Die Neurobiologie der Kokainabhängigkeit
Kokainkonsum verursacht zelluläre und biochemische Veränderungen im Gehirn, aus denen sich gewisse Effekte der Droge erklären. Solche Befunde geben auch Aufschluß, warum das Alkaloid abhängig macht.
In den vergangenen Jahren hat der Konsum verbotener psychostimulierender Drogen, insbesondere auch von Kokain (Fachschreibweise Cocain), geradezu epidemische Ausmaße angenommen. Das wissenschaftliche Interesse an den medizinischen, neurobiologischen und soziologischen Aspekten des Phänomens ist beachtlich gewachsen und hat auch zu einer Reihe von Forschungsarbeiten über die neuralen und biochemischen Grundlagen speziell des Mißbrauchs von Kokain angeregt. Diese Untersuchungen haben ein besseres Verständnis der molekularen Prozesse ermöglicht, die den euphorisierenden und abhängig machenden Effekten dieser Droge und wahrscheinlich auch anderer Suchtmittel zugrunde liegen.
Der Freudsche Fehler
Die Völker der Andenregion kennen die Wirkung der Pflanzendroge vermutlich schon seit mehr als viereinhalb Jahrtausenden (Bild 1). Sie kauen die getrockneten Blätter des Koka-Strauches (Erythroxylum coca), meist zusammen mit Pflanzenasche oder Kalk, oft um Anstrengungen durchzustehen und Hunger zu unterdrücken; bei einer täglichen Ration von bis zu 60 Gramm nimmt der Organismus etwa 100 bis 200 Milligramm des Hauptwirkstoffs Kokain auf – eine Menge, die heute als Mißbrauch gewertet wird. Die Inkas sprachen der Droge sogar eine besondere soziale, politische und religiöse Bedeutung zu: Sie machten den Gebrauch zu einem Privileg der Aristokratie und Priesterschaft; nur zu bestimmten Anlässen war er anderen Personen erlaubt. Zur Zeit der spanischen Eroberung jedoch war Kokakauen bereits in breiten Schichten der Bevölkerung üblich. Die Spanier verboten es zunächst, förderten aber dann sogar den Anbau des Strauchs.
In Europa fanden die Pflanze und ihre Effekte eigentlich erst größeres Interesse, als 1860 Albert Niemann im Labor des damals in Göttingen tätigen Friedrich Wöhler (1800 bis 1882), eines Mitbegründers der organischen Chemie, aus den Blättern eine farblos kristalline, bitter schmeckende Substanz isolierte, die er Kokain nannte (vermutlich hat aber der Apotheker Friedrich Gaedeke 1855 das Alkaloid erstmals gewonnen). Die nun einsetzende Erforschung ihrer Wirkungen am Menschen hatte teilweise enthusiastische Berichte zur Folge. Besondere Beachtung fand eine Veröffentlichung von Sigmund Freud (1856 bis 1939), dem Begründer der Psychoanalyse, aus dem Jahre 1884, in der er die Droge als Mittel gegen zahlreiche Beschwerden empfahl; entsprechend unkritisch verschrieb er sie zunächst (Bild 2). In demselben Beitrag mit dem Titel "Über Coca" erwähnte er auch die lokal betäubende Wirkung auf Schleimhäute. In der Tat wurde Kokain nach einem erfolgreichen medizinischen Einsatz 1884 das erste bedeutende Lokalanästhetikum bei Augenoperationen.
Obwohl wenig später besorgniserregende Effekte bei Mißbrauch erkannt wurden, entwickelte sich "Koks" Anfang dieses Jahrhunderts zur Modedroge der gehobenen Schichten. Einige zuvor auf den Markt gebrachte schwach kokainhaltige Produkte – wie Coca Cola damals oder Vin Mariani (ein "veredelter" Wein) – waren daran nicht gänzlich unbeteiligt (die Coca-Cola-Gesellschaft änderte allerdings schon Ende des letzten Jahrhunderts die Mixtur). Verschiedene Gesetze wurden erlassen, die Einfuhr, Handel und Verkauf der Droge reglementierten und sie der Registrier- und Rezeptpflicht unterwarfen. Die Kokain-Welle, die in den zwanziger Jahren vor allem Künstler- und Intellektuellenkreise ergriffen hatte, verebbte schließlich.
In den sechziger Jahren jedoch gewann die Droge im Gefolge eines neuerlichen Meinungsumschwungs wieder an Popularität. Wieder wurde sie irrtümlich als belebendes Mittel angesehen, das weder Sucht- noch Entzugserscheinungen hervorrufe (Spektrum der Wissenschaft, Mai 1982, Seite 74). Infolgedessen nahm der Mißbrauch in den sechziger und achtziger Jahren – zunächst in den USA, dann in Europa – epidemische Ausmaße an.
Damals tauchte auch Crack in der Szene auf: Kokain als freie Base. Anders als Cocainhydrochlorid – die verbreitete Form der geschnupften, nur gelegentlich injizierten Droge – wird es geraucht und gelangt binnen Sekunden in hoher Konzentration in das Zentralnervensystem. Dies erklärt seine außerordentliche medizinische Gefährlichkeit.
Effekte bei Mensch und Tier
Als Alkaloid ist Kokain eine Substanz mit Stickstoff im Ringgerüst (Bild 3). Es stimuliert das autonome, also das vegetative Nervensystem, und zwar das sympathische. So verengen sich die Gefäße, der arterielle Blutdruck schnellt in die Höhe, und der Puls beschleunigt sich beträchtlich; zugleich steigen Wachsamkeit und Wachheitsgrad, Wahrnehmungs- und Reaktionsbereitschaft. Außerdem bewirkt es eine psychomotorische Stimulation des Zentralnervensystems, ähnlich der von Amphetaminen (Weckaminen) oder von Coffein: Schlafbedürfnis und Appetit nehmen ab, man fühlt sich stark, selbstsicher und energiegeladen. Vor allem diese Übersteigerung der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit erklärt, warum Menschen, deren Beruf ihnen über längere Zeit viel in dieser Hinsicht abverlangt, eher zu solchen Psychostimulantien greifen.
Des weiteren verändert Kokain erheblich Hirnfunktionen, die den kognitiv-affektiven Bereich betreffen. Insbesondere erzeugt es Wohlbefinden, hebt die Stimmung und ruft ein intensives Hochgefühl hervor. Gedanken und Worte scheinen zu sprudeln, aber der Zusammenhang bleibt nicht immer gewahrt (man bezeichnet dies als Ideenflucht). Im allgemeinen berichten die Betroffenen von einem nie gekannten Wohlgefühl. Der Drang, es wieder zu erleben, läßt sie neuerlich zur Droge greifen; deren Wirkungen pflegen sich aber mit fortgesetztem Mißbrauch zu verändern.
Kokainisten konsumieren ihren Stoff gewöhnlich nicht wie andere Drogenabhängige täglich, sondern zyklisch, und dann eher in großen Mengen innerhalb kurzer Spannen von im allgemeinen einigen Tagen. Während wiederholter Rauschphasen manifestiert sich eine Reihe unerwünschter Effekte: von Angstgefühlen über erhöhte Reizbarkeit bis hin zu Halluzinationen – Symptome vergleichbar denen einer paranoiden Psychose. Manche Kokainisten werden von Panikanfällen und Todesahnungen gepeinigt; gleichzeitig verspüren sie ungeheuren Drang, sich die Droge erneut zu verschaffen (man spricht von Stoffhunger).
Zu diesen Störungen des Verhaltens kommen – stets bei wiederholten und hohen Dosen – Herz-Kreislauf-Komplikationen bis hin zu Herzinfarkt und Schlaganfall oder auch eventuell tödliche Krämpfe. In den Zeiten zwischen den Rauschperioden schließlich fühlen sich Kokainisten depressiv und ausgelaugt, schläfrig und apathisch, leiden zugleich aber unter Stoffhunger.
Die schließliche Charakterisierung der von Kokain hervorgerufenen Veränderungen auf organischer Ebene war in zweierlei Hinsicht außerordentlich bedeutsam. Zum einen hat sie die Auffassung widerlegt, der Konsum erzeuge allenfalls eine psychische, keine körperliche Abhängigkeit und diene recht gut kontrollierbar der bloßen Entspannung und Stimulierung. Zum anderen war die klinische Relevanz des Problems Anlaß für eine Reihe weiterer wissenschaftlicher Untersuchungen, die dann die biochemischen Prozesse im Gehirn ermitteln halfen, die für den Mißbrauch von Kokain und wahrscheinlich auch von anderen Drogen verantwortlich sind.
Wichtig war zunächst einmal zu verstehen, wie die Droge ihre euphorisierende Wirkung entfaltet. Untersuchungen an Nagern in den fünfziger Jahren führten auf die richtige Spur. Jim Olds und Peter Milner, damals an der McGill-Universität in Montreal (Kanada) tätig, implantierten in verschiedene Hirnregionen Elektroden, über die sich die Tiere mittels einer im Käfig angebrachten Taste selbst stimulieren konnten. Auf Hebeldruck floß ein schwacher Strom, ähnlich wie er auch durch die Aktivität von Nervenzellen (Neuronen) entsteht. Steckten die Elektroden in bestimmten Bereichen, verbrachten die Tiere fast ihre gesamte Zeit damit, sich selbst zu reizen. Dies war ein sicheres Zeichen, daß die Ströme ein äußerst angenehmes Gefühl ausgelöst hatten. Aufgrund ihrer Beobachtungen postulierten die Wissenschaftler im Gehirn ein Lustzentrum (oder -zentren), das normalerweise solche Gefühle erzeugt und von außen stimuliert werden kann. Geraume Zeit später haben dann andere Wissenschaftler die Hypothese aufgestellt, daß auch Drogen das Lustzentrum aktivieren und daß auf diese Weise deren euphorisierende Wirkung zustande komme.
Labortiere wie Mäuse, Ratten und Schimpansen verhalten sich gegenüber Suchtmitteln ähnlich wie Menschen. Können sie sich über einen implantierten Venenkatheter auf Hebeldruck verschiedene Substanzen zuführen, verabreichen sie sich auf Dauer nur solche, die auch Menschen zu Mißbrauch veranlassen: Psychostimulantien, Opiate und Beruhigungsmittel (Sedativa). Dies weist auf die Existenz eines neuralen Substrats mit einem speziellen biochemischen Mechanismus im Gehirn hin, der auf einige, aber eben nur einige Klassen von Pharmaka anspricht und – für die Forschung fast wichtiger noch – nicht auf den Menschen beschränkt ist. Offensichtlich verursachen solche Drogen auch bei diesen Säugern so etwas wie Euphorie. Das Verlangen danach geht sogar so weit, daß Nager und Affen bisweilen ihre gesamte Zeit damit verbringen, sich beispielsweise Kokain, Amphetamin oder Heroin zu verabreichen, andere, lebenswichtige Tätigkeiten wie Fressen und Trinken aber vernachlässigen (Bild 4).
Man hat mithin ein tierexperimentelles Modell, an dem sich die biochemischen Prozesse, die der Drogenabhängigkeit zugrunde liegen, systematisch unter kontrollierten Bedingungen untersuchen lassen. Weitere Beobachtungen unterstreichen die Analogie zum Menschen noch: Labortiere, die unbegrenzt Zugang zu Drogen erhalten, brauchen immer größere Mengen (der Organismus wird tolerant gegenüber der üblichen Dosis), werden abhängig und bekommen Entzugserscheinungen. Mehr noch, sogar ihr Muster der zwanghaften Aufnahme – kontinuierlich, episodisch oder schubweise – ähnelt für jede Substanz bemerkenswert dem von Drogenabhängigen. Die Entwicklung und Verfeinerung dieser Tiermodelle hat in den letzten Jahren einen experimentellen Zugang zu einem Problem eröffnet, dessen klinische Relevanz noch vor zwei Jahrzehnten weitgehend verkannt worden war.
Angriffspunkte im Gehirn
Kokain greift, wie man seit längerem weiß, in die chemische Weiterleitung von Nervenimpulsen an Synapsen ein. An diesen Schaltstellen wird auf ein einlaufendes elektrisches Signal hin eine Botensubstanz, ein Neurotransmitter, freigesetzt; er durchquert in Millisekunden den winzigen synaptischen Spalt zur Empfängerzelle und heftet sich dort an spezifische Rezeptoren. Seine Wirkdauer ist begrenzt; er wird entweder in das Senderneuron zurücktransportiert oder durch Enzyme im Spalt abgebaut.
Eben diesen Prozeß beeinflußt Kokain: Es hemmt die Wiederaufnahme der Neurotransmitter Noradrenalin, Dopamin und Serotonin und verlängert so deren Aufenthalt im Spalt (Bild 5). Die Blutdrucksteigerung sowie die erhöhte Wachheit und Wachsamkeit beispielsweise resultieren aus einer länger anhaltenden Einwirkung von Noradrenalin auf die innervierte Gefäßmuskulatur beziehungsweise auf Teile des Stammhirns. Die Verhaltens- und Persönlichkeitsveränderungen lassen sich hingegen größtenteils dem Einfluß der Droge auf Systeme zuschreiben, die Signale durch Dopamin übermittelt bekommen.
In welchen Hirnstrukturen Kokain insbesondere seine euphorischen, also seine unmittelbar belohnenden Effekte entfaltet, ließ sich an Tieren ermitteln, die sich die Droge auf Tastendruck intravenös injizieren konnten. Verfügten sie täglich nur begrenzte Zeit über eine kontrollierte Menge Kokain, blieb die Aufnahme konstant (augenfällige Toleranz oder Abhängigkeit entwickeln sich dann kaum). Wurde das Quantum pro Injektion vom Experimentator vermindert oder erhöht, glichen die Tiere dies aus, indem sie die Taste mehr oder weniger oft während der Freigabe betätigten. Man hat hier also ein sehr präzise analysierbares System, in dem das Tier durch sein Verhalten Qualität und Stärke der Effekte, welche die Droge bei ihm erzeugt, anzeigt.
Auf diese Weise ist es auch möglich gewesen, die beteiligten Hirnregionen durch Ausschaltexperimente zu kartieren: Entweder verschmort man dazu winzige Gewebebereiche mittels eingeführter Elektroden, also durch Elektrokoagulation, oder man schädigt – was selektiver ist – durch spezielle injizierte Substanzen lokal nur jene Nervenendigungen, die einen bestimmten Neurotransmitter enthalten. Fallen dadurch Strukturen aus, die an der euphorisierenden Wirkung von Kokain beteiligt sind, sollten die Tiere das Interesse verlieren, sich die Droge weiter zu verabreichen.
Die Untersuchungen haben sich vor allem auf das limbische System konzentriert: mehrere, beim Menschen ringförmig um das Stammhirn angeordnete Kerne (kleine Gruppierungen von Nervenzellen mit ähnlicher Gestalt und Biochemie), die vorwiegend im vorderen Bereich des Gehirns liegen und miteinander verschaltet sind (Bild 6). Es hat unter anderem mit Emotionen, Stimmungen und Motivationen (Trieben) zu tun. Vermutlich sind die Kerne Teil des Lustzentrums. In einigen ist Dopamin der vorherrschende Neurotransmitter; er scheint für motivationale Prozesse wichtig zu sein, da Tiere und Menschen in einen antriebslosen – demotivierten – Zustand verfallen, wenn man seine Aktivität durch eine Substanz drosselt, die ihm den Platz am Rezeptor streitig macht.
Die Annahme, dem limbischen System komme eine wichtige Rolle bei der belohnenden Wirkung von Kokain zu, hat sich durch Untersuchungen im Laufe der achtziger Jahre bestätigt. Zerstört man den Nucleus accumbens septi (wörtlich: den an das Septum angelehnten Kern) oder schädigt sogar nur die dopaminhaltigen Nervenendigungen dort mit dem toxisch wirkenden 6-Hydroxydopamin, so verliert ein Teil der Ratten völlig das Interesse an der Droge.
Einen ähnlichen Effekt hat eine Schädigung der dopaminhaltigen Nervenenden im Mandelkernkomplex (Amygdala-Komplex), einer anderen Schlüsselstruktur des limbischen Systems. Eine weitere mit der akuten euphorisierenden Wirkung des Kokains in Zusammenhang stehende Region scheint schließlich der präfrontale Cortex zu sein, ein ganz vorn an der Stirn liegender Bereich der Großhirnrinde; er enthält ebenfalls Dopamin und ist mit verschiedenen anderen Regionen des limbischen Systems verschaltet (zu denen man ihn nicht immer zählt). Schädigt man aber nicht zu diesem System gerechnete dopaminhaltige Strukturen wie den Streifenkörper (das Corpus striatum), bedienen sich die Ratten kaum anders als zuvor der Droge.
Direkte Beweise, daß die dopaminvermittelte Signalübertragung im Nucleus accumbens angeregt wird, wenn Ratten sich gewissermaßen einen Kokainschuß gesetzt haben, lieferten Messungen des Transmittergehalts im lebenden Gehirn. Dazu wird eine Kanüle mit einer dialytischen Membran fest in den interessierenden Bereich implantiert und über einen längeren Zeitraum mit einer physiologischen Lösung gespült. Gemäß dem Konzentrationsgefälle treten Stoffe aus der Umgebung durch die Membran in die Kanüle über und geben so präzisen Aufschluß über ihre Konzentration im Gewebe außerhalb der Zellen.
Wie vermutet, wurden bei Ratten während der Aufnahme von Kokain immense Mengen an Dopamin im Nucleus accumbens freigesetzt – und als die Transmitter-Konzentration ihren Basisspiegel wieder erreichte, bedienten sich die Tiere erneut der Droge. Diese Ergebnisse sind deshalb so faszinierend, weil sie eine spezifische Verbindung zwischen der Konzentration eines Moleküls in einer bestimmten Hirnregion und einem komplexen Verhalten – nämlich der zwanghaften Suche nach der Droge – herstellen, wie es analog beim Menschen zu beobachten ist.
Ein solcher direkter Nachweis ist am Menschen noch nicht möglich, da keine nicht-invasiven Meßmethoden zur Verfügung stehen. Gewissen Aufschluß geben jedoch Untersuchungen mit der Positronen-Emissionstomographie (PET); dieses bildgebende Verfahren macht die neurale Aktivität indirekt sichtbar (Bild 7). Seine begrenzte räumliche Auflösung erlaubt zwar derzeit noch nicht, die Aktivität während der Aufnahme von Kokain bis in die einzelnen Hirnstrukturen zu analysieren oder gar die beteiligten Neurotransmitter zu identifizieren, aber den vorläufigen Untersuchungen nach gehören die am stärksten aktivierten Bereiche dem limbischen System an.
Effekte fortgesetzten Mißbrauchs
Wie erwähnt, erzeugen Kokain und andere psychostimulierende Drogen wie Amphetamin bei gelegentlicher Einnahme ein kurzes Hochgefühl. Während wiederholter mißbräuchlicher Aufnahme aber verändert sich die Gemütsverfassung; innere Unruhe bis hin zu schizophrenie-artigen Psychosen treten auf. Auch dabei spielt Dopamin eine wichtige Rolle.
Nervenzellen passen sich nämlich flexibel einer Veränderung ihres biochemischen Umfelds an. Auf molekularer Ebene kann sich diese Plastizität in einer stärkeren oder schwächeren Ausprägung eines bestimmten Rezeptors äußern, auf zellulärer Ebene etwa in stärkerer Verzweigung und Verlängerung der Fortsätze (dadurch vermag ein Neuron weitere Kontakte zu knüpfen).
In einigen Hirnstrukturen verändert sich die dopaminerge Signalübertragung nun in besonderer Weise: Wird sie dort wiederholt stimuliert, etwa durch wiederkehrenden Kokainkonsum, arbeiten die Synapsen effizienter – dasselbe Signal erzielt dann einen stärkeren Effekt als zuvor. Dies bezeichnet man als Sensibilisierung oder inverse Toleranz. Paradoxerweise steigern sich also einige Effekte des Kokains mit wiederholter Einnahme, während seine euphorisierende Wirkung sich unausweichlich abschwächt.
Funktionell äußert sich die Sensibilisierung in einer pathologisch übersteigerten Wirkung von Dopamin. Auf biochemischer Ebene bedeutet dies wahrscheinlich, daß der Neurotransmitter verstärkt freigesetzt wird, die Empfindlichkeit der Rezeptoren auf den Empfängerzellen steigt und der Signalfluß ins Zellinnere effizienter vonstatten geht.
Die Sensibilisierung, die auch bei fortgesetzter Einnahme von Amphetaminen auftritt, scheint für die Gemütsveränderungen im Zuge wiederholten Kokainkonsums verantwortlich zu sein – also für Mißstimmungen verbunden mit innerer Unruhe und erhöhter Reizbarkeit, aber auch für paranoide Wahnvorstellungen und Halluzinationen. Verschiedene Beobachtungen belegen dies. So läßt sich an Labortieren bei längerem Verabreichen psychostimulierender Mittel biochemisch eine verstärkte dopaminerge Signalübertragung nachweisen, und bei Menschen helfen Mittel, welche die Wirkung von Dopamin hemmen, gegen Wahnvorstellungen und Halluzinationen.
Das Entzugssyndrom
Ein letzter wichtiger Aspekt der Abhängigkeit sind die Beschwerden, wenn der Drogenkonsum abgebrochen wird. Der epidemische Mißbrauch von Kokain und seiner gerauchten Form Crack hat es ermöglicht, echte Entzugserscheinungen zu charakterisieren – entgegen der Auffassung der sechziger Jahre. Sie halten nach dem Absetzen noch viele Wochen an und äußern sich in Müdigkeit, Depressionen bis hin zu Selbstmordabsichten, der Unfähigkeit, Freude zu empfinden (Anhedonie), erhöhtem Schlafbedürfnis und dem zwanghaften Verlangen, sich das Rauschmittel wieder zu verschaffen.
Der Stoffhunger ist bei Kokainisten selbst im Vergleich zu anderen Drogenabhängigen besonders stark ausgeprägt und gilt als eine der Hauptursachen für Rückfälle. Erkenntnisse über den biochemischen Hintergrund der Entzugserscheinungen sind somit auch für die Prävention von großer Bedeutung, vor allem weil es noch keine spezifischen Medikamente gibt, die das zwanghafte Verlangen nach der Droge mindern könnten.
Allem Anschein nach erschöpft die wiederholte Stimulation der dopaminergen Signalübertragung während der zyklischen Kokain-Exzesse die synaptischen Endigungen; eben diese Funktionseinbuße scheint die Unfähigkeit zur Freude und die depressiven Verstimmungen bei Abstinenz zu verursachen. So fand sich bei Tieren, denen der unbegrenzte Zugang zu Kokain entzogen wurde, in den Strukturen des limbischen Systems vermindert Dopamin: Bei mikrodialytischer Messung strömte weniger Neurotransmitter in die Kanüle.
Bemerkenswerterweise verfallen die Tiere beim Entzug offensichtlich in Anhedonie; eine Selbstreizung über Elektroden, die in ihr Lustzentrum implantiert waren, wirkte nicht mehr belohnend wie zuvor. Der Zustand ließ sich durch Medikamente, die wie Dopamin wirken, in dem Maße beheben, wie der physiologische dopaminerge Status wieder erreicht wurde.
Demnach repräsentiert das limbische System – vor allem mit Nucleus accumbens septi und Mandelkern – offenbar die kritischen Hirnstrukturen für drei Effekte des Kokains: die euphorisierende Wirkung, die Verhaltensänderungen bei exzessivem Konsum und die Entzugserscheinungen. Bei allem ist Dopamin offensichtlich der am unmittelbarsten beteiligte Neurotransmitter.
Beide Kerne arbeiten freilich nicht isoliert von anderen Strukturen im Zentralnervensystem, und Dopamin interagiert im limbischen System mit ande-ren Neurotransmittern. Ein umfassendes neurobiologisches Bild der Kokainabhängigkeit läßt sich mithin nur gewinnen, wenn man die limbischen Schaltkreise und ihre Funktionen als Einheit betrachtet.
Der Nucleus accumbens empfängt Signale vom unteren Bereich der Mittelhirnhaube (dem ventro-tegmentalen Areal) und entsendet Fasern zum unteren Pallidum, einem blaßgelblichen Körper im Zwischenhirn. Von dort gehen andere Nervenfasern zum innenseitigen oberen (medio-dorsalen) Bereich des Sehhügels (Thalamus) und zur präfrontalen Rinde des Großhirns. Modulatorische Signale werden vom Mandelkernkomplex und der Hippocampus-Formation in das Bahnsystem eingespeist; letztere umfaßt außer dem Ammonshorn – dem Hippocampus – unter anderen die sogenannte gezähnte Windung.
Sowie Kokain Nervenzellen des Nucleus accumbens anregt, aktiviert es demnach die limbischen Schaltkreise insgesamt – und die wiederum sind physiologisch verantwortlich für überlebensrelevante motivierte, also stark durch innere Bedürfnisse regulierte Verhaltensweisen wie Nahrungs- und Partnersuche, die unmittelbar beziehungsweise langfristig dem Fortbestand dienen. (Ein absinkender Blutzuckerspiegel beispielsweise weckt den Drang, nach Nahrung zu suchen; Kohlenhydratzufuhr läßt ihn wieder schwinden.) All dies gilt es bei unseren Überlegungen darüber zu berücksichtigen, wie Kokain zentralnervöse Funktionen verändert.
Hypothese der Drogenwirkung
Zwei wichtige Kriterien charakterisieren nun Abhängigkeit und Sucht: Stoffhunger in Verbindung mit einem Kontrollverlust über den Konsum (selbst wenn Betroffene aufhören wollen, können sie es schließlich nicht mehr) sowie Entzugserscheinungen, die sich in Unwohlsein und Antriebsstörungen äußern. Einer ersten Hypothese nach treten auf die primäre molekulare und zelluläre Antwort hin, die für die akute euphorisierende Wirkung von Kokain verantwortlich ist, kompensatorische Veränderungen auf, die sich bei Absetzen der Droge in Form von Entzugserscheinungen bemerkbar machen würden. Diese Art Gegenanpassung könnte in ein und demselben Transmittersystem – wahrscheinlich dem von Dopamin – erfolgen.
Tatsächlich haben wir auf biochemischer Ebene gesehen, daß eine verstärkte dopaminerge Signalübertragung mit einer nachlassenden belohnenden Wirkung assoziiert ist, eine dopaminerge Verarmung der Synapsen hingegen mit einem sich manifestierenden Entzugssyndrom. Allerdings sind die Änderungen in der Signalübertragung, obgleich signifikant, quantitativ nicht so bedeutsam; sie liegen bei etwa 50 Prozent des Ausgangswertes. Möglicherweise wird denn auch noch ein anderes Neurotransmitter-System innerhalb der gleichen Gruppe neuronaler Schaltkreise von Kokain aktiviert. Seine Gegenanpassungen, in Anwesenheit der Droge verdeckt, könnten bei Entzug verschiedene zelluläre und molekulare Mechanismen zutage treten lassen, die nicht die dopaminerge Signalübertragung betreffen, aber mit ihr wechselwirken. Dieser Typ Anpassung zwischen verschiedenen Systemen mag die Antriebslosigkeit erklären, die sich nicht Dopamin allein zuschreiben läßt.
Normalerweise scheint das dopaminerge System des Nucleus accumbens septi eine Art modulatorisches Filter für Signale von anderen Strukturen des limbischen Systems zu sein, die lebensnotwendige biologische Stimuli im Zusammenhang mit Motivationszuständen vermitteln. Diese Signale finden in dem Transmitter eine funktionelle Schnittstelle, die gewissermaßen Motivation in motorische Aktion umzusetzen vermag. Es ist noch nicht ganz klar, wie die Aktivierung dieses Systems das auslösen kann, was wir als Belohnung, als Befriedigung empfinden. Sicherlich dürfte aber eine Bahnung der dopaminabhängigen motivational-motorischen Mechanismen Bestandteil des neurobiologischen Prozesses sein, über den primäre Antriebe zur Belohnung und somit zur Verstärkung einer Handlung beitragen.
Eine logische Konsequenz dieser Hypothese ist, daß das limbische dopaminerge System das neurale Substrat für die artspezifische psychomotorische Aktivierung sein kann, die in Erwartung belohnender Stimuli auftritt. Erste biochemische Untersuchungen haben zumindest ergeben, daß verstärkt Dopamin freigesetzt wird, wenn ein Versuchstier Futter, eine Droge oder einen Sexualpartner erwartet; hemmt man dagegen die dopaminerge Signalübertragung, fällt die Verhaltensreaktion gegenüber einer erwarteten Belohnung schwächer aus.
Es ist deshalb wahrscheinlich, daß Drogen, die das mesolimbische dopaminergene System aktivieren, jenen Prozeß bahnen, über den unnatürliche Stimuli eine motivationale Bedeutung erhalten. Wenn also Kokain – wie vermutlich auch andere Drogen – die Schaltkreise zwischen Mittelhirn, Nucleus accumbens, Pallidum, Thalamus und Cortex aktiviert, die eigentlich dazu da sind, überlebensrelevante motivierte Verhaltensweisen zu erzeugen, dann lenkt es die gesamte Energie des Organismus auf die Suche nach der Droge statt nach physiologischen und natürlichen belohnenden Stimuli.
Festzustellen, ob das limbische System und die dopaminerge Signalübertragung im Nucleus accumbens auch mit der Abhängigkeit von anderen Drogen wie Alkohol, Opiaten oder Nikotin zu tun haben, wird Aufgabe der nächsten Jahre sein. Ferner muß geklärt werden, inwieweit die Fehlfunktion dieses Systems, die durch den unkontrollierten Konsum der Droge entsteht, jener bei Geistes- und Gemütserkrankungen wie Depressionen oder Psychosen entspricht. Doch sind auch experimentelle Untersuchungen der normalen Funktion des limbischen Systems weiterhin wichtig. Am Ende werden wir genauer sagen können, wie verschiedene, dem Anschein nach heterogene Strukturen in die Gesamtfunktion des Lustzentrums eingebunden sind und wie die biochemischen Prozesse, die Befriedigung hervorrufen, in Beziehung zu den Affekten und Emotionen des Menschen stehen.
Literaturhinweise
- Drugs Abused by Humans Preferentially Increase Synaptic Dopamine Concentrations in the Mesolimbic System of Freely Moving Rats. Von G. Di Chiara und A. Imperato in: Proceedings of the National Academy of Sciences, United States of America, Band 85, Seiten 5274 bis 5278, 1988.
– Cellular and Molecular Mechanisms of Drug Dependence. Von G. F. Koob und F. E. Bloom in: Science, Band 242, Seiten 715 bis 723, 1988.
– Cocaine: Scientific and Social Dimensions. Ciba Foundation Symposium 166, 1992.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1996, Seite 48
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