Interview: Die Perspektiven der Stringtheorie
Edward Witten gilt als weltweit führender Stringtheoretiker. Er bewies vor vier Jahren, daß sich die verschiedenen Stringtheorien in einer übergeordneten M-Theorie vereinen lassen.
Spektrum: In der allgemeinen Relativitätstheorie gibt es mit der Äquivalenz von träger und schwerer Masse ein grundlegendes Prinzip. Liegt der Stringtheorie ein vergleichbares Konzept zugrunde?
Witten: Das ist das größte Rätsel auf diesem Gebiet in den letzten 30 Jahren. Im Unterschied zu allen anderen bisherigen Theorien in der Geschichte der Physik, bei denen die konzeptionelle Fundierung mehr oder weniger gleichzeitig mit der Entwicklung der Theorie erfolgte, wurde die Stringtheorie durch einen erstaunlichen historischen Zufall entdeckt, und in den zurückliegenden 30 Jahren haben wir versucht, uns an die eigentlichen Grundlagen der Theorie heranzuarbeiten. Auf dem Weg dahin gab es eine ganze Folge von verblüffenden Entwicklungen.
Spektrum: Die verschiedenen Varianten der Stringtheorie sind in der Regel zehndimensional. Es müssen deshalb sechs Dimensionen "aufgerollt" werden, um zur vierdimensionalen Raum-Zeit zu gelangen. Richard Feynman bemerkte, daß sich die Anzahl der einzurollenden Dimensionen nicht aus der Theorie heraus bestimmen läßt. Ist das inzwischen möglich?
Witten: Wir String-Theoretiker wissen heute noch nicht, wie das vor sich geht, hoffen aber auf die zukünftige Entwicklung.
Spektrum: Das Standardmodell der Teilchenphysik vereinigt starke, elektromagnetische und schwache Wechselwirkungen auf der Grundlage von Quantenfeldtheorien. Nach heutigem Stand der Erkenntnis beschreibt es die Beobachtungsergebnisse sehr gut und sollte daher in einer "übergreifenden" Theorie wie der Stringtheorie als Grenzfall für (im Vergleich zur Planck-Masse) niedrige Energien enthalten sein. Ist das denn der Fall?
Witten: Dies ist eines der Dinge, die die Leute Mitte der achtziger Jahre so aufregten, als neue Entdeckungen über die Aufhebung von Anomalien in sogenannten heterotischen Strings gemacht wurden. Plötzlich war es dadurch möglich geworden, wesentliche qualitative Strukturen des Standardmodells auf erstaunlich elegante Weise aus der Stringtheorie abzuleiten. Es lassen sich jedoch nicht alle quantitativen Details ableiten.
Spektrum: In den vergangenen Jahren hat sich die Stringtheorie – unter anderem – in Richtung Membrantheorie bewegt. Was ist das Wesentliche an dieser Erweiterung?
Witten: Wir haben gelernt, daß die Stringtheorie neben anderem auch bestimmte kollektive Anregungen beschreibt, die sogenannten "Branes". Es handelt sich dabei um ausgedehnte Objekte wie Membranen und entsprechende höherdimensionale Objekte. In gewisser Hinsicht haben sie dieselbe Basis wie die Strings. Es sieht so aus, als ob es eine Symmetrie zwischen Strings und Branes gibt, so daß diese Objekte gleich wichtig sind. Als Werkzeug für Rechnungen sind Strings jedoch viel nützlicher.
Spektrum: Besteht eine Chance, die Theorie durch Vergleich mit Experimenten oder Beobachtungen in der Zukunft zu verifizieren?
Witten: Es gibt bereits einige Vorhersagen, beispielsweise für den Logarithmus der Newtonschen Gravitationskonstante. Hier findet man einen Unterschied zum Meßwert von 6 bis 7 Prozent – das ist zwar keine gute Übereinstimmung, aber für einen ersten Versuch nicht so schlecht. Außerdem ergeben sich, wie ich schon sagte, die qualitativen Merkmale des Standardmodells auf eine erstaunlich elegante Art und Weise aus der Stringtheorie. Für einen vollständigeren Vergleich mit experimentellen Daten wird man wohl auf das nächste Jahrhundert warten müssen. Vielleicht läßt sich dann auch die unerwartet kleine kosmologische Konstante erklären und die Brechung der Supersymmetrie im Rahmen der Superstringtheorie besser verstehen. Möglicherweise gelingt es sogar, supersymmetrische Teilchen bei CERN und DESY zu entdecken – und so fort.
Spektrum: Dafür benötigen Sie den Large Hadron Collider (LHC) am CERN, der im Jahre 2005 in Betrieb gehen soll?
Witten: Falls wir nicht vorher besonders großes Glück haben, brauchen wir den LHC, um die Supersymmetrie zu entdecken. Um es genauer zu sagen: Diese Maschine ist der wahrscheinlichste Platz für die Entdeckung der Supersymmetrie.
Das Interview führte Georg Wolschin
Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1999, Seite 16
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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