beliebig viele Kinder zeugen können. Frauen seien wählerischer in der Wahl des Partners, denn im Durchschnitt könnten sie höchsten ein Kind pro Jahr gebären. Männer in allen Kulturen legten bei der Partnerin größeren Wert auf Jugend und körperliche Attraktivität – nach Buss Fruchtbarkeitssignale –, wohingegen den Frauen die von Männern gewährten Ressourcen wichtiger seien. Aus ähnlichen Gründen, nämlich weil Männer sich ihrer Vaterschaft nie wirklich sicher sein könnten, komme bei ihnen Eifersucht eher beim Gedanken an Untreue der Partnerin auf, bei Frauen hingegen, wenn sie befürchteten, die Zuneigung und damit materielle Sicherheit zu verlieren.
Der Wissenschaftler hat diese Gedanken in einem 1994 erschienenen Buch präsentiert (auf deutsch ist es im gleichen Jahr unter dem Titel "Die Evolution des Begehrens. Geheimnisse der Partnerwahl" erschienen). Er räumt ein, daß solche Aussagen den meisten Lesern, die innerwissenschaftliche Streitigkeiten nicht kennen, wie Platitüden vorkommen müssen. Niedergeschrieben habe er sie wegen sozialwissenschaftlicher Behauptungen, daß die Allgemeinheit gerade in diesem Punkt irre. Anhänger dieser Tradition berufen sich etwa auf völkerkundliche Studien, deren bekannteste wohl die amerikanische Ethnologin Margaret Mead (1901 bis 1978) schrieb; das von ihr entworfene idyllische Bild der Gesellschaft Samoas von Glück und sexueller Freizügigkeit beider Geschlechter ohne jede Eifersucht sei nach neueren Forschungen reine Phantasie.
Nach Buss paßt auch die nach wie vor existente männliche Eifersucht nicht zu der bereits angesprochenen These, die Bestrebungen zur Maximierung der Fitness und mithin die Sexualität folgten immer und unter allen Umständen rationalem Kalkül. Diese Emotion habe in der Vorzeit in einer Jäger-und-Sammler-Kultur Sinn gemacht: Wer auf Nebenbuhler mißtrauisch reagierte, hatte größere Chancen, seine eigenen Gene weiterzuvererben. Der moderne Mann nun rege sich merkwürdigerweise sogar dann auf, wenn die Frau beim Seitensprung Verhütungsmittel benutzt.
Lust am Betrug
Sarah Blaffer Hrdy von der Universität von Kalifornien in Davis beschuldigt Buss, soziobiologische Thesen, ja selbst kulturdeterministische Forschungen ins Lächerliche zu ziehen. Sie ist eines der wenigen HBES-Mitglieder, die sich noch Soziobiologen nennen. Habe Margaret Mead die Samoaner durch die rosarote Brille ihrer Phantasie gesehen, so gelte Gleiches für viele der Männer, die Sexualverhalten erforschen. Sie nennt als Beispiel Studien über den evolutiven Sinn von symmetrischen weiblichen Brüsten.
"Männer lieben es, sich Szenarien für Brüste auszudenken, weil sie es lieben, sie anzuschauen", ist ihr bissiger Kommentar dazu. Schon zu viel Zeit sei mit Präferenzstudien in der Manier von Buss vertan worden; geschlechtliches Verhalten sei oft komplexer und bedachter, als derartige Erhebungen erkennen ließen. Die männliche Eifersucht beispielsweise möge oft irrational sein, doch daß Frauen Männer mit Geld vorzögen, sei in der heutigen Zeit völlig logisch, allein schon weil sie in den meisten Gesellschaften immer noch benachteiligt sind, was Verdienst und Karriere betrifft.
Nach Einschätzung von Fachleuten gehört zu den vielversprechenden Ansätzen der von Leda Cosmides. Zu ihrem Modul-Modell hat sie die These aufgestellt, eines der nützlichsten dieser geistigen Werkzeuge sei jenes, mit dem man betrügerische Absichten anderer erkennt. Sie baut mit dieser Idee auf dem erfrischend zynischen Konzept des sogenannten reziproken Altruismus auf, das Robert L. Trivers von der Rutgers-Universität in New Brunswick (New Jersey) schon 1971 in die Diskussion gebracht hatte. Seine Überlegung war, daß unter unseren Vorfahren uneigennütziges Verhalten nur entstehen konnte, wenn es nach dem Motto: "Wie du mir, so ich dir" nicht einseitig blieb und letztlich doch lohnte.
Leda Cosmides nun stellt sich eine Gesellschaft vor, deren Mitglieder in gegenseitiger Hilfeleistung zusammenhalten. Sie meint, unter solchen Bedingungen müßte zwar Mogeln evolutiv begünstigt sein, gleichfalls aber auch das Vermögen, Täuschungsmanöver zu entlarven. Die Wissenschaftlerin spielte das mit Testpersonen durch, und tatsächlich zeigten diese wesentlich mehr Scharfsinn, wenn es Schwindeleien aufzudecken galt, als wenn es um rein logische, abstrakte Denkoperationen ging.
Der Wirtschaftler Vernon Smith von der Universität von Arizona in Tucson merkt dazu an, die Ergebnisse seiner eigenen Forschungen würden diese Hypothese stützen. Er schildert Experimente, bei denen Freiwillige einige hundert Dollar einheimsen können, wenn sie verschiedene komplexe Transaktionen geschickt aushandeln. (An Teilnehmern mangelt es dem Forscher nie.) Die gesetzten Spielregeln sind sämtlich Varianten des schon legendären Gefangenen-Dilemmas: Kurz gesagt muß man sich entscheiden, ob man den Mitspieler (dessen Verhalten man vorher nicht kennt) hintergeht – und dann eine bestimmte Summe kassiert – oder ob man auf seine Kooperation vertraut und dann gemeinsam noch mehr gewinnt, wobei man allerdings auch leer ausgehen kann, wenn das Vertrauen nicht gerechtfertigt war (siehe auch "Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften – die Spieltheorie wird hoffähig", Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1994, Seite 25).
Eigentlich hatte Smith erwartet, die Probanden würden kühl kalkulieren – wie die Theorie rationaler Entscheidungen es postuliert, der viele Ökonomen anhängen. Doch die Teilnehmer verhielten sich zu Anfang besonders vertrauensvoll – was aber umschlug, wenn ihnen daraus Nachteile erwuchsen: Nun zeigten sie sich eklatant unversöhnlich, mehr als sie nach rationalem Kalkül hätten sein müssen. Dies verstand der Forscher erst, als er auf die Arbeiten von Leda Cosmides und John Tooby stieß und auf ihre These, daß Emotionen bei sozialen Entscheidungen wesentlich mitwirkten.
Auch Psychotherapeuten interessieren sich mittlerweile für diese Idee. Einer von ihnen ist der Psychologe Alan M. Leslie von der Rutgers-Universität, der sich mit Autismus beschäftigt. Seine Befunde deutet er so, daß bei dieser schweren Verhaltensstörung, die sich in früher Jugend zeigt, trotz oft recht beachtlicher Intelligenztestwerte ein geistiger Mechanismus nicht in Ordnung sei, der Konzepte über Gemütszustände anderer aufstellen hilft.
Normale Kinder würden diese Fähigkeit, sich ein inneres Bild – quasi eine Theorie – vom Befinden anderer zu machen, angeborenermaßen entwickeln. Der Anpassungswert davon sei offensichtlich, denn so vermöge man Reaktionen von Mitmenschen vorauszuahnen und gegebenenfalls zu beeinflussen.
Sprache als Instinkt?
Zur evolutionären Psychologie bekennt sich auch der Linguist Steven Pinker vom Massachusetts Institute of Technology in Cambridge (Bild 3). In seinem Vortrag in Santa Barbara gab er die Hauptgedanken seines im letzten Jahr erschienenen Buches über den "Sprachinstinkt" wieder, das rasch populär wurde. Sprache, meint er, sei viel zu komplex, als daß sie komplett nur durch Lernen erworben werden könne. Sie müsse vielmehr auf einem angeborenen, im Gehirn fest verschalteten Programm beruhen. Daß Sprachvermögen grundsätzlich etwas Besonderes sei (auch verglichen mit der Fähigkeit zu lesen oder zu schreiben) zeige sich schon daran, daß jede Kultur – auch jede schriftlose – eine Sprache hat, die alle gesunden Kinder ohne viel Mühe erwerben. Die linguistische Forschung habe zudem Gemeinsamkeiten aller Sprachen aufgewiesen, was wohl bedeute, daß gewisse syntaktische Strukturen in evolutiven Selektionsprozessen begünstigt waren.
"Was nun kommt, sind an sich Banalitäten", kommentiert Pinker seinen Gedankengang: Fast mit Sicherheit habe sich Sprache aus dem Grunde entwickelt, daß dies eine günstige Anpassung war – nämlich für die Existenz als Jäger und Sammler. Erlernte Fertigkeiten, wie man sie zum Herstellen von Werkzeugen und Waffen oder bei anderen Verrichtungen benötigte, konnte man so einander übermitteln. Wer gutes Sprachgespür hatte, vermochte leichter Gruppengenossen zu beeinflussen oder auch Komplotte zu schmieden, hatte also vielerlei soziale Vorteile, was sich in mehr Nachkommen ausgezahlt haben mag. "Das sind keine weltbewegenden Neuigkeiten", sagt der Linguist. "Doch falls man es wagt, sie unter Wissenschaftlern vorzubringen, stößt man gewöhnlich auf Kritik."
Der bekannteste seiner Kontrahenten ist sein Fach- und Institutskollege A. Noam Chomsky. In gewisser Weise sind alle evolutionären Psychologen geistige Erben des Begründers der generativen Grammatik, der schon vor rund vier Jahrzehnten den Behavioristen Kontra gab: Der Mensch sei bei Geburt keineswegs eine Tabula rasa, der man alles wie andressierte Reflexe erst beizubringen habe und die man beliebig vollschreiben könne; und für seine These, Sprache sei in den Grundzügen angeboren, präsentierte er überzeugende Argumente. Inzwischen sind ihm freilich Zweifel daran gekommen, daß Sprache ein von der natürlichen Auslese begünstigtes adaptiertes Merkmal sei.
Einige Darwinisten argwöhnen freilich, Chomskys linkspolitische Einstellung habe mit dem Sinneswandel zu tun. Doch diesen Verdacht weist er scharf zurück. Im Gegensatz zu anderen sehe er einfach die Grenzen der darwinistischen Erklärungsversuche. Zwar halte er es durchaus für möglich, daß bei der Evolution der Sprache wie auch anderer einzigartiger Merkmale des Menschen die biologische Selektion in irgendeiner Weise beteiligt gewesen sein könne. Aber der Schritt von den vergleichsweise primitiven Kommunikationsformen von Tieren hin zu unseren Artikulationsmöglichkeiten sei so groß und das Wissen über die Vergangenheit so gering, daß einfach niemand sagen könne, wie sie wirklich entstanden seien.
Auch wenn Sprache heute adaptiv ist, führt Chomsky weiter aus, bedeute dies nicht, daß sie sich in Reaktion auf Selektionsdrücke entwickelte. Vielleicht war sie ein zufälliges Nebenprodukt eines evolutiven Intelligenzschubes und wurde erst später in verschiedene Zwecke eingebunden. Ähnliches könnte für andere geistige Fähigkeiten gelten.
Chomsky bedauert, daß die evolutionäre Psychologie nicht ernstlich induktiv vorgehe, sondern eher eine "Philosophie über geistige Phänomene mit einem kleinen Schuß Wissenschaft" sei. Die Schwierigkeit sieht er darin, daß "die darwinistische Theorie so weit gefaßt und unbestimmt ist, daß in sie letztlich alles hineinpaßt".
Ähnliche Kritik brachten andere Tagungsteilnehmer vor. Sie stört, daß die evolutionäre Psychologie weniger auf übergeordnete Fähigkeiten und geistige Leistungen abzielt als auf spezielle Phänomene. So warf der Philosoph James H. Fetzer von der Universität von Minnesota in Minneapolis ein, Leda Cosmides habe die Befunde ihrer Schummel- Studie vielleicht vorschnell interpretiert: Ein besonderes Geschick, Mogeleien sofort zu bemerken und ihnen zu begegnen, müsse man nicht unbedingt auf ein ererbtes Talent zurückführen; es könne genausogut im Leben geschult worden sein – schließlich sei man auch heutzutage sehr oft mit dergleichen konfrontiert. Zu rasch würde die Möglichkeit abgetan, daß es ein heuristisches Allzweckprogramm gebe, eine fundamentale Strategie, Lösungen zu finden und Neues zu entdecken. Den großen Erfolg des einfachen Prinzips, aus Versuch und Irrtum zu lernen, erweise nicht nur die moderne Zivilisation, sondern auch die Wissenschaft selbst.
Dem stimmte der Archäologe Steven J. Mithen von der Universität Reading (England) zu. Er kreidet den evolu- tionären Psychologen an, daß sie für die menschliche Frühzeit einfach eine gleichförmige und statische Umwelt annehmen. Als sich unsere Gattung entwickelte, könnten die Lebensbedingungen im Gegenteil von Ort zu Ort höchst variabel und rasch veränderlich gewesen sein. Solche wechselhaften Verhältnisse hätten aber gerade generelle Anpassungsfähigkeit gefordert und gefördert statt jeweils ein spezielles Geschick für eine ganz bestimmte Aufgabe.
Umgang mit Feldstudien
Immer wieder kommt die Frage auf, inwieweit menschliche Züge als biologische Adaptationen aufzufassen seien. Manches Verhalten scheint sich in das darwinistische Theoriengebäude nicht so leicht einzufügen wie anderes. Gut lassen sich beispielsweise Handlungsweisen damit vereinbaren, die dem eigenen Vorteil oder der Fitness dienen. Was aber ist mit der dazu konträren Neigung zu sozialer Konformität, die einen motiviert, die eigenen Interessen hintanzustellen? Reicht das Argument, daß jene, die mit dem Strom schwimmen, auch mitgetragen werden?
In einem Artikel in "Science" von 1990 mutmaßte der Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger von 1978 Herbert A. Simon von der Carnegie-Mellon-Universität in Pittsburgh (Pennsylvania), die Bereitwilligkeit, sich der Gesellschaft einzupassen, könnte zum Beispiel religiösen Verzicht auf Sexualität erklären oder auch, weshalb Männer widerstandslos in den Krieg ziehen, obwohl sie dabei für sich selbst wenig zu gewinnen haben und riskieren, das Leben zu verlieren. Eine solche Begründung vereinnahmt zwar geschickt auch die Position der Kulturverfechter, ist aber für die wissenschaftliche Akzeptanz der evolutionären Psychologie unter Umständen eher gefährlich. Sie besagt ja eigentlich nur: Paßt ein Verhalten offensichtlich in das darwinistische Konzept – um so besser; paßt eines scheinbar nicht, erklärt es sich eben mit sozialer Konformität (die vielleicht biologisch sinnvoll ist oder gewesen ist). In so eine Theorie kann man, wie Chomsky fürchtet, alles hineinpressen – rein nichts ist mehr falsifizierbar.
Attestiert man dem Menschen die Tendenz, sich ohne weiteres auf eine bestimmte Kultur einzustellen, ergibt sich ein weiteres Problem: Da durch globale Mobilität und Kommunikation Sitten und Gebräuche heute stark verschmelzen, wären angebliche Universalien wie die sexuellen Gepflogenheiten, die Buss dokumentiert, vielleicht wiederum nichts anderes als eine Anpassung – allerdings nicht im evolutiven Sinne, sondern als Ergebnis kultureller Angleichung. Es wären Muster, die aus der Bereitschaft resultieren, auf eigene kulturelle Identität zu verzichten und im Strom mitzuschwimmen. Genau das sagen Kulturanthropologen aber seit langem.
Kaum anders klingt, was Napoleon A. Chagnon von der Universität von Kalifornien in Santa Barbara als "darwinistischer Anthropologe" zu sagen hat. Seit mehr als 20 Jahren erforscht er die Yanomami, einen der letzten ursprünglichen Indianerstämme Amazoniens. Die Männer dieser polygynen Gesellschaft pflegen in andere Dörfer auf Frauenraub zu ziehen und deren männliche Bewohner umzubringen (Bild 4). Je mehr solcher Morde ein Yanomami begangen hat, so ermittelte Chagnon, desto mehr Kinder hat er im Schnitt. Die Linien der "Feiglinge", wie der Anthropologe jene nennt, die sich von solchen Aggressionen möglichst fernhalten und mithin kaum Nachkommen haben, würden gewöhnlich "ausgetilgt".
Von der Interpretation, er gebe männliche Gewalt und organisiertes Töten als etwas Instinktives und damit Unausweichliches aus, distanziert Chagnon sich entschieden. Ganz im Gegenteil veranlasse die männlichen Yanomami zu ihren brutalen Beutezügen die hohe gesellschaftliche Wertschätzung von Aggressivität. Nach seiner Einschätzung würden sie sich jedenfalls völlig anders verhalten, wenn sie in einer anderen Kultur sozialisiert würden. Hätten sie etwa von klein auf erlebt, daß bäuerliche Fertigkeiten besonders anerkannt wären, gälte ihr Interesse friedlicher Landwirtschaft. Freilich wird daraus nicht recht einsichtig, warum sich einmal der eine, einmal ein anderer sozialer Konsens etabliert.
Der böse Stiefvater
Zur Vorsicht bei der Deutung ihrer Befunde mahnen ebenfalls Margo Wilson und Martin Daly von der McMaster-Universität in Hamilton (Kanada). Das Ehepaar analysierte von allen menschlichen Verbrechen das perverseste, das ein Darwinist sich denken kann: die Ermordung eines eigenen Kindes. Folgt man den Prämissen der Evolutionstheorie, sollte uns gerade am Wohl der direkten Nachkommen, den Trägern unserer Gene, besonders viel liegen. Bei Durchsicht von Statistiken der Vereinigten Staaten und Kanadas fanden die Forscher indes auch einen frappanten Unterschied: Jeweils höchstens eines von 60 in der Familie umgebrachten Kindern unter zwei Jahren war von einem leiblichen Elternteil getötet worden; meist waren Stiefeltern die Täter, und zwar fast immer der Stiefvater. Selbst noch ein so grausiges Verhalten scheint sich mithin in die Theorie zu fügen.
Auch dies ist wieder eine Studie, die vermeintlich Selbstverständliches thematisiert. Wer würde nicht annehmen, daß man seine eigenen Kinder mehr liebt als fremde? Woher kämen sonst die Märchen von der bösen Stiefmutter wie "Aschenputtel" und "Schneewittchen" (Bild 5). Margo Wilson hält allerdings dagegen, die meisten Sozialwissenschaftler hätten solche Volksweisheit bisher eher als irrelevant abgetan, statt nach einem vielleicht vorhandenen realen Hintergrund zu suchen.
Die Arbeit von Margo Wilson und ihrem Mann wird denn auch oft als Beispiel für gute darwinistische Forschung in den Humanwissenschaften zitiert, weil sie einen wichtigen Sachverhalt zum Gegenstand hat und auf umfangreichen Daten fußt. Doch das Paar selbst gibt zu bedenken, daß außer der biologischen Erklärung durchaus andere möglich wären. Familien mit einem Stiefelternteil seien unter Umständen finanziell und emotional labiler, und mitunter könnte ein angehender Stiefvater das Kind bei der Heirat nur widerwillig mit akzeptiert haben; es sei allerdings praktisch nicht möglich, dem in einer wissenschaftlichen Studie nachzugehen.
Den Vorschlag von Kritikern, Tötungsdelikte an Adoptivkindern in den Vergleich mit einzubeziehen, hält Margo Wilson nicht für plausibel. Zum einen würden viele Eltern ungern verlauten lassen, daß ein Kind nicht leiblich ist. Vor allem aber würden Adoptiveltern vorher eingehend geprüft, unter anderem besonders auf ihre finanzielle Situation und seelische Stabilität. Zudem seien sie hochmotiviert, ein Kind großzuziehen, oft mehr als manche natürlichen Eltern.
Immer wieder treten freilich Juristen an das Forscherehepaar heran, wenn sie mit einem Kindermord durch Stiefeltern befaßt sind. Indem sie die Schuld den Genen zuschieben, möchten die Strafverteidiger ihre Klienten entlasten; Staatsanwälte wiederum implizieren ähnliche Hintergründe, wenn sie anfragen, ob eine Strafverschärfung helfen würde, potentiell gewalttätige Stiefeltern von dem Verbrechen abzuhalten. Doch Margo Wilson und Martin Daly halten beides für unsinnig. Keinesfalls tendierten Stiefeltern geradezu schicksalhaft zur Aggression gegen ihre Kinder – die allermeisten behandelten sie bekannlich gut.
Der Schwarze Mann
Forschungen wie diese werden für den biologischen Ansatz zur Gretchenfrage. Soll man denn genetische Prädispositionen annehmen, wenn ein Mann zum Gewalttäter wird, während ein anderer in gleicher Lage zurückhaltend bleibt?
Sowohl das Ehepaar Wilson/Daly wie auch Chagnon halten überhaupt nichts von solchen vagen Thesen. Ihrer Ansicht nach sind Umwelteinflüsse wahrscheinlicher die Ursache, unter anderem die Sozialisation.
Das entspricht auch der offiziellen Sicht der evolutionären Psychologie, derzufolge alle Menschen – mit der wichtigen Ausnahme des Geschlechts – im wesentlichen die gleiche psychische Grundausstattung haben. So konstatieren Leda Cosmides und John Tooby, wohl hätte die genetische Variabilität der Menschen wahrscheinlich den Zweck, unsere Art vor Krankheiten oder Parasiten zu schützen, doch tiefgreifende Auswirkungen auf das Verhalten seien nicht anzunehmen.
Evolutionäre Psychologen reagieren deshalb sehr empfindlich, wenn man keinen Unterschied zwischen ihnen und den Verhaltensgenetikern macht, die nach erblichen Ursachen für Verhaltensunterschiede suchen, und zwar sowohl bei Individuen als auch – was in den USA derzeit für den meisten Aufruhr sorgt – bei ethnischen Gruppen. "Ich bin hier der böse Bube", bekannte denn auch David C. Rowe von der Universität von Arizona auf der HBES-Tagung, einer der wenigen Verhaltensgenetiker, der eingeladen worden war, einen Vortrag zu halten (allerdings erst am letzten Tag kurz vor Abend, als die meisten Teilnehmer schon abreisten).
Rowe versteht, warum die evolutionären Psychologen mit seiner Disziplin nichts zu tun haben wollen: Das macht ihre Arbeit politisch und wissenschaftlich einfacher. Lassen sich nämlich Gemeinsamkeiten generell Genen zuschreiben und Ungleichheiten der Umwelt, ist eine Modellbildung wesentlich leichter. Vor allem aber wahren sie mit dieser Haltung eindeutig Abstand gegenüber einer rassistisch geprägten wissenschaftlichen Strömung in den Vereinigten Staaten, die neuerlich behauptet, es gäbe Intelligenzunterschiede zwischen den Rassen, und die seien angeboren.
Doch Rowe findet diese Distanzierung auch ein bißchen unredlich: Wenn Gene für gleiches Verhalten zuständig seien, warum dann nicht ebenso für verschiedenartiges? Ohne individuelle Variation fände überhaupt keine Evolution statt. Zudem mehrten sich Hinweise, daß bestimmte wesentliche Eigenschaften genetische Korrelate haben – etwa Aggressivität, Temperament, Intelligenz, Homosexualität oder Depressivität.
Solche Erkenntnisse sollten die Anhänger des neuen Darwinismus eigentlich beunruhigen. Alle Gegenargumente zusammengenommen läßt sich nämlich – in Umkehr oder Ergänzung ihrer Hauptthese – mit gleicher Überzeugungskraft auch der Standpunkt vertreten, daß gerade viele der universellen menschlichen Züge umweltgeprägt seien und sich in manchen individuellen Unterschieden die genetische Variabilität zeige. Eben daß der Mensch kulturell so leicht formbar ist, spräche dafür.
Es ist kein Wunder, daß viele Vertreter der neuen Richtung in den Humanwissenschaften von der Arbeit Frank J. Sulloways angetan sind. Was der Historiker vom Massachusetts Institute of Technology als Erklärung für individuelle Unterschiede anbietet, ist für sie leichter akzeptabel: Seit fast 25 Jahren vergleicht er die Geburtsfolge unter Geschwistern mit Persönlichkeitsmerkmalen. Erstgeborene, so sein Fazit, seien generell besonders konservativ; sie neigten mehr dazu, sich für Etabliertes stark zu machen und sich wissenschaftlichen und politischen Neuerungen zu verschließen. Hingegen seien jüngere Geschwister eher unternehmungslustig, risikofreudig, offen für Neues und radikal.
Sulloway führt auch eine Schweizer Studie aus dem Jahre 1983 an, in der zwei Psychiater die gesamte wissenschaftliche Literatur über den Einfluß des Geburtsrangs analysiert hatten, aber keinerlei derartige Effekte entdeckten. Als er die Daten jedoch selbst unter übergeordneten Gesichtspunkten durchrechnete, habe er sehr wohl beeindruckende Zusammenhänge gefunden. Er meint beweisen zu können, daß die meisten großen Umwälzungen der Moderne, wissenschaftliche wie politische, von später Geborenen angestoßen worden seien, während die Stammhalter dagegen opponierten. So war Charles Darwin das fünfte von sechs Kindern; und Sulloways Auszählung zufolge hatten die meisten seiner späteren Jünger ebenfalls ältere Geschwister.
Wie der Historiker ausführt, könne die evolutionäre Psychologie das Phänomen gut gemäß dem theoretischen Kosten-Nutzen-Kalkül der Fitness-Maximierung erklären: Je weiter Kinder den Gefahren der Kindheit entwachsen, desto wahrscheinlicher werden sie sich später fortpflanzen und so die Gene ihrer Stammlinie weitergeben. In diesem Sinne sind sie für die Eltern wertvoller als jüngere Geschwister, bei denen dies noch weniger gut abzusehen ist; sie investieren in die Erstgeborenen deswegen mehr. Diese sind ihrerseits bestrebt, das besondere Interesse an ihnen zu fördern und zu nutzen, indem sie zu ihren Eltern und anderen Autoritäten engen Kontakt pflegen. Im Gegensatz dazu sind Spätgeborene, eben weil sie weniger zu gewinnen und zu verlieren haben, nicht dermaßen zu eltern- und gesellschaftskonformem Verhalten motiviert. Sie lösen sich leichter und gehen ihrer eigenen Wege beziehungsweise kritisieren die Verhältnisse. "Vom darwinistischen Standpunkt aus kann es gar nicht sein, daß es keinen Einfluß des Geburtenrangs gibt", erklärt Sulloway (der – überflüssig zu erwähnen – ein Nachgeborener ist).
Seine Befunde und Folgerungen wurden zwar schon auf der ersten Seite des "Wall Street-Journal" präsentiert, aber er hat sie noch nicht in einem Fachorgan veröffentlicht. Im nächsten Jahr möchte er seine historischen Studien auf einen Schlag in einem 800 Seiten starken Buch herausbringen – der Titel steht schon fest: "Born to Rebel" (etwa: zu Aufruhr und Widerstand geboren).
George C. Williams von der Staatsuniversität von New York in Stony Brook war auf der HBES-Tagung wie viele andere im Auditorium von diesem Gedanken fasziniert, äußerte zugleich aber gehörige Skepsis: "Die ganze Zeit überlege ich mir Gegenbeispiele. Isaac Newton zum Beispiel war ein erstes Kind." Der Evolutionsbiologe ist eines der angesehensten Mitglieder der Gesellschaft für Verhalten und Evolution des Menschen. Eine Frage, die er in den sechziger Jahren in einer klassischen Arbeit über Anpassung und natürliche Auslese aufwarf, beschäftigt seine jüngeren Kollegen bis heute: "Gebietet nicht die Vernunft anzunehmen, daß wir den menschlichen Geist viel besser verstünden, wenn wir wüßten, zu welchem Zweck er geschaffen wurde?"
Gleichermaßen anregend sind seine neueren Veröffentlichungen. In dem jüngsten Werk "Why We Get Sick" (warum wir krank werden), das er zusammen mit dem eingangs erwähnten Psychiater Nesse schrieb, vertreten beide eine darwinistisch orientierte Medizin. Die Ausrichtung an der Evolutionstheorie, konstatieren sie, könne Ärzten bei der Behandlung körperlicher und seelisch-geistiger Erkrankungen helfen.
Gleichfalls große Hoffnungen setzt Williams in eine darwinistisch geprägte Erkenntnistheorie. Ihn beschäftigt beispielsweise, ob es auf eine Adaptation zurückzuführen sei, daß wir die Realität in Raum und Zeit zu fassen suchen? Daß dieses intuitive Weltverständnis höchst willkürlich ist, hat die moderne Physik gezeigt. Gleichzeitig gibt der Biologe "ein ungutes Gefühl bei der ganzen Angelegenheit" zu – nur zu oft und zu leicht würden solche evolutionären Konzepte über die menschliche Natur mißverstanden und falsch angewendet.
Der Anthropologe Lionel Tiger von der Rutgers-Universität trat forscher auf. Seiner Ansicht nach wird der neue Darwinismus sich auf juristischer, politischer und moralischer Ebene auswirken – und sollte dies auch. Viele heiß umstrittene Themen der neunziger Jahre gehörten dahin: Abtreibung, Geburtenkontrolle, Diskriminierung der Frau, Homosexualität. Ob triftiges Konzept oder Modeströmung – wird die Gesellschaft diese Sicht ihrer Selbst adaptieren?
Literaturhinweise
- The Red Queen: Sex and the Evolution of Human Nature. Von Matt Ridley. Penguin Books, 1993.
– The Moral Animal: The New Science of Evolutionary Psychology. Von Robert Wright. Pantheon Books (Random House), 1994.
– Evolutionary Psychology: A New Paradigm for Psychological Science. Von David M. Buss in: Psychological Inquiry, Band 6, Heft 1, Seiten 1 bis 30, 1995.
– Psychobiologie. Grundlagen des Verhaltens. Herausgegeben von K. Immelmann, K. R. Scherer, C. Vogel und P. Schmoock. Gustav Fischer, 1988.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1995, Seite 80
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